Christina Schmid
Konzeption und Gestaltung

Wanken

Es regnet Briefe, fünf von Hydra, fünf verteilt in der Wohnung, diese Installation hatte ich mir für dich vorgenommen, nun hast du sie für mich umgesetzt. Einfach leben, doppelt lieben, dreifach geliebt. Deine Briefe schreibst du mit meinem Stift auf mein Briefpapier. Hast kein eigenes, wieso auch? Wir sind eins. Sind wir nicht. Ein Wanken seit Tagen, wo wanken wir hin?

Tanzen

Ich habe ein Loch in der Zeit entdeckt: Eine Verbindung durch das große Vergessen in jenen Winter, in dem wir tanzten und uns kurz küssten. Zu kurz! Tanzen wir weiter?

Kann es in echt so gut sein wie in Gedanken?

Die gelben Tomaten aus meinem Traum stehen noch da. Soll ich?

Feigheit?

Raus mit deiner Lust, in alle Richtungen! Schreib deiner Frau. Schreib die Postkarten. Sei mir bloß nicht treu. Mehr aus den guten Zeiten, und wieder rein, lieber Jean.

Brief

Können wir nicht auf E-Mails umsteigen? Diese postalischen Wartezeiten sind ja kaum auszuhalten in der heutigen Zeit. Der Briefkasten freut sich indessen über seine Verzauberung. Schlaflos lese ich wieder deinen Brief und krieche in deinen Traum.

Alles hat seine Zeit

Der Kalender sagt mir, dass dein Kind morgen erwachsen ist und nächste Woche auswandert für ein Jahr. Während ich weine, weil mein Kind nachts weint ohne mich und ich nächste Woche keine stillende Mutter mehr bin.

Kopf: Genug.
Bauch: Schon?
Brust: Aua.

Zur Ablenkung: Zwetschgen sammeln und Kuchen backen. Kommst du mal vorbei?

Tauschen

Wenn mir mein Blog einfällt, erinnere ich mich an mich. Ich habe Heimweh.

– Wie ist das neue Ich? Das reale Ich?

Das reale Ich ist überfordert und nicht nett. In jeder Minute ohne Kind wie wahnsinnig am Arbeiten. Der Versuch, den zu schnell wachsenden Verlag in ein größeres Gefäß umzutopfen. Nachts am Pläne schmieden und Anträge schreiben für freie Projekte. Als hätte es nicht mehr viel Zeit. Als wärs bald vorbei.

– Jeder Tag ein Leben, oder?

Komische Leben sind das.

– Tauschen wir?

Freundinnen

Ich liege wach und denk an dich. Und dass dir dein Papa mal vorgeschlagen hat, du könntest mir eine Zitrone schicken, damit ich wenigstens weiß, dass du sauer bist. Das hast du mir geschrieben, da waren wir vielleicht zwölf.

Wann fing es an, dass Freundschaften kompliziert wurden? Vielleicht waren sie das schon im Sandkasten, als ganz klar war, dass es nur eine beste Freundin geben kann. Wir wohnten in einer Straße, du vorne an der Kurve, ich ganz hinten im letzten Haus vor der Wiese, die bald bebaut werden sollte. Noch gehörte die Wiese uns und die Straße unseren Parcours aus Kreide, für unsere Dreiräder und Bobbycars. Wir trafen uns bei dir oder bei mir und wenn es Zeit war, uns zu verabschieden, begleiteten wir uns noch ein Stück nach Hause. Manchmal dreimal hin und her, um irgendwann in der Mitte Tschüss zu sagen, bis morgen. Einmal, als dein Papa dabei war, mit Abschiedskuss, das war seine Idee und fanden wir komisch.

Klar gab es andere Freundinnen. Monja oder Anna von gegenüber, die du nicht mochtest. Du warst meine Nummer eins und trotzdem immer ein bisschen eifersüchtig. Als ich ein Jahr vor dir in die Schule kam, bist du mit deinen Eltern weggezogen. Wir wurden Brieffreundinnen, besuchten uns viermal im Jahr und der Platz der besten Freundin wurde frei. Er wurde immer wieder neu besetzt, doch keine blieb, so ist es bis heute. Nur du.

Was hält uns zusammen?
Wir sind so verschieden.

Du kamst zu keiner meiner Partys, meine Freunde schüchterten dich ein. Oder interessierten dich nicht. Deine mich ja auch nicht. Bis auf einen, deinen Tanzpartner, der uns beide geküsst hat. Mich mit achtzehn, dich mit dreißig. Es geht nur um uns zwei. Beste Freundinnen, in guten wie in schlechten Zeiten, durch alle Lebensphasen. Mit langen Pausen, die den Alltag raushalten aus dieser Freundschaft.

Einmal dann richtig lange Funkstille und einsilbige Antworten auf meine Fragen. Nach meiner Hochzeit, bei der spontan eine andere Trauzeugin war. Auch diese Freundschaft währte nicht lang – zu empfindlich und explosiv, zu verschieden und doch zu gleich.

Manchmal sprichst du bitter, wie deine Mutter, der du scheinbar nie genügen konntest. Und ich manchmal pragmatisch wie meine, der ich nie richtig nah sein konnte. Beide sind wir doch mehr wie unsere Väter, die wir lieben. Wir suchten nach Männern wie ihnen.

Jetzt strampelt mein Kind neben mir und du wohnst in einem Haus mit einem Arzt und seinen zwei Kindern. Du hast den Vormietern den Rasenmäher abgekauft, einen neuen Job und einen Stall für deine zwei Pferde gefunden. Dein zweites Pferd habe ich noch nicht kennengelernt, auch nicht den Arzt. Und du nicht mein Kind.

Kennen wir uns noch? Unser Leben überholt uns in diesem Jahr, in dem der Rest der Welt den Atem anhält.

Innerster Kreis

Mich zu berühren ist für dich in etwa wie Fußball zu kommentieren – völlig außerhalb deiner Vorstellung davon, wer du bist und was du kannst und willst. Wie das Telefonieren. Ich habe mich in deinen innersten Kreis eingeschlichen. In den Favoriten deines Telefons stehen deine Omas, deine Mama und vielleicht noch dein Bruder, dann ich. Wie habe ich das geschafft? Indem ich dir das Gefühl gab, es ginge nur um dich. Der Narziss in dir fühlte sich geschmeichelt, zwang sich anfangs noch und seit es Routine ist, fehlt etwas, wenn mein abendlicher Anruf ausbleibt. Unsere Telefonate sind anders, Corona kommt kaum vor, wir bewegen uns in einer anderen Zeit. Vier Tage noch. Mir fallen keine Fragen mehr ein. Drehen wir es doch heute mal um: Was willst du wissen?

Raufaser

Während wir telefonieren, fläze ich auf dem Bett oder Sofa herum, schaue den Schallwellen zu, knibble an meinem Zehnagel, schaue mir die Tapete schön. Seit wann ertrage ich sie?

Kaleidoskop

Die Tage verschwimmen, alle sind gleich. Brauchen wir Höhepunkte, um die Wochen voneinander zu unterscheiden? Jeden Abend um 20:15 Uhr nehme ich nun eine Serie auf: Andreas, Andrej, Andruschka. Ein Mensch oder drei und ich im Kaleidoskop, in dem wir uns drehen und gegenseitig spiegeln. Ein Mosaik aus Anekdoten, Schnipseln und Fragmenten. Je mehr ich höre, desto weniger sehe ich, wohin. Zerreden wir’s? Und wie fülle ich die Lücken?

Wellen

Du bist so sanft, so ruhig. Wird dir mein Schreiben jemals gerecht? Wir versuchen’s, ziellos, ein Experiment. Gespräche, die ich aufnehme, um deine Sprache einzufangen – sie stockt. Ich darf den Wellen nicht zuschauen.

Ampel

Ich schaue dem Park vor unserem Fenster beim Grünwerden zu, der höchste Baum braucht am längsten. Unten mischen sich gelbgrüne Blättchen ins Braun, an das wir uns schon gewöhnt hatten. Auch ans Drinsein haben wir uns gewöhnt, da bleiben wir trotz Sonnenschein. Warnt mich meine Trägheit vor dem Pollensturm da draußen? Unsichtbar wie der Virus, nur schneller spürbar, quasi sofort. Eine Ampel, meine Haut.

Platz auf der Welt

Fließender Übergang vom Abendbrot zur Elektroparty, wir löschen das Licht und tanzen nackt, wirklich zum ersten Mal? Noch so viele Dinge, die wir zum ersten Mal tun können. Wer braucht schon Clubs und Festivals – uns reicht dieser Platz auf der Welt, sechsundfünfzig Quadratmeter Freiheit.

Insel

Darf ich glücklich sein, in diesen Zeiten? Ich bin da, wo ich immer hin will, bei mir, bei uns. Von hier aus ist alles möglich, so ohne Spiegel. Dir muss ich nichts beweisen. Ich darf komisch tanzen, falsch singen, mich im Ton vergreifen, mich gehen lassen wie der Hefeteig in unserem Ofen, tagelang tun was mir gefällt, ich sein. Danke für dich auf unserer einsamen Insel.

Einsiedelei

Du fehlst mir, dabei kenne ich dich kaum. Du bist unerreichbar, habe ich dich darum ausgesucht? Ein weiterer Einsiedler in meiner Sammlung. Ist das jetzt Liebeskummer oder die Traurigkeit über das Vergangensein der zeitlosen Zeit, in der ich mich nur um mich selbst drehen durfte? Mein Mann hätte heute meine Hilfe gebraucht und ich war nicht da, als er ohne Schlüssel vor unserer Tür stand. Ich saß im Vortrag und wollte nicht erreichbar sein, wenigstens für eine Stunde abgetaucht. Er kam derweil bei Anja unter, machte Papierflieger und Maultaschen für Carla. Als ich ihn dort abhole, ist er noch sauer, will eine Entschuldigung von mir. Ich war nicht da. War ich jemals da? Bin ich sonst nicht immer da? Will ich immer da sein? Stell dir drei Tage vor, an denen das Telefon nicht mehr aufhört zu klingeln. Ich werde für meine Geduld bezahlt, für mein Zuhören, Erklären, Beschwichtigen, fürs Durchhalten. Der Druck vor dem Druck. Als das Werk vollbracht ist, wird der Empfang abgesagt. Corona zwingt uns in die Isolation. Erzählst du mir mehr vom Mönchsein?

Gequengel

Übst du gerade?
Spielst du mir was vor?
Warum hast du keine Zeit für mich?

Die kleine Lene war zu Besuch und hat mir ihren quengeligen Ton dagelassen.

Ideendusche

Die Idee kam mir vor ein paar Wochen unter der Dusche. Und eben dort lasse ich sie jetzt wieder los. Sie gurgelt noch im Abfluss:

»Willst du es nicht wenigstens mal mit mir versuchen?«

Wieso? Du bist nicht innovativ, wurde mir gestern gesagt, vom Direktor persönlich. Du machst mir nur Arbeit, die keinen interessiert, vielleicht nicht mal mich.

»Ich werde aber wiederkommen, jedes Mal wenn du duschst, dir die Hände wäschst oder trinkst. Und wenn du schwimmst. Auch wenn die Heizung plätschert oder rauscht wie ein Wasserfall, bin das ich. Ich bin überall, wo Wasser ist.«

Und ich bin überall, nur nicht bei mir. Lässt du mich jetzt bitte in Ruhe duschen?

Kirchenmaus

Ich schleiche mich in die Kirche und lausche deiner Orgel, deinem Orchester. Das kleinste Notenbüchlein der Welt: Ein Ton pro Seite, einer für dich, einer für mich und so weiter. Komponierst du das Stück? Dann mache ich das Buch.

Warum du? Geht das einfach so wieder vorbei und das Leben weiter? Ich sei immer in Bewegung, immer tut sich was, so dein Eindruck, der mir gefällt. Und weil mir im Leben dann doch zu wenig passiert, klammere ich mich an die Träume mit ihrem wechselnden Du.

Allgemein oder Konkret?

Lieber das Große im Kleinen abhandeln als das Kleine am Großen.

Rosarote Sicht

Singend bin ich durch den Regen geradelt, nachdem ich dich zum Bus gebracht hatte. Meine Gäste waren ja längst weg, selbst die Spuren ihres Besuchs in meiner Abwesenheit. Nur der Geruch verbrannter Pinienkerne hielt sich bis Montagfrüh.

Und bei dir, alles wie geplant? Montag Orgel, Dienstag Yoga, Mittwoch Boxen, nächsten Samstag Oper, irgendwann Hamburg. Und dann?

Zeit für Teil Eins.

Dein Jogurt zum Frühstück gibt mir Rätsel auf. Selbst Schuld – du spielst mir meine verwirrenden Wortfragmente zurück, jetzt ahnen wir beide soviel wie zuvor. Na, du vielleicht etwas mehr, ich bin ein offenes Buch.

Doch halt: Rosarote Sicht!? Sowas hält sich zwischen sechs Wochen und sechs Monaten. Wir sollten uns sehen, bevor sie sich trübt. Oder hält sie länger, wenn man sich nicht sieht? Oder nicht, weil aus den Augen, aus dem Sinn?

Kann ich deine Nummer haben?

Teil Zwei dann mit 64.

20 Jahre Blut

Wieviele Liter sind das?
Durchschnittlich:
70 Milliliter im Monat
840 Milliliter im Jahr
16,8 Liter in 20 Jahren

Niemand hat sich dieses Datum gemerkt und mit mir den Abschied der Kindheit gefeiert. Keiner sprach darüber, wie schmerzhaft es ist, das Mädchen zurückzulassen und es erst viel später wieder in sich zu entdecken. Das Baby im Kind im Mädchen in der Frau in der Mutter in der Großmutter. Alle da. Alle bin ich.

Es gab auch keine Willkommensfeier für meine Fruchtbarkeit, die erst jetzt interessant wird. Erst zwanzig Jahre später fand ich einen Kompass und einen Reiseführer (nicht schön, doch hilfreich) als Weggefährten für meine monatliche Reise durch das innere Jahr. Jeden Morgen ein neuer Cocktail. Zyklisch leben, das wär doch was. Wer bin ich heute?

Kennst du eine Abkürzung zum Eigentlichen?

Gastfreundschaft

Sie war mein Vorbild: Offen für jeden, interessiert, zugewandt und so voller Wärme und Gastfreundschaft. Braucht man ein Schloss, um Menschen so einladen zu können? Du sagst, das ist eine Haltung, kein Ort und keine Wohnform.

Verliebt

Kurz vor dem Einschlafen, das Licht brennt gerade noch so, bin ich ganz verliebt. Ich lache dich an, du liegst neben mir, die Decke bis zur Nase hochgezogen. Ich bin glücklich in diesem Moment. Warum gerade jetzt? Weil ich dann nichts mehr will vom Tag und von mir. Dann werde ich ruhig und entspannt, dann bin ich da.

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Warum stehst du morgens auf?
Wie viele Rollenbilder sind gesund?
Gibst du auch mal nach?

Aber die Freiheit!
Aber die Einsamkeit?

Die Familienchronik als Vorwort zu mir selbst?

Vielleicht interessant

Gestern am Fluss, da lag er und ich wollte, dass er mich sieht. Seit ich denken kann, will ich gesehen werden. Von Männern. Papa, Opa, die Jungs aus der Nachbarschaft, aus der Parallelklasse, aus dem Dorf, der Clique, im Delta, im Urlaub am Strand mit 13 in diesem Bikini mit Reißverschluss zwischen den noch nicht vorhandenen Brüsten. Ich öffnete ihn dennoch so weit wie möglich. Schaut mich an! Was seht ihr? Sehe ich mich erst durch euren Blick? Ein unscheinbares komisches Mädchen, vielleicht interessant. Was sie wohl denkt? Wie sie wohl nackt aussieht? Wie sie im Bett ist? Und wenn sie erst loslässt und aufblüht, dann wird sie groß und schön und berühmt mit ihrem schiefen Blick auf die Welt. Ganz genau beschreibt, seziert, durchbohrt sie die Menschen um sich herum. Projektionsfläche, ich und ihr. Warum interessiert mich der Blick der Männer? Derjenigen, die stark scheinen und schonungslos in ihrem Urteil. Sein Blick. Weil er schreibt? Weil ich schon immer eine Romanfigur sein wollte? Wenn sich mein Handeln durch seine Feder fügt, wenn meinen Weg nicht mehr ich bestimme, sondern sein Schreiben. Und warum nicht mein Schreiben? Ein Leben, erschrieben statt erlebt? Kann ich nur beschreiben, was ich auch erlebt habe? Als ob ich schon so viel erlebt hätte. Genug, um mich den Rest meines Lebens mit dem Bisherigen zu befassen. Am liebsten möchte ich doch Bücher lesen, in denen ich selbst vorkomme, wahrhaftig, mein Innerstes erfasst. Und warum sollte er das besser können als ich? Zumal noch ein Mann, irgendein schreibender Mann.

Alles verkaufen und verschenken, nur ein Rucksack und los. Oder liegt es am Sommer, dass ich die Dinge, Bücher und Wollsachen nicht mehr verstehe?

Blau oder rotweiß gestreift zu schwarz, oder rosa zu schwarzweiß kariert?

Steffi neulich: „Glaubst du immer noch, dass die Zeit springt, wenn du durch Türen gehst?“

À propos

Über oder Für?
Über überhöht sich, schaut aber hin.
Für schenkt, wo es nichts braucht.

Le cube

Ateliereinrichtung: Zwei Tischplatten, vier Böcke, zwei Stühle, ein durchgesessener Sessel, ein Hocker als Beistelltisch, ein hoher Hocker, um aus dem Fenster zu schauen, ein Sockel neben der Tür, unter dem Nagel für meine Jacke. Der Rest kann raus oder in die Nische nebenan. Den Schreibtisch stelle ich so, dass ich die Riesigkeit des Raums nicht sehe. Da sitze ich nun. Vor mir eine hohe, weiße Wand. Und ein weißes Blatt. Was tun mit all dem Weiß?

Spiegelkabinett

Nach dem Urlaub falle ich zurück in mein Loch. Zweifel drücken mich morgens zurück in die Federn und verjagen mich schneller aus meinem Schaufenster als ich mit der Arbeit beginnen kann. Herrje, hört das denn nie auf? Oder erst wenn ich ein Kind habe? Oder am Bodensee wohne? Oder Kunst mache? Oder schreibe? Oder nur noch koche und backe? Oder allen Ballast von mir schüttle und aus einem kleinen Rucksack lebe, nirgendwo zu Hause, überall daheim? Das ist keine Achterbahn mehr, das ist ein Spiegelkabinett ohne Ausgang.

Verflucht

Plötzlich schlägt mir eine Kälte entgegen. Ein Kommentar auf Facebook entlarvt meine tiefsten Ängste, ich fühle mich ertappt. »Ihr verfluchten Nachmacher!!!!!« schreit da einer. Mein Bauch verkrampft sich, ich will ins Bett und nie wieder aufstehen. Oder zumindest heiß duschen.

Was meint er genau? Das Logo, das sich mit Abstand betrachtet als eine Mischung der Logos zweier Designschulen interpretieren ließe? Oder meint er die Website, deren Menü dem meiner Lieblingswebsite ein wenig zu sehr gleicht? Die andere Schrift, die neue Bildsprache, die Bespielung des Logos – sind das nicht genug »neue« Elemente für ein eigenständiges Erscheinungsbild?

Geht das überhaupt, etwas Neues zu erschaffen, wenn man doch von allen Seiten beeinflusst wird? Sind unsere Ausdrucksmittel nicht viel zu limitiert, um uns nicht ständig – versehentlich oder unbewusst – gegenseitig zu kopieren? Und warum ist das schlimm?

Weil es wohl mal wieder ums Ich geht, um Identität. Als ich bemerkte, dass meine kleine Schwester sich heimlich meine Klamotten auslieh, fühlte ich mich in meinem Stil (wenn man das, was ich mit 17 trug, als Stil bezeichnen möchte) kopiert. Nicht mehr eigenständig, besonders, ich. Ich hätte es auch als Kompliment verstehen können.

Und wer kennt das nicht: einen tollen Entwurf aufs Papier gebracht zu haben, nur um kurz darauf festzustellen, dass das so oder so ähnlich schon vor hundert Jahren entworfen wurde. Mein Freund erzählt gerne, dass er in seinem ersten Semester den Klappstuhl neu erfunden hat. Alles schon da gewesen, die Farben, die Formen, das Rad.

Die Kopie ist in unserem Kulturkreis verpönt, Nachmacher werden geächtet. Nun komme ich aber seit geraumer Zeit auf nichts Neues, Eigenes – aus lauter Angst, etwas falsch zu machen. Wann hat das angefangen? Als ich merkte, dass ich zu wenig weiß? Als ich keinen Strich mehr zustande brachte, ohne mindestens bei fünf Anderen zu schauen, wie die das machen? Aus Faulheit? Aus Angst. Doch welche Angst ist größer: Der Kopie verdächtigt zu werden oder den Fehler zu riskieren? Beides bleibt wohl keinem erspart, der nicht im Bett bleibt. Im Kopieren lerne ich von anderen, im Fehlermachen von mir selbst.

Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass der Kommentar gar nicht uns galt. Immerhin hat er mir ein paar Gedanken beschert.

Woher kommen bloß all die Klassenfahrten und Gruppenreisen in meinen Träumen?

Grauschleier

An irgendeinem Punkt vor ein paar Jahren haben die Dinge aufgehört normal zu sein. Nichts war mehr, was es davor gewesen ist, alles musste ich neu lernen und die Falten auf meiner Stirn wollten nicht mehr verschwinden. Was war der Musik passiert? Was machte das Essen so schwierig? Was hat den Grauschleier auf alle Kleider gelegt? Was hat die Uhren beschleunigt? Was hat mich so weit weg getrieben von allen und mir? Was ist hier los?

Raketenstation

Wie träge sich die letzten Seiten füllen. Ich wage kaum mehr etwas zu notieren. Ein neues Buch erst dann, wenn das hier überstanden ist. Ich schreibe um mein Leben im Jetzt und entferne mich immer weiter davon. Wie weit kann ich gehen, um noch unbeschadet zu mir zurückzufinden? Es mag Jahre dauern, Jahre der Verwirrung, nicht bei mir. Was mache ich hier? Ich stolpere durch Berge aufgeschlagener Bücher auf dem Tisch von Oswald Egger und sage: Hallo, hier bin ich, was kann ich für dich tun? Welch absurde Frage bei meiner akuten Sehnsucht nach dem Nichts. Ein Leben ohne Kalender, ohne Uhr und ohne Pflichten. Das Hier und Jetzt, ich weiche ihm aus, ignoriere die Sonne, sehe die Blumen nicht. Er sagt: »Interessant, weil man so gar nicht sieht, wo das hinführt, dieses Schreiben.«

Wie kann sich so ein junger Mensch mit so viel Vergangenheit beschäftigen?

Heißt die wirklich Broccoli mit Nachnamen?

Durchbrennen

Bin ich neidisch auf seine wiederentdeckte Freiheit? Ich lauere ihm auf, ich beobachte wie er sich durch die Wohnung bewegt, ich lausche, wann er nach Hause kommt und wann nicht, wie gestern Abend. Spontan mit ihm durchbrennen in die Berge. Ich schleiche um ihn herum, bin vorsichtig und ruhig und brav, allemal eingerostet. Gleich am ersten Abend hier habe ich mich verguckt, ein kleines bisschen, er sich vielleicht auch. Ist doch nett, so ein bisschen Spannung in der Wohnung. Ich atme, sehe Schmutz unter meinen Fingernägeln, liege im hübschen Kleid auf dem Bett, unterdrücke den Lebensdurst und studiere.

Fällt mir vielleicht auch mal was mit Hand und Fuß ein?

Ich habe Angst.
Angst davor dass alles zusammenbricht.
Mein System.
Eure Hoffnungen.
Online.

Bei mir tut’s.

Aber bei dir?
Und bei denen?