Christina Schmid
Konzeption und Gestaltung

Unrast

»Ein wichtiger Begriff in der Reisepsychologie ist das Begehren, denn es verleiht dem menschlichen Wesen Bewegung und Richtung zugleich – es weckt die Hingabe an etwas. Das Begehren an sich ist leer, das heißt, es weist nur die Richtung, aber nicht das Ziel, das Ziel nämlich bleibt immer phantasmagorisch und unklar, je näher man ihm kommt, desto rätselhafter wird es. Das Ziel lässt sich unter keinen Umständen erreichen, man kann auch nie das Begehren damit stillen.«

»Das, was mich beleidigt, lösche ich aus meinen Landkarten. Orte, in denen ich gestolpert und gefallen bin, wo man mich geschlagen, mir Leid zugefügt hat, wo etwas mir wehgetan hat, die hören auf, für mich zu existieren. Auf diesem Wege habe ich mehrere Großstädte und eine Provinz wegradiert. Vielleicht werde ich eines Tages ein ganzes Land wegradieren. Die Landkarten nehmen das verständnisvoll hin; sie sehnen sich nach weißen Flecken, das ist ihre glückliche Kindheit.«

»Ist es gut, dass ich erzähle? Wäre es nicht besser, den Verstand mit einer Klammer zu bündeln, die Zügel straff zu ziehen und mich nicht in Geschichten auszudrücken, sondern mit einem schlichten Vortrag, wo ein Gedanke mit jedem Satz klarer Gestalt annimmt und in den folgenden Absätzen an andere Gedanken geheftet wird? … Doch ich lasse mich auf die Rolle der Geburtshelferin ein, der Gärtnerin, deren Verdienst höchstens das Säen ist und anschließend das langweilige Unkrautjäten. Erzählungen haben ihre eigene Trägheit, die sich nie ganz unter Kontrolle bringen lässt. Sie brauchen Leute wie mich, die unsicher sind, unentschieden, leicht an der Nase herumzuführen. Naive.«

»In der Nacht steigt die Hölle über der Welt auf. Zuerst verzerrt sie den Raum, macht alles enger, massiver, unbeweglicher. Einzelheiten verschwinden, Gegenstände verlieren ihr Gesicht, werden massig und unscharf, wie merkwürdig, dass man tagsüber von ihnen sagen kann, sie seien ›schön‹ oder ›nützlich‹; jetzt erinnern sie an unförmige Klumpen, deren Zweck schwer zu erraten ist. … Die Nacht gibt der Welt ihr ursprüngliches natürliches Aussehen zurück, sie erfindet nichts; der Tag ist Extravaganz, das Licht – nur eine kleine Ausnahme, ein Versehen, eine Störung der Ordnung. In Wirklichkeit ist Die Welt dunkel, fast schwarz. Bewegungslos und kalt.«

»Lasst stehen und liegen, was ihr besitzt, verlasst euren Grund und Boden und setzt euch in Bewegung. Denn alles, was seinen festen Platz in der Welt hat, jeder Staat, jede Kirche und Regierung, alles, was in dieser Hölle seine Form behalten hat, ist ihm zu Diensten. Alles, was bestimmt ist, was von-hier-bis-da ist, was in Rubriken erfasst, in Registern verzeichnet, nummeriert, nachgewiesen, beschworen ist; alles, was angehäuft, zur Schau gestellt und etikettiert ist. Alles, was festhält wie Häuser, Sessel, Betten, Familie, Erde, Saat, Pflanzung, Pflege des Wachsenden. Planen, Warten auf Ergebnisse, das Erstellen von Plänen, Hüten von Ordnung. Deshalb entwöhne deine Kinder, wenn du sie schon achtloserweise geboren hast, und mach dich auf den Weg. Bestatte deine Eltern, da sie dich schon unachtsamerweise haben werden lassen, und geh.«

»Sie halten sich an den Händen, es ist die Zeit der ersten Küsse, die man nicht anders als seltsam bezeichnen kann.«

»Eine Stunde bleibe ich sitzen, nicht länger. Ich sehe die Leute, die aus dem Fahrstuhl springen und zu einer Verabredung eilen, diese von Geburt an Verspäteten, die manchmal vor lauter Hast in der Drehtür stecken bleiben wie in einer Mühle, die sie gleich zu Staub zermahlen wird. Ich sehe die Schlurfenden, die die Füße nachziehen, sie zaudern vor jeder Bewegung. Frauen, die auf Männer warten, Männer, die auf Frauen warten.«

»Die Bibliothek steht am Fluss, auf diesen schaut sie, das ist ein Fehler. Bücher muss man hochgelegen aufbewahren. Als die Sonne schon herauskam und das Wasser fiel, legten die Mitarbeiter der Bibliothek die Bücher zum Trocknen aus. Aufgefächert stellten sie sie auf den Boden, es sind Hunderte, Tausende. Geduldig ziehen sie die Seiten auseinander, damit die einzelnen Sätze und Worte trocknen können – sie öffnen die Bände zur Sonne hin, die Sonne soll lesen.«

»Kairos, der immer an dem Punkt wirkt, wo die lineare Zeit der Menschen und die zyklische Zeit der Götter sich schneiden. Und auch an dem Punkt, wo Ort und Zeit sich schneiden, in dem Moment, der sich kurz öffnet, um diese eine, eigene unwiederholbare Möglichkeit stattfinden zu lassen. Der Punkt, an dem die aus dem Nirgendwo ins Nirgendwo laufende Gerade einen Augenblick den Kreis berührt.«

»Wir, die Aufschreibenden sind ja zu vielen. Wir lassen uns nicht anmerken, dass wir einander betrachten, wir heben den Blick nicht von unseren Schuhen. Wir werden uns gegenseitig aufschreiben, das ist die sicherste Form der Kommunikation, wir werden einander in Buchstaben und Initialen verwandeln und auf den Seiten der Notizbücher verewigen, wir werden uns plastinieren, ins Formalin der Sätze versenken.«

»Im Lächeln der Stewardessen verbirgt sich, wie uns scheint, ein Versprechen, dass wir vielleicht Neugeborene werden, diesmal zur rechten Zeit am rechten Ort.«

In Griechenland mit Olga Tokarczuk: Unrast