Im Traum ein Bergdorf mit Kriegsbaracke, ich will nicht weitergehen. Von oben sehe ich dich am Boden unter Wäschebergen glitschige Perlen entdecken, sie bewegen sich. Bestimmt übertragen sie Malaria oder etwas anderes. In meinem Bein steckt auch so eine Perle fest, ich kratze sie auf und weg. Draußen auf dem Platz essen wir sehr touristisch, der Lautsprecher knackt permanent, doch ich muss schreiben. Du siehst mich durch dein Glas mit Papier und Stift, nur da bin ich ich. Die halbe Nacht warte ich darauf, dass du das Baby wieder zu dir nimmst. Halboffener Schlaf, ohne Stift aus dem Traumland gekickt. Dieser Traum ist filmreif und wieder weg nach dem x-ten Stillen vom Baby und wieder Zudecken vom Kind. Was mir bleibt, ist dein verachtender Blick. Ja, ich war nochmal oben im Hotelzimmer, das jetzt deines ist. Ich sah deine Taschen vor dem Spiegel stehen, unausgepackt. Auf der Treppe kommen wir uns entgegen, du siehst mich misstrauisch an. Meinen Schuh und den Stift hatte ich dort vergessen, beteure ich und wedle damit. So verabschieden wir uns, der Traum und ich.
»Wie schmerzlich war es, nur deshalb geliebt zu werden, weil man existierte. Was für eine Unruhe brachte eine solche Liebe mit sich. Wie sich die Gedanken vor Ungläubigkeit verwirrten, wie das Herz vom beschleunigten Klopfen anschwoll. Wie die Welt in die Ferne rückte und ihre Greifbarkeit verlor.«
»Auf Reisen trifft man letzten Endes immer auf sich selbst, als wäre man selbst sein Reiseziel. … Bei sich zu Hause hört man auf, sich mit sich selbst zu beschäftigen, und dann sieht man am meisten.«
»Und erst als sie aufwachte, begriff sie, dass sie sich auf eine Reise begeben hatte; vorher war es nur eine Fortbewegung im Raum gewesen, eine gewöhnliche, nicht weiter bemerkenswerte Ortsveränderung. Erst der Schlaf schließt das Alte ab und öffnet das Neue, der eine Mensch stirbt, der andere erwacht zum Leben. Dieser schwarze Raum ohne Eigenschaften zwischen den Tagen ist die wahre Reise.«
»Ich dringe durch den Mund ins Innere der Menschen ein. Die Menschen sind innen wie Häuser. … Von innen wirken diese Häuser unbewohnt. … Aber ich weiß, dass ich im Inneren eines Menschen bin. Das erkenne ich an kleinen Einzelheiten. Eine der Korridorwände ist fleischfarben und pulsiert leicht. Manchmal dringt aus der Tiefe ein fernes, gleichmäßiges Rumoren an meine Ohren, manchmal rutscht mein Fuß auf etwas Festem, Geädertem aus.«
»Sie lebten im Schloss, obwohl sie es weder erbaut hatten noch genau kannten, was bei den verschiedenen unerlässlichen Reparaturen besonders deutlich wurde. … Einige von ihnen studierten Philosophie oder Literatur, aber auch nur zu dem Zweck, ihr Leben in diesen paradiesischen Gefilden noch intensiver und voller auskosten zu können. Um Bescheid zu wissen. Um sich eines Ziels oder des Mangels eines solchen klar zu werden. Um sich darüber klar zu werden, wie es sein kann. Und das musste reichen.«
»Ich bin auch in einem Schloss geboren. … Ich stellte mir mein Zuhause immer als etwas Essbares vor. Wahrscheinlich habe ich es einmal aus Versehen wirklich gegessen, denn jetzt steckt es in mir drin, ein mehrstöckiges Gebäude mitten in mir. Wir bewohnen einander. Ich bin in ihm, und es ist in mir, manchmal fühle ich mich wie ein Gast darin, manchmal als Besitzerin. Nachts tritt das Schloss deutlicher hervor, es leuchtet grünlich durch die Dunkelheit. Im Sonnenlicht ist es zu grell, deshalb bleibt das Schloss tagsüber unsichtbar, aber ich fühle es in mir.«
»Es war schön. Man musste nur achtgeben, dass man nicht zu viel sagte und nicht zu laut. Dass man keine Meinung äußerte, nicht bewertete, nicht zu viel hörte, nicht hinschaute. Das war nicht schwer, denn sie hatten ja einander und das Haus und das Klavier und die Blumen im Garten.«
»Von diesem Zeitpunkt an konnten die beiden sich nicht mehr daran erinnern, was sie den ganzen Tag über gemacht hatten. Ein Tag erschien wie der andere. Das Verrinnen der Zeit ließ sich nur an den Wäschehaufen im Badezimmer ablesen.«
»Wie sieht die Welt aus, wenn das Leben nur noch Sehnsucht ist? Sie sieht papieren aus, zerkrümelt zwischen den Fingern und zerfällt. Jede Bewegung betrachtet sich selbst, jeder Gedanke betrachtet sich selbst, jedes Gefühl fängt an und hört nicht auf, und zum Schluss wird der Gegenstand der Sehnsucht selbst papieren und unwirklich. Nur das Sehnen ist wahrhaftig und macht abhängig. Dort zu sein, wo man nicht ist, das zu haben, was man nicht besitzt, jemanden zu berühren, den es nicht gibt. … Vor dieser Sehnsucht kann man nicht fliehen. Man müsste dafür dem eigenen Körper entfliehen, aus sich selbst hinaus. Soll man sich betrinken? Wochenlang schlafen? Sich bis zur Besessenheit in Aktivität verlieren?«
»Mir ist, als hätte ich alle Pullover der Welt schon einmal angehabt.«
Olga Tokarcuk: Taghaus Nachthaus
Im Traum probiere ich Schnürsenkel mit Soße von meinem Nebensitzer, ein dünner Mann, dem das Essen nicht schmeckt. Gegenüber wird eine fade Schuhsohle mit Kimchi verfeinert, ich esse den Rest. Von zwei Seiten höre ich Klagen der Liebe, die spontan zu mir wandert. Ich will sie nicht, wie ich auch euer Essen nicht wollte, ich hatte absichtlich nichts bestellt.
Ich liege wach mit deinem Husten, der in mir eingezogen ist, er bleibt mir treu für den kleinen Rest unserer Zeit. Deine rosa Lippen tanzen im Bunker mit ihr und allen, denen du noch gefallen sollst. Gefallen aus allen Wolken ins Nichts deiner Worte, die schon verblassen, wenn du sie schreibst und verschwinden, wenn sie mir gefallen haben, oder wem? Austauschbares Du, für sie, für dich. Sie fragt dich nicht nach mir und mich nicht nach dir. Ausgesprochen verfliegt ihr der Zauber jenseits der Worte. Ich kenne ihre Heimlichkeiten zu gut, schütze mich vor ihr, in die du fällst. Treuer Husten hältst mich wach und aus für heute Nacht.
Im Traum sitzen wir in einem Bus, er fährt nicht los und wird immer voller. Wir steigen aus und gehen zu Fuß zum Meer. Es ist zu heiß, kein Schatten weit und breit, nur gleißendes Sonnenlicht. Also wieder in die Stadt zu einem Brunnen mit Elefanten aus Stein, von dem du gelesen hast. Wir klettern barfuß auf ihren Köpfen herum, jeder Elefant spritzt anders. Humpelnd zeigst du mir einen Paravent, hinter dem sich ein kleiner Elefant versteckt, schon grün vor Moos. Auf deinen Wunsch steige ich auf seinen Kopf, da plustert er wummernd die Backen auf und taucht ab ins Dunkel mit mir und wieder auf. Er spritzt aus allen Poren dich und dein Buch nass, du lachst.
Im Traum sitze ich unter freiem Himmel im Theater, wo sich Schauspieler ihre Spielpartnerinnen im Publikum suchen, ich bin eine der Auserwählten mit zwei Schmetterlingen, die ich dann doch anderen überlasse. Ein eiförmiger Bus fährt herein und kriecht den Berg hinauf nach Haus. Zu Fuß bin ich schneller, ich laufe ihm voraus, bis er mich einholt, der Fahrer besteht darauf, dass ich einsteige, es ist der Schauspieler, der mich wollte. Er will Bruchschokolade mit mir machen, mit lustigen Toppings, das klingt gut und du beobachtest amüsiert, wie ich in seinen Arm hüpfe, Huckepack trägt er mich bergauf zu seinem Schokoladenhaus.
»Für mich hat so ein Notizbuch den Vorteil, dass es mich immer daran erinnert, wozu ich auf Erden bin – um von Dingen Notiz zu nehmen.«
Richard Ford
»Die Momente zwischen den Lesenden und Schreibenden sind Geschenke, deren Schönheit in ihrer Flüchtigkeit besteht. All das sagt vor allem eins: dass wir als Schreibende vielleicht gar nicht so genau wissen, was wir tun.«
Daniel Schreiber
»Schlussendlich ist ein schönes Buch vor allen Dingen eine perfekte Lesemaschine (…); und es ist gleichzeitig ein Kunstgegenstand, ein Ding, aber eines mit Persönlichkeit, das die Zeichen eines eigenen Denkens trägt.«
Paul Valéry 1926
Im Traum landen wir in einem Theaterstück, die Bühne voller brauner Pappröhren und Verpackungsmaterial, darin wartet eine träge Truppe auf Bestellungen. Das Stück heißt: ›Die Verlegerin‹. Auf einer anderen Bühne steht ein Typ in einem Wald aus Mikrofonen, er will für sein Bühnenbild gelobt werden, was niemand tut. Frustriert trinkt er das Blumenwasser aus den Vasen und wirft die Blumen ins Publikum. Wir folgen einem Licht ins Dunkel, besteigen ein Raumschiff und legen ab, fliegen den Lichtwölkchen hinterher, die uns der Flugvirtuose vor uns als Orientierung ins dunkle Nichts auspufft. Zwischendurch biegt er ab in kleine Wolkenwelten, um Leute einzusammeln und ein verlorenes Kind zu retten. Wir folgen ihm, durchqueren Schlick und Algenfelder, reißen uns los und wieder hinauf. Auch meine Eltern fahren herum mit Oma, der sie Basel zeigen und kleine Hafenstädte. Auf dem Rückweg wollen Sie zu uns und mein Gepäck abholen, bei der Hitze reicht mir der neue Badeanzug: Eine Galaxie mit Neonbändern an den Seiten zum Zusammenziehen, so schrumpft der Sternenstoff zu einem Päckchen, klein und leicht wie ein Tischtennisball.
Im Traum reisen wir im Zug von Stadt zu Stadt, wir sind auf Tournee mit unserem Wasserspaziergang. Sind wir hier richtig, wo müssen wir raus, kommen wir rechtzeitig an? Kein Ortsschild am Bahnsteig verrät uns, wo wir sind. Ich will mein Handy befragen, doch darin schwappt nur Spülwasser mit weißen Schaumblasen, nicht mehr zu gebrauchen als Karte, Kompass oder Uhr. Irgendwo steigen wir aus, machen Pause am Strand, haben solch eine Lust, dass uns die Zeit egal ist und auch die anderen Leute, wir rennen nackt ins Meer. Die Lust bleibt bei mir bis im Hotel die große Lea bei mir ist, mein Kopf reicht ihr bis zum Bauch. Sie hängt mich kopfüber mit den Beinen über ihre Schultern. Müssen wir nicht los? Im Handy noch immer nur Schaumwasser. Bestimmt ist noch Zeit.
»Ein wichtiger Begriff in der Reisepsychologie ist das Begehren, denn es verleiht dem menschlichen Wesen Bewegung und Richtung zugleich – es weckt die Hingabe an etwas. Das Begehren an sich ist leer, das heißt, es weist nur die Richtung, aber nicht das Ziel, das Ziel nämlich bleibt immer phantasmagorisch und unklar, je näher man ihm kommt, desto rätselhafter wird es. Das Ziel lässt sich unter keinen Umständen erreichen, man kann auch nie das Begehren damit stillen.«
»Das, was mich beleidigt, lösche ich aus meinen Landkarten. Orte, in denen ich gestolpert und gefallen bin, wo man mich geschlagen, mir Leid zugefügt hat, wo etwas mir wehgetan hat, die hören auf, für mich zu existieren. Auf diesem Wege habe ich mehrere Großstädte und eine Provinz wegradiert. Vielleicht werde ich eines Tages ein ganzes Land wegradieren. Die Landkarten nehmen das verständnisvoll hin; sie sehnen sich nach weißen Flecken, das ist ihre glückliche Kindheit.«
»Ist es gut, dass ich erzähle? Wäre es nicht besser, den Verstand mit einer Klammer zu bündeln, die Zügel straff zu ziehen und mich nicht in Geschichten auszudrücken, sondern mit einem schlichten Vortrag, wo ein Gedanke mit jedem Satz klarer Gestalt annimmt und in den folgenden Absätzen an andere Gedanken geheftet wird? … Doch ich lasse mich auf die Rolle der Geburtshelferin ein, der Gärtnerin, deren Verdienst höchstens das Säen ist und anschließend das langweilige Unkrautjäten. Erzählungen haben ihre eigene Trägheit, die sich nie ganz unter Kontrolle bringen lässt. Sie brauchen Leute wie mich, die unsicher sind, unentschieden, leicht an der Nase herumzuführen. Naive.«
»In der Nacht steigt die Hölle über der Welt auf. Zuerst verzerrt sie den Raum, macht alles enger, massiver, unbeweglicher. Einzelheiten verschwinden, Gegenstände verlieren ihr Gesicht, werden massig und unscharf, wie merkwürdig, dass man tagsüber von ihnen sagen kann, sie seien ›schön‹ oder ›nützlich‹; jetzt erinnern sie an unförmige Klumpen, deren Zweck schwer zu erraten ist. … Die Nacht gibt der Welt ihr ursprüngliches natürliches Aussehen zurück, sie erfindet nichts; der Tag ist Extravaganz, das Licht – nur eine kleine Ausnahme, ein Versehen, eine Störung der Ordnung. In Wirklichkeit ist Die Welt dunkel, fast schwarz. Bewegungslos und kalt.«
»Lasst stehen und liegen, was ihr besitzt, verlasst euren Grund und Boden und setzt euch in Bewegung. Denn alles, was seinen festen Platz in der Welt hat, jeder Staat, jede Kirche und Regierung, alles, was in dieser Hölle seine Form behalten hat, ist ihm zu Diensten. Alles, was bestimmt ist, was von-hier-bis-da ist, was in Rubriken erfasst, in Registern verzeichnet, nummeriert, nachgewiesen, beschworen ist; alles, was angehäuft, zur Schau gestellt und etikettiert ist. Alles, was festhält wie Häuser, Sessel, Betten, Familie, Erde, Saat, Pflanzung, Pflege des Wachsenden. Planen, Warten auf Ergebnisse, das Erstellen von Plänen, Hüten von Ordnung. Deshalb entwöhne deine Kinder, wenn du sie schon achtloserweise geboren hast, und mach dich auf den Weg. Bestatte deine Eltern, da sie dich schon unachtsamerweise haben werden lassen, und geh.«
»Sie halten sich an den Händen, es ist die Zeit der ersten Küsse, die man nicht anders als seltsam bezeichnen kann.«
»Eine Stunde bleibe ich sitzen, nicht länger. Ich sehe die Leute, die aus dem Fahrstuhl springen und zu einer Verabredung eilen, diese von Geburt an Verspäteten, die manchmal vor lauter Hast in der Drehtür stecken bleiben wie in einer Mühle, die sie gleich zu Staub zermahlen wird. Ich sehe die Schlurfenden, die die Füße nachziehen, sie zaudern vor jeder Bewegung. Frauen, die auf Männer warten, Männer, die auf Frauen warten.«
»Die Bibliothek steht am Fluss, auf diesen schaut sie, das ist ein Fehler. Bücher muss man hochgelegen aufbewahren. Als die Sonne schon herauskam und das Wasser fiel, legten die Mitarbeiter der Bibliothek die Bücher zum Trocknen aus. Aufgefächert stellten sie sie auf den Boden, es sind Hunderte, Tausende. Geduldig ziehen sie die Seiten auseinander, damit die einzelnen Sätze und Worte trocknen können – sie öffnen die Bände zur Sonne hin, die Sonne soll lesen.«
»Kairos, der immer an dem Punkt wirkt, wo die lineare Zeit der Menschen und die zyklische Zeit der Götter sich schneiden. Und auch an dem Punkt, wo Ort und Zeit sich schneiden, in dem Moment, der sich kurz öffnet, um diese eine, eigene unwiederholbare Möglichkeit stattfinden zu lassen. Der Punkt, an dem die aus dem Nirgendwo ins Nirgendwo laufende Gerade einen Augenblick den Kreis berührt.«
»Wir, die Aufschreibenden sind ja zu vielen. Wir lassen uns nicht anmerken, dass wir einander betrachten, wir heben den Blick nicht von unseren Schuhen. Wir werden uns gegenseitig aufschreiben, das ist die sicherste Form der Kommunikation, wir werden einander in Buchstaben und Initialen verwandeln und auf den Seiten der Notizbücher verewigen, wir werden uns plastinieren, ins Formalin der Sätze versenken.«
»Im Lächeln der Stewardessen verbirgt sich, wie uns scheint, ein Versprechen, dass wir vielleicht Neugeborene werden, diesmal zur rechten Zeit am rechten Ort.«
In Griechenland mit Olga Tokarczuk: Unrast
Im Traum wohnt Pablo unter und Leana über uns, Lio ist begeistert über all die Kinder im Haus. Nur Marilena reichen die Zimmer nicht, sie braucht zwei Küchen, wovon wir ihr abraten, sie überlegt weiter. Dann mein erstes Date mit einem jungen Kerl, er küsst viel zu hastig und hat keine Zeit, seine Party geht gleich los. Dort mag mich ein kleines Mädchen, dem ich knallblaue Farbe verspreche und die 77 Holzquadrate aus der Kiste unter meinem Bett. Bis ich wiederkomme, ist sie weg. Stefanie leuchtet im grüngelben Schal, nur widerwillig lässt sie sich das Gartenhaus zeigen, ihre Assistentin schreibt mit und will sich melden, ich glaube ihr nicht.
Im Traum habe ich einen Termin direkt nach dem Urlaub fast vergessen, um 10 muss ich dort sein, es ist 9:53 Uhr, ich komme zu spät. Ich renne durch ein Bürogebäude und knalle Türen, versuche immer wieder Christoph anzurufen, mein Handy will nicht. Auf einem Trampelpfad durch eine hohe Wiese erzählt mir Frauke von ihrer Tochter: Als alle wegen Covid ausreisen mussten, zog sie sich kiffend aufs Land zurück. Jetzt hat sie alle Varianten durch, auch die englische und französische, es geht ihr gut. Eine Uhr zeigt noch immer 9:53 Uhr und später noch eine. Wenn die Zeit so stillsteht, könnte ich es noch pünktlich schaffen, nur habe ich gar keine Lust mehr auf Termine. Aufs Land ziehen und kiffen? Frauke schüttelt den Kopf.
Im Traum löffeln wir scharfe Erbsensuppe mit Zuckerschoten aus einem Topf, der stand schon gestern mitten im Weg auf einem Stuhl. Daneben kauft Sinje ihr Gemüse ein. Sie trägt eine Stola aus riesigen Erdbeeren, passend zu ihrer Ausstellung, die wir gleich besuchen. Ein Raum voller schwebender Neonröhren, an die wir uns hängen und schaukelnd Luftakrobatik versuchen.
Im Traum soll ich einen Vortrag vor einer Klasse halten, ständig kommt und geht jemand, meine Stimme bricht weg. Wir hüpfen uns wach und versuchen ganz still zu sein – wie schwer das ist! Ich will brüllen und kann nur krächzen, da wird es still. Beim Einschenken passiert mir eine sprudelnde Überschwemmung, wir lauschen, wie das Wasser vom Pult auf den Teppich tropft. Barfuß schleiche ich durch die Reihen und sammle alle Gesten der Klasse ein.
Als hättest du ihn bestellt in meiner Traumfabrik: Erst ein Kästchen mit Tuch, das sich beim genaueren Hinsehen als bewegte Geschichte entpuppt, Hologramm mit Eidechse, die ausbüxt. Später ein leeres Buch mit bläulich schimmernden Seiten, die sich in mehrere Bücher aufteilen und um die Wette rennen, wie Hase und Igel im raschelnden Papier.
Im Traum besuche ich eine vertikale Buchmesse, die Bücher lagern weit oben über den Ausstellungstischen, ein rostiges Fahrrad an Seilen dient als Aufzug, natürlich will ich das oberste Buch, dort wohnt der Mond. Ich pflücke einen Strauß hochgewachsener Stifte, die sich schon biegen, manche Farben gibt es nur in kurz.
Ich höre auf, höre draußen wen husten, dein Husten? Wie du. Hoffe kurz, du bist es schon, habe Bauchweh, hoffe dann, du hast Spaß, bestimmt sogar! Komisch ist das. Ich umarme dich, oder nicht, weil du riechst nach wem. Wie oft wirst du duschen, um wieder hier zu sein, mein, nein, warst du nie und wirst du je? Ich dein, Klotz am Bein, bei aller Liebe.
Die Lust in deinem Garten vergessen, du reichst sie mir durch ein Loch im Zaun, der Tag war ein Gedicht.
Im Traum spaziere ich zu einem Vortrag, Demian hat das selbe Ziel. Er zeigt auf sein Atelier am Waldrand, ein gefaltetes Glashaus, sieht spannend aus, da möchte ich mal hin! Nicht jetzt, sagt er, aber später. Wann fährt der letzte Bus? Um sechs Uhr früh, sagt er und lacht, er lädt mich ein für diese Nacht, was er gleich wieder vergisst. Wir kommen an, er wird umringt, ich sitze am Rand, der Vortrag beginnt. Eine Puppenmacherin erzählt das Konzept ihrer blauhaarigen Wesen. Ihr Sohn quatscht dazwischen, vernebelt den Raum, fragt nach Geld. Sie verstummt unter Tränen und sieht mich am Rand, mein rotes Leuchten wirkt aufmunternd, sie verwirft alles und setzt neu an: Der Puppenkopf, das weiche Gesicht, die Haare jetzt grün, der Körper biegsam wie der einer Tänzerin, wird lebendig mit dem letzten Stich, anschmiegsam, wie keine vor ihr.
Drei Tage lang Bücher gestreichelt und einmal auch dich.
»Das Buch leuchtet nicht im Dunkeln, wir waren extra im Schrank.«
»Bist du sauer auf das Buch?«
Im Traum warten wir im Gedränge auf den Bus, Lio will weg. Er rennt auf die vielspurige Straße, ich hinterher, rufe heiser Julia – wie tief das sitzt, Verantwortung ist mit dem Namen meiner Schwester verknüpft. Er verschwindet hinter einem Hügel, findet eine Dose mit Keksen, vergessenes Spielzeug, verlorene Mützen der Kinder, die wohl gerade jetzt in den letzten Bus überhaupt einsteigen. Ich versuche den Fahrplan zu entziffern, erkenne nichts, höre noch ein Gespräch mit und jemanden duschen im Haus, dann ist es dunkel und still. Wir zwei allein hier, allein auf der Welt.
Im Traum lasse ich mein Knie untersuchen, es ist blau und liegt im Hof auf einem fahrbaren Tisch. Alles in Ordnung, meint der Arzt, aber wie wärs mit einem Experiment mit KI? Er pikst blaue Dioden in meine Handfläche, es löst sich gleich eine von vier, ich halte sie fest. Der Arzt eilt voraus zur Kaserne, ich hinterher in zu großen Schuhen, stolpere und falle in eine Pfütze aufs Knie. Er dreht sich noch um und verschwindet hinter einer der vielen Türen. Wo muss ich hin? Im Opernsaal ganz hinten ein Büchertisch mit Lyrik und bunten Heften, ich helfe Andreas beim Aufbau, finde ihn viel zu versteckt. Ein Buffet soll helfen, es beginnt zwischen den Büchern und erstreckt sich über mehrere Höfe in Ballonbauten, wir schlagen uns die Schüsseln voll mit buntem Gemüse und Gebäck.
»Vergiss deine Rakete nicht.«
Wortschwallwesen fang mich auf bevor du aufspringst lässt mich sitzen im Echo meiner Suche verhallt im Rot dein Schal dimmt das Kuchenlicht. Das Schaf auf dem wir landen ganz weich beim Absturz des Luftfahrrads weil Fußkrampf beäugt von der Eule rettender Schatz. Erwarten wir Zeichen wir schenken uns nichts oder so spät schon wachgeklappert nebenan verrutschtes Gestern im Spiegelbild. Ungefragte Bilderschau bewundert bis über mich hinweg ein Fluss mäandert vorbei am Fenster das Boot schaukelt uns zum Mai.
Im Traum treffe ich Thomas an der Bushaltestelle, wir erkennen uns gleich – ich ihn an seinen rot gefärbten Borsten, er mich an meinem Mund. Wir schauen hin und weg, lachen schüchtern und steigen ein. Da ist auch Ulrike und die halbe Klasse, ich zeige ihr Lio, der hinter Milchglas auf seiner Oma turnt, sie zeigt mir zwei ihrer drei Kinder. Wie mein Tun erklären? Ein Buch aufschlagen, Zitrone darauf träufeln, Geheimschrift sichtbar bügeln, Petersilie darüber streuen, fertig.
»Bei meinem Mann ist das genauso.«
Das Wort weckt mich aus meinem Traum. Ich bin in Japan, wo ich gleich den Zug verpasse, weil sich mein Handy nicht mehr wischen lässt. Du bist schon weg mit Lio und den anderen, als ich morgens im Hotel ankomme. Ich hatte woanders übernachtet an einem Berg. Hat sich gelohnt, sage ich lächelnd und überzeugter als ich bin. Im Hotel stehen ultraschmale Bettgestelle aus Metall im Halbkreis auf Tribünenstufen, überall liegt Plastikspielzeug und verstreutes Gepäck, alle packen und müssen los. Auch ich suche meine zwei Rucksäcke und Taschen zusammen, habe bestimmt was verloren und vergessen, so leicht wie die sind. Ich kenne den Weg nicht. Wann fährt der Zug? Reicht es noch? Ich finde Demian in einem Zelt, er hilft mir wiederwillig, muss gleich zu einer Konferenz – na klar, wenn er schon mal in Japan ist. Sein Handy besteht nur aus weißen Tasten ohne Display, wie soll das funktionieren? Ich überlege, mir ein Taxi zum Bahnhof zu nehmen, doch wie weit reicht hier mein Geld? Im Zug, fünf Plätze weiter, sehe ich Rebecca sitzen, die auch nach Hause will, ich werde ihr folgen, hänge mich an sie dran. Wo müssen wir umsteigen? Die Uhrzeiten helfen, japanische Stationsnamen sagen uns nichts – nur der ÖBB-Bahnhof, Österreich, ja klar! Sind wir im Flugzeug oder auf einem Schiff? Ich gehe einen Korridor entlang, alles hängt voller grüner Federkostüme. Drei Japanerinnen helfen mir irgendwie weiter, zum Dank verbeuge ich mich tief, sie lachen mich aus. Zurück im Hauptdeck zwei aufgeregte Comedians kurz vor Auftritt, von Bordmusik übertönt, der Scheinwerfer ist kaputt. Mareike, verantwortlich für die Technik, regt sich schrecklich auf. Wir schnappen uns alle Lampen, die wir finden können und schaffen ein Leuchten für die Situation. Frau Olschowski in der ersten Reihe bekommt einen Cocktail und steht im Rampenlicht. Hübsch spaziert sind wir ja schon, sagt sie in die Kamera. Befragt zu Körpergröße und Politik spricht sie von 12 Talianova, ein anerkennendes Raunen geht durch den Raum. Ist das eine Einheit für den Talienumfang? Und was soll der in der Kulturpolitik?
Im Traum werde ich gestyled von einer schwatzenden Dame: Eine graue Brettfrisur klebt mir am Kopf vor lauter Haarspray. Bis zum Dreh vergehen Tage in einer Büroetage, komplett umgeräumt als provisorisches Hotel und für ein zu filmendes Handballspiel. Da soll ich mitspielen? Nur auf der Ersatzbank sitzen und krank in einem Bett, sagt Laura. Sie legt mir einen Mantel als Decke auf eine Pritsche und geht. Ich hole Lio ab. Mit ihm auf den Schultern erkunde ich das Gebäude, erklimme das gläserne Treppenhaus auf spiegelglatten Stufen. Meine Hand klammert sich ans Geländer, die andere hält ihn gerade so auf mir, dass er in den Kurven nicht runterkippt. Oben piepst und blinkt ein Elektronikgeschäft. An einer Theke nehmen wir uns einen halben roten Nachtisch, der wird in der Szene gebraucht. Im Aufzug fahren wir runter zur Büroetage, die wieder Büro ist, alle sind weg. Filmdreh verpasst?
Blablabler = Gabelstapler
Lalathek = Musik ausleihen
Im Traum bin ich eingeladen in einen Pod oder Pond: ein futuristischer weißer Pavillon mit Glaskuppel. Die Einladung ist ein gleißendes Buch von Hanna, das ich ganz fest halten will. In einer riesigen Fabrikhalle sammeln wir Geld für einen richtig guten Zweck, alle spenden reichlich, ich verwahre die Scheine, die über Nacht zu Spielgeld werden. Feindselige Blicke im Kreis, ich fliehe in die Fußgängerzone. Unter einem Glasdach steht einer, der seine Töchter auf Rollschuhen im Blick haben soll, stattdessen repariert er mein Ladegerät und küsst mich, ich lasse es geschehen, schließe die Augen und bin weg.
Im Traum webst du dein Skript für Maggie aus Bandnudeln, Schnittlauch und Papier. Wir radeln so nah nebeneinander, dass unsere Räder zu einem werden, ein schönes Kissen gerät zwischen meine Füße, du strampelst weiter für uns zwei. Ein alter Mann macht Akrobatik auf seinem Skateboard und strauchelt, als wir ihn überholen. Wir halten an einem frisch geputzten Feriencontainer mit weißem Teppich, fälschen dem Makler die Papiere und krümeln alles voll mit Moos aus unseren Haaren.
Im Traum ein Stau, dem ich zu Fuß folge. An jeder Ecke halte ich an, betrete Häuser, suche was, stelle Fragen, finde Drogen, verliere sie wieder. Schließlich endet der Stau in einer Sackgasse mit Bunkerhotel. Der Rezeptionist schickt mich nach unten, ich soll mir jedes zehnte Zimmer kurz anschauen, um zu sehen, wie verschieden sie sind. Ein Labyrinth farbiger Türen in allen Winkeln, kleine Guckfenster darin.
Im Traum sammelst du ein Salatblatt pro Mahlzeit ohne mich. Soll ich später einzeln abzeichnen, wenn sie vergammelt sind. Wir brauchen was Gemeinsames, doch ich bin in Berlin. Sarah hat eine Dose mit Kuchen dabei, mein Stück fällt auf die Straße, ich hebe es auf, puste es ab und beiße hinein, Sand zwischen Zähnen macht mir nichts, ich habe ein Kind. Eine Frau beobachtet mich amüsiert. Bunte Menschen wabern nach Mitte, die Straße, auf der wir gehen, wird zum Tunnel, am Mittelstreifen wird kampiert, auf Matten gelegen und onaniert. Wir finden ein Etablissement in einem Bunker, da stehen Schraubgläser voller brauner Pillen und Pilze, die mich interessieren. Auf dem Bett ganz in weiß liegt ein Zettel, Sechshundert Euro kostet der Trip. Wollen wir das? Im Boden steckt eine Sortiermaschine für Broschüren, Dokumente und Instrumente, die ich versehentlich schließe, sie bäumt sich auf und versinkt hinter einer Klappe. Die Betreuerin lallt, setzt immer wieder neu an mit ihren verhakten Sätzen. Hängenbleiben geht nicht, ich habe ein Kind.
Mein Kopf schaut dir zu, wie du uns dein Gartenbett zimmerst. Vorhin mit Familie daran vorbei spaziert. Nach Brombeerpfannkuchen jetzt Mittagsbaumel in der Hängematte, die Kunst des Reisens bei mir. Das Ende der Identität geht mir noch nach. Träume vom Vorlesen im Gartenhaus, das so nah ist, wir leben im Dorf.
Im Traum sitze ich im Flugzeug neben Sarah Kuttner und lande in Berlin über dem Wasser, ich drücke mir die Nase an der Scheibe platt. Das Flugzeug wird zum Bus, der fast ein Haus rammt, kunstvoll geschnitzte Holztür, dann Rückwärtsgang. Ich versuche den Traum aufzuschreiben, der Stift entgleitet meiner Hand. Es kam Post von dir mit schwarzen Punkten statt Köpfen auf Gruppenbildern, zu viele Briefe, um sie hier zu lesen, der Salon ist zu schön. Ein pinker Baum mit rosa Blüten über einem polierten Holztisch, an dem ich komme, bevor ich ihn auch nur berühre. Durch ein Fenster zum Raum nebenan sieht mich ein kleiner Mann, er umarmt seine Frau am Frühstückstisch, schenkt Tee nach und schreitet mit offenen Armen um eine Ecke zu mir, um mich herumzuführen in seinem Schloss. Eilig raffe ich meine Notizen, Schal und Mütze zusammen, will gehen, er hält mir die Tür auf, da steht Kathi mit rundem Bauch. Im Flur versperren Kinderwägen den Weg zum großen Saal, sie rollen los, verkeilen sich, die Babies wachen auf.
Im Traum ein Tripple-Date, wir sind schon da, auch der schöne neue Freund meiner Schwester, es fehlen noch sie und unsere Eltern, die woanders diskutieren und uns warten lassen. Wir bestellen schon mal im Auto mit beschlagenen Scheiben und gehen dann doch rein ins feine Restaurant. Als die anderen kommen, wird es zur Mensa und die Speisekarte vervielfacht sich, mein Bauch bläht sich auf. Wir ziehen weiter zu einer Party oder ist es ein Festival? Ein ganzes Dorf bereit zur Umarmung. Gegründet von einem weißhaarigen Girl, das sich mich aussucht für diesen schillernden Abend in ihrem Türmchen, als die Spiele beginnen: Alle suchen sich, im Knäuel der Massen, aalen sich ineinander, ich reite einen zotteligen Wickinger zum Champagnerhaus, das neben dem Weinhaus steht. Märchennacht in Bonbonfarben. Mein Prinz, das weiß ich, hat für jede seiner Frauen Becher aufgestellt, meiner ist der größte, fantasievoll verziert. Was das bedeutet, wissen nur die anderen, sie schauen mich tadelnd an, wälzen sich vor Neid in ihren Schminksachen und erzählen woran sie im Lustrausch denken, dass ihnen das nie passiert: Leere Handtaschen.
In der Kirche brennt Licht, die Tür ist verschlossen, von draußen höre ich die Orgel, setze mich auf eine kalte Bank, sehe ein Schiff im Sturm, eine Flucht, einen Stummfilm in Schwarzweiß. Ich will dir alles zeigen, was ich sehe, alles teilen mit dir, alles hören, was du denkst, das ist verrückt und einfach zu viel. Warum wählst du den Oktopus? Weil er orgeln kann, die Arme überall.
Es regnet Briefe, fünf von Hydra, fünf verteilt in der Wohnung, diese Installation hatte ich mir für dich vorgenommen, nun hast du sie für mich umgesetzt. Einfach leben, doppelt lieben, dreifach geliebt. Deine Briefe schreibst du mit meinem Stift auf mein Briefpapier. Hast kein eigenes, wieso auch? Wir sind eins. Sind wir nicht. Ein Wanken seit Tagen, wo wanken wir hin?
Im Traum besuche ich Naomi in ihrem Zimmer, da ist nur eins der drei Kinder, ich sehe es nicht. Sie ist überall im Raum und telefoniert im warmen Licht. Wände mit Resten alter Malereien, Boden und Bett bedeckt mit Büchern. Ich finde ein Buch mit allen Notizen über die Kinder: Die Zwillinge möchten getrennt werden und wurden in verschiedene Kitas gebracht. Soll ich es lesen oder Naomi alles fragen, wenn sie mal aufhört zu telefonieren? Eine Frau kommt rein und sucht was, ich stehe im Weg und erschöpft in der Tür. Draußen im Park findet Naomi lange Vorhänge für die Treppen ihrer Eingangshalle, die sie an übergroße Pistazienschalen hängt und mit Draht in den perfekten Faltenwurf zwingt.
Im Traum will Christian gerade los, als ein Gewitter aufzieht, Wind zerrt an Sarahs Zelt und weht uns in eine Hütte, wo wir festsitzen, die Welt vor dem Fenster verschwindet im Sturm. Julia kauft alle Bilderbücher im Kiosk und zeigt sie Lio oben auf der Rutsche, wo sie jeden sieht. Ein Typ zeigt ihr seine Zahnspange mit Bändern, er hatte einen Unfall, sie nickt irritiert. Im Klassenfoto sitze ich eine Stuhlreihe vor dem kleinen Fabian, der nicht wissen kann, dass der Brief von mir war, er schmachtet eine andere an. Ich gehe zu ihm und lade ihn ein. Er schaut mich nicht an, sagt aber ja.
Im Traum besteigen wir ein Flugzeug aus Beton, mittig ist eine Sollbruchstelle eingebaut, ein leerer Raum aus Holz. Dahinter fehlen die Nummern von zig Sitzen. Wieder am Boden holen wir uns Tassen mit heißer Chili-Milch, die wir schlürfen. Frau Pavlik-Huber wird schon beim Anblick rot wie das Getränk, ihr Rock kratzt und ihre Jacke aus Filz. Wir erzählen vom Haus im Garten, du begeistert, ich resigniert. Man lässt es uns nicht lieben.
Im Traum sind wir in der Schweiz, wo das Einchecken in Züge so ganz anders funktioniert als hier. Überall laufen Schaffner herum und fragen uns, ob wir das schon einmal gemacht haben. Nein? Aha. Nur wie es geht, verraten sie uns nicht. Das erklärt uns eine Exilschweizerin mit hübschem Schal, die uns die Stadt zeigt und einen Zug nach dem anderen verpassen lässt.
Ankunft in einem Hotel aus braunen Kellerabteilen. Der Hotelier schiebt uns die Wände der Zimmer zurecht und lacht. Erinnert sich daran, wie absurd oft ich angerufen habe, um alles abzuklären für unseren Besuch aus China: Ein Fabrikant von Schuhen, die ich bewundere. Aber nur für Kinderfüße, behauptet er. Warum passen sie mir dann? Mein Schrank ist voll davon! Er ist verwirrt und stammelt, vielleicht werden sie für Europa auch in groß hergestellt?
Traumarchitekturen gesammelt in den Konsumtempeln von gestern.
Im Traum bewohnen wir ein Haus am schwarzen, dickflüssigen Meer. Wir falten uns ein Riesenplakat zum Boot, das schneller wegschwimmt, als ich den Strand aufräumen und loslassen kann.
Im Traum eine Party, das Leben in einer WG, von der ich schon 2011 gehört hatte. Nur gute Laune und Lust die ganze Zeit! Und Zwangsneurosen, man kennt sich. Sie zeigen mir das Bad, das ich kaum sehe vor lauter Büchern im Studierzimmer aus dunklem Holz, in dem alle ein eigenes Schreibtischchen haben. Im Bad steht eine Reihe englischer Waschmaschinen aus buntem Plastik (sehen aus wie Boxen zum Transport von Hunden oder anderen Haustieren), die am besten funktionieren, wenn die Wäsche drei Tage darin liegen bleibt und dann muffig ganz eng auf Stangen gewickelt wird. Versehentlich wird Glitzer durch den Raum auf die Kunst und alles geföhnt. Demian huscht durch die Räume und verschwindet wieder, so mache ich es auch. Am Telefon will ich Sarah alles erzählen, doch es klingelt und jemand kommt im Halbdunkel auf Knien herein, vielleicht Laurenz, er schmiegt sich an mich und ich mich an ihn, was ihn überrascht. Wir legen uns auf die Sofalandschaft im Wintergarten mit Blick auf ein schiefes Haus am Hang. Ich zeige ihm alles: Die Pools mit den schönen Frauen in absichtlich verrutschten Bikinis, das Buffet unter der Glaskuppel und die schummrige Bar, wo alle so tun, als würden sie mich kennen, als gehörten wir selbstverständlich dazu.
… während Jakob von schwebenden Steinen aus Kratern, abstürzenden Flugzeugen und Experimentiercamps von Aliens träumt. Medienunterhaltung zur Verdummung der Untersuchungsobjekte und Rebellion durch Vorspielen falscher Traditionen und Fälschung von Stuhlproben mit Zigarettenstummeln und frischem Obst.
Ich habe ein Loch in der Zeit entdeckt: Eine Verbindung durch das große Vergessen in jenen Winter, in dem wir tanzten und uns kurz küssten. Zu kurz! Tanzen wir weiter?
»Ich werde Ihnen eine Bestätigung der Eskalation senden.«
Marion schenkt uns einen Beutel voller perfekter Äpfel, darauf steht: Heartbreakhotel.
Man macht das Bett, kämmt sich und tut so, als wäre alles in Ordnung. Ist es nicht, nach so einer Nacht. Jetzt in der Zacke, die Sonne erklimmt die Ränder des Kessels und leuchtet. Wie schön ist eigentlich diese Stadt von oben!
Auf der Bühne im Literaturhaus steht Corinna, verkleidet als Geschäftsmann, sie lästert gekonnt, wie ihr lang und breit erzählt wurde, was mir alles passiert. Pointe: Interessiert keinen. Um sie herum installieren zerzauste Studentinnen eine Wand als analoge Dropbox: leere Flaschenkisten, die das Publikum im Laufe des Abends füllen soll.
4:13 Uhr, dem Traum verpflichtet, den mir Lios unaufhörliches Weinen freilegt. Im Traum wohnt Marion nur zwei Häuser von unserem entfernt im Paradies mit warmen Pools unter Palmen, Buffets und Obst überall. Lio wird uns dort schreiend abgeliefert, er hört nicht mehr auf. Marion hatte gerade angefangen, sich uns anzunähern, ich zögere noch, dann quengelt Maila und wir kochen doch, Meeresfrüchte oder so. Beim Spaziergang durchs Dorf höre ich zwei Passantinnen über die 4D-Oper sprechen, mir wird schon vom Teaser schlecht: Ungefragt werde ich in immer noch unfassbarere Höhen katapultiert und wieder fallengelassen, und schnell wieder hoch, ich sehe über die Berge die Alpen, und wieder freier Fall, mein Bauch rebelliert. Zurück im Paradies wate ich durch einen Teich, der immer tiefer wird, ich trage eine geborgte Hose aus Leder, die trocken bleibt und am Tisch von so Outdoortypen bewundert wird. Wäre sie meine, würde ich sie den ganzen Urlaub tragen. Auf dem Tisch stehen Heidelbeeren, mit denen wir uns bewerfen, zur spontanen Wiederaufführung unserer Baum-Installation. Lio weint noch immer, wir können nicht mehr. Jakob gibt auf und geht mit ihm raus.
Und die Sonne streichelt mein Gesicht, der Wind die Haare.
»Die dürfen das einfach so bei jedem!«
Ich soll nicht mehr schlafen
Wie ich immer schlief
Eingekringelt zum Kind
Schlaflos gebettet in Kissen
Erwarte ich dich
Auf der Besucherterrasse
Erzähle dem Kind Flugzeuge
Bis du strandest
Um viertel nach elf
Wo ich schon träumte
Empfangen zu werden
Pommes ruft das Kind
Unser Lachen knistert
Goldene Möwe kurz vor Orient
Wo ich schlafen will
Wie ich noch nie schlief.
Ungelenker Augenflirt mit Maske, schöne Augen. Darf ich mal sehen, wie dein Mund aussieht? Was für ein Beruf! Soll so wehtun, oder? Und so gut! Du schließt die Augen und atmest, ich dann auch. Vielleicht lasse ich beim nächsten Besuch Contessas Herzaufkleber mit Pfeil auf der Liege zurück.
Das Herz kam mit dem ersten Liebesbrief vor 31 Tagen. Jetzt etwas ramponiert, von unserem kleinen Amor, der es überall hinklebt und dann in ein Buch, aus dem es einer Freundin in den Schoß fällt und sie zur Geliebten macht. Das Herz darf wandern, von einem zum andern, und wieder zurück an mich! Und an den, der es fand und mir schickte.
Kann es in echt so gut sein wie in Gedanken?
Briefchen voll Mut, die wir uns unter der Decke schreiben. Lieber Briefchen zustecken, als der Gegenwart trauen, die nicht geschrieben ist. All die Sätze aus unserem Telefonat – alles weg, bis auf dein Ächzen, wenn du dich vom Stuhl erhebst, und deshalb nicht hörst, wie ich sage: Wie gut, dass ich mit meinem Protagonisten telefonieren kann.
Schau mich nicht so an.
– Aber er ist gefährlich.
Kann gut sein.
– Geh nur, wenn er dir gut tut.
Ich öffne etwas in den Menschen.
– Und was machst du damit?
Mich verstecken.
– Betschwester nennt er dich.
Und dann wieder so was!
– Warum tut er das?
Frag Hera. Oder die Dämonen.
– Daher deine Angst.
Habe ich sie gesehen?
– Gespürt.
Alles sagen bricht den Bann!
– Und die Liebe?
Erstickt mit deinem Blick.
– Schade eigentlich.
Weil du alles mitliest.
– Darum schaue ich so.
Schau nicht so.
– Du solltest mal schlafen.
Bis der Winter vorbei ist.
– So lange!
Fängt erst in vier Tagen an.
– Ausgerechnet.
Nicht gerechnet.
– Sonst hättest du später gebucht.
Kann noch stornieren.
– Willst du?
Nein.
– Warum nicht?
Croissants.
– So einfach geht das?
Und Geburtstagsgeschenk!
– Wieder keins von mir.
Macht nichts.
– Doch.
Nicht so schauen!
– Sei bitte vorsichtig.
Immer.
– Naja.
Fast immer.
– Danke für dich.
Ach du.
– Ach wir!
Wir Großartigen!
– Soll er mal so sehen.
Danke für dich.
Die gelben Tomaten aus meinem Traum stehen noch da. Soll ich?
Wenn ich nicht die bin
die du dachtest zu kennen
wenn ich nicht ich bin
durch dich
wenn ich ich bin
nur anders für dich
und du gehst jetzt
liebst du nicht mich.
Wenn du nicht bist
den ich dachte
nie kennen zu können
wenn du nicht du bist
durch mich
wenn du du bist
nur anders für mich
und ich bleib jetzt
liebe ich dann dich?
Lio: Kleine Leben.
Große Leben.
Viele Leben!
Lio: Mehr Leben!
Wo bist du Leben?
Kein Leben.
Inszenierung: Gleichzeitiges Ankommen zweier gegenüberliegender Bahnen, freudiges Parallellaufen am Bahnsteig, schnell die Treppe hinauf, meinen Arm bei dir eingehakt, dir die Kurzversion meiner neusten Lebendigkeit erzählt, während du mich wegkundig und gerade noch rechtzeitig zum zweiten Rang führst.
Ich bringe mal eben ein Kind zur Welt und laufe anschließend allein durchs Krankenhaus, in dem keine anderen Türen, Menschen oder Personal zu finden sind, nur lange Gänge mit Fenstern und grüne Pflanzen überall. Ich will etwas zu essen für uns auftreiben, gehe über braune Felder Richtung Dorf, auf halber Strecke kehre ich um. Ich weiß, ich sollte liegen, das Blut tropft in Stücken aus mir heraus, ich stoppe es mit Tüchern in Petras Bad, das auch Schlafzimmer und Küche ist. Auf dem Tisch steht ein riesiger Topf mit festgewordenem Brei.
Raus mit deiner Lust, in alle Richtungen! Schreib deiner Frau. Schreib die Postkarten. Sei mir bloß nicht treu. Mehr aus den guten Zeiten, und wieder rein, lieber Jean.
Eine Kutsche mit Bett, in dem ich mit Clara und Hanna liege, sie hält in eurer Wohnung, lachend hilfst du Iris hinauf auf unsere Deckenburg, um dich dann noch rasch stilvoll an die Bar zu setzen, an der du eingesammelt werden willst. Dann sitzen wir alle fröhlich in eurem Bad herum, das dunkel gefliest ist, vielleicht grün und orange, wie in Omas Haus aus den Siebzigern. Bis etwas bei mir nicht stimmt. Ich frage, ob ich kurz allein sein und nachschauen darf, ihr geht raus. Zu meinen Füßen liegt ein Haufen Schleim, sieht aus wie eine dicke Qualle, dazu glibberige Teile eines Skeletts, dehnbare Spiralen. Du kommst zurück, um nach mir zu sehen. Tapfer sammelst du alles ein und findest eure alten Backförmchen darin, die du eh nie mochtest, die aus Leinen (oder Frottee?) mit blauen Bordüren magst du lieber. Funktionieren die denn? Aber ja, sagst du, werden gleich bestellt.
Anfang Dezember habe ich grüne Minitomaten aus dem Hochbeet an unserer Loggia geerntet, eine Schüssel voll, und sie seither mit einem Apfel in ihrer Mitte nachreifen lassen, jetzt sind sie gelb. Im Traum schaue ich gedankenverloren aus dem Fenster und snacke nebenbei diese Tomaten, nachdem die halbe Schüssel leer ist ist, fällt mir ein, dass sie giftig sind.
Lio und ich sind auf seinem kleinen Holzroller unterwegs im großen Verkehr. Wir rasen durch Tunnel, Autoaufzüge, eine Schotterpiste hinab und schließlich durch einen Fluss, in dem wir fast nicht nass werden in unseren Matschhosen. Am Ende des Parcours erwartet uns Kathi, um unser Wochenende in den Bergen abzusagen – sie fühlt sich krank und Vroni ist zu beschäftigt mit ihrer Website als Mama.
Wir planen ein Literaturfest in einer Art Freilichtmuseum, eine Schleuse hinter Maschendraht führt in eine andere Zeit, ein knarzendes Haus ganz für meine Textinstallation. Wochenlang vorbereitet, am Ende gekürzt auf eine Schatulle mit Postkarten, von Lio bekrakelt, und Briefen von dir. Damit sitze ich auf dem uralten Bett, als die ersten Gäste eintreffen: Der tapsige Nachbarsjunge, den ich freundlich auf Knien begrüße, meine Mama mit ihrem fragenden Blick, und du, mit blondierten Haarspitzen. Du setzt dich aufs Bett, ich kann nicht mehr denken, mein Gesicht hinter dem Vorhang meiner Haare verborgen suche ich heimlich deine Hand. Jemand schiebt mir noch kurz die Verantwortung für die Suppe unters Bett, ich müsse sie ja nur anschalten. Dort brodelt sie also vor sich hin, bis sie explodiert und von der Decke auf mein Bett tropft als orangene Tupfen. Das wars mit Texten in weißer Bettwäsche, auch die Ersatzdecke liegt halb im Topf.
Ich traue mir so wenig wie dir. Dabei schreibst du mir die Angst weg mit deiner Orangenmarmelade um den Mund.
Leichtes Mädchen, läufst davon, bergauf auf Pfaden deiner Kindheit, vorbei am Schlittenhügel, ohne Schnee, Nebel über den Wiesen, durch den Wald über den verwurzelten Weg, bei dem Papa für uns Prinzessinnen immer von Kutschen sprach, zum Lieblingsplatz: Die Bank mit Blick ins Donautal.
Können wir nicht auf E-Mails umsteigen? Diese postalischen Wartezeiten sind ja kaum auszuhalten in der heutigen Zeit. Der Briefkasten freut sich indessen über seine Verzauberung. Schlaflos lese ich wieder deinen Brief und krieche in deinen Traum.
Als Genre: Sehr offen sein, eins werden mit dem Text, noch näher ran als im Gedankenspiel des Essays.
Der Wille, das eigene Selbst auszudehnen, um das eigene spirituelle Wachstum oder das eines anderen Menschen zu nähren.
Liebe ist, was Liebe tut.
Eine Kombination aus Fürsorge, Zuneigung, Anerkennung, Respekt, Hingabe und Vertrauen.
Bell Hooks: Alles über Liebe
›Wir‹ bleibt beweglich,
ein Traum mit Schloss,
eine Heimat auf Zeit.
Der Luxus eines vollen Terminkalenders, um den du mich beneidest. Mal tauschen für einen Tag?
Ich frage nach meiner Schulter und bekomme eine Diagnose für meine ganze Generation, die sich (laut Orthopädin) Visionen bastelt und, wenn sich was nicht erfüllt: heult. Statt mir die Röntgenbilder meiner krummgesessenen Knochen zu erklären, schrumpft sie mich mit der Standpauke einer Sportlehrerin zur wütenden Zehnjährigen: Sie sind nicht mehr jung, kaufen Sie sich ein Rudergerät! Zum Abschied eine Umarmung (Hä?) und ein Zettel: 1 km Rudern, 10.000 Schritte, 1 h Radfahren. Aber wohin?
Du umarmst wie ein Brett und tanzt wie ein Soldat, deine Sprache will leicht sein, doch dann wieder: Sokrates.
In deiner Handschrift lese ich Freunde, wo du Fremde schreibst.
Ich
Mein
Hupaupa = Hubschrauber
Hatsi = Taxi
Miin = Kamin
Blumblum = Luftballon
Wie gut man die Welt sortieren kann.
Erzieherin stellt fest:
Pablo liebt Maila, Maila liebt Lio und Lio liebt die Autos.
Wir haben den Tatortkommissar gesehen und ein paar Leute, die als Passanten verkleidet waren.
Ein Changieren zwischen dem Gefühl, dass ihr alles zusteht und dem Zweifel, es nicht verdient zu haben.
Wie sehr die Welt der Familie bestimmend und doch rätselhaft bleibt.
Der Kalender sagt mir, dass dein Kind morgen erwachsen ist und nächste Woche auswandert für ein Jahr. Während ich weine, weil mein Kind nachts weint ohne mich und ich nächste Woche keine stillende Mutter mehr bin.
Kopf: Genug.
Bauch: Schon?
Brust: Aua.
Zur Ablenkung: Zwetschgen sammeln und Kuchen backen. Kommst du mal vorbei?
Wenn ich an dich denke, habe ich eine Begegnung im Kopf, warme Sommernacht in der Stadt und du sprühst und leuchtest und verkündest mit funkelnden Augen: Das ist mein Sommer! Das hat mich so beeindruckt, dass ich seither meinen Sommer erwarte. Vielleicht war der aber auch schon 2011, als alles begann – mein Glück, das ich vor lauter Gleichzeitigkeit zu oft übersehe. Danke, dass du mir deinen Blick darauf schenkst.
Als Gastgeschenk für die Familie meiner Braut trage ich vier Eier in den Händen, in verschiedenen Größen und Formen, winzig, kugelrund, fast plattgedrückt, eines davon ist roh. Mit kahlgeschorenem Kopf und wehender Perücke eile ich die Treppe zur Straße hinab und weiter in den Untergrund zur Bahn, die ich nicht finde, stattdessen einen Kraftraum voller Geräte. Wieder oben erwartet mich eine Rikscha im Federkleid mit buntbemaltem Faun, den ich immer nur von hinten sehe. Ich steige ein für eine Irrfahrt durch New York mit flüsternden Fragen, seine Buntheit färbt ab und mich ein. Wir geraten in eine Parade durch die teuerste Straße in einen Saal, eine Wendeltreppe führt zur Dachterrasse mit nächtlichem Garten, Andreas ist da und alle sind so bunt wie ich.
Man bekommt ein unbeschriebenes Blatt geschenkt und lässt das Blatt sich selbst beschreiben. Das Blatt nennt sich Meo. Um dem Amt zu beweisen, dass der Zweitname Thoje tatsächlich existiert, komponieren Thorsten und Jenny kurzerhand einem wahrscheinlich norwegischen Musiker ein Notenblatt – überzeugt.
Seit vier Jahren sind Vater und Sohn im Wohnmobil unterwegs, 66.000 Kilometer, davon 55.000 in Deutschland, immer abwechselnd entscheiden sie, wohin: Links, rechts, wieder links, da sieht es schön aus, Meo dirigiert sie zielsicher zum schönsten Stellplatz an der Lorelei.
Und Jenny? Superöko, acht Jahre vegan, Lotusgeburt, lange gestillt, dann über Nacht nicht mehr, wie Meo auch über Nacht aufgehört hat, Zucker zu essen und YouTube-Videos zu schauen, will er nicht mehr. Was ist passiert, will ich fragen, Halbwaisenrente hat er erwähnt. Später frage ich – Krebs in der Brust und schon überall.
Der Wohnmobilstellplatz ist belegt, doch sie haben ein Zelt – als Corona kam, für den Ernstfall gekauft, ein großes Tipi in Beige, von Meo ausgesucht. Zum Sonnenuntergang setze ich mich als Gartenzwerg in den Vorgarten, dort grast Meos imaginäre Kuh, die bei ihm ist, seit sie im aufgeräumten Haus der Großeltern mit Spielzeugverbot kistenweise imaginäre Spielsachen ausgekippt haben.
– Meo: Papa, wir brauchen noch meine Schlafsachen!
– Thorsten: Hab ich natürlich alles dabei, mein Sohn, ich bin doch Eventmanager.
– Gartenzwerg: Meo, dein ganzes Leben ist ein Event.
Mama
Papa
Eis (Eis, heiß, hell)
Na na (nein nein)
Oa (Ohr)
Sieße (Füße)
Lille (Brille)
Blom (Blume)
Lala (Musik)
Loller (Roller)
Brumm (Auto)
Nanena (Anhänger)
Bumm
=
Fallen
Runter
Kaputt
Öffnen
Schließen
Ausziehen
Mem
=
Essen
Trinken
Mehr
Krakn/Krako
=
Traktor
Bagger
Kran
Laster
Garten
Gurke
Karotte
Dadaa
=
Wasser
Walter
Tüta
=
Polizei
Feuerwehr
Krankenwagen
Müllabfuhr
Fahrzeuge mit blinkenden Lichtern
Das Kind saugt an mir am Rande dieser Party der Bücher dann geht es spielen und da steht er du bist doch, ja sagt er und ich lese in ihm offen fürs Wasser steht da und beim Streicheln verschwimmen die Seiten auf seinen glatten Rücken gedruckt oder tätowiert so scharf die Buchstaben verschwommen die Seiten durchsichtig übereinander schwimmend ich lese und streichle und er streichelt mich mit seinem Blick liest in mir das Kind schaut rein alles gut wir lesen nur ineinander fließen umeinander du bist also, ja sagt er und küsst meine Schultern und Arme er ist überall als wäre er Wasser wie schön leuchtet dieses Lesen und Baden in ihm ich will mitschreiben und halte fest was sich nicht festhalten lässt es fließt wir schweben im flüssigen Text der durchsichtig wird die Buchseiten auf seinem Rücken so schön so liegen wir da wissend dass ja und schon treiben wir auseinander ganz langsam bleib doch noch, ja aber nur als Buch das ich hier schreibe so liege ich im Wasser das mich umschmeichelt und wärmt wie die Decke an diesem Sommermorgen der mir Seiten schenkt flüssige Seiten die durchsichtig werden im Wasser flüssiges Buch die Buchstaben und Seiten verflüssigen geht das?
»Wenn etwas nicht gelingt, genügt es, daß man in ein anderes Zimmer geht.«
Wilhelm Genazino
»Die Wahrheit ist ein Schmetterling, sie landet einmal hier und einmal dort. Du jagst sie mit einem Netz, und wenn du sie fängst, bist du glücklich. Aber sie lebt nicht lange. Die Wahrheit ist ein zartes Ding.«
»Busbecqs Ansicht nach gab es im Leben zwei segensreiche Dinge – Bücher und Freunde –, deren Anzahl in umgekehrtem Verhältnis zueinander stehen sollte: viele Bücher, aber nur eine Handvoll Freunde.«
»Für alle Schüler dieser Welt – niemand hat uns gesagt, dass die Liebe die am schwersten zu erlernende Kunst ist.«
Elif Shafak: Der Architekt des Sultans
Im Traum entwickelt Simon ein Buch, bei dem jede Seite einzeln mit einem farbigen Kantenschutz beklebt werden muss, daraus wird ein Klassenprojekt am Fluss. Alle sind begeistert, vor allem Brian. Später probiere ich bunte Kreolen aus Glas von Mama und Oma, die ich trotz fehlender Ohrlöcher durchprobiere. Verfolgt von den Augen des Nachbarn schreite ich durchs gläserne Treppenhaus. Er soll mich sehen, auch wenn ich erst in zwei Tagen wieder da bin.
Im Garten plötzlich alles voller roter Beeren, Ketten aus Johannis, Tupfen aus Him. Dein kleiner Mund rot verschmiert, wie auch die Finger, die zupfen und füttern. Ein Sommerfest!
Ein Bistrotisch in der Landschaft, darauf eine rosa glänzende Handtasche mit Haifischzähnen als Reißverschluss. Ich greife hinein und angle mir ein Zitat von Soldaten, das sich abfällig gegen blutige Marinetage = Menstruation äußert. Feministische Skulptur im öffentlichen Raum, an der ich jahrelang achtlos vorbeiging. Ich frage Nelly Sachs: How long does it take to become a woman? A happy woman, I want to be happy. Sie antwortet mit kleinen Augen und silbernem Haar.
Traum von Lio und seinen Brüdern, die auch er sein könnten in verschiedenen Altern. Von der Galerie blicke ich auf eine Halle voller Sand, wo zwei Männer sich mal eben tot stellen; bis du da bist, ist die Szene vorbei. Die Kinder rennen auf uns zu, nur unseres sehe ich nicht. Clara sitzt auf gepackten Koffern und begleitet uns ein letztes Mal zum Strand, der schon fast weg ist, die Flut steigt und klettert die Treppen zum Schloss hinauf. Mein Schlüsselbund fällt ins Wasser, ich fische nach ihm und halte ihn noch fester als sonst. Wir umarmen Clara, bis Mahmoud sie abholt in seinem Jeep. Ich schließe die Tür, unter der schon Wasser nach innen dringt. Im Bett glimmt ein Lagerfeuer, das ich zudecken möchte, um es zu ersticken, ich traue mich nicht.
Das Schiff legt gleich an, wir sitzen an Deck, angelegt als künstliche Insel im schwankenden See, durch den nur ein halb überfluteter Steg ohne Geländer zum Ausgang führt. Neben mir schreibt Andrea in aller Ruhe ihr Notizbuch voll. Eilig packe ich Büroinventar und Küchenutensilien ein, meine Möbel müssen wohl dableiben. Ich schaue zurück und sehe das Kind im Wohnmobil. Ich brauche Hilfe beim Tragen, wo sind alle hin? Der schwimmende Christian hatte mich davor gewarnt, so viele Dinge hierher zu schaffen, jetzt fehlt auch er.
fc. ich cggggc buch. c c gc. ü p. p p p öä pö ö ü
Du schickst mir einen lilablauen Drachen als Antwort zu meiner Vorfreude auf kurz gemütlich. Entweder hast du minutenlang nach ihm gesucht oder ihn schon öfter verschickt. Sein blauer Schweif schlägt fröhliche Wellen im Wind. Eine dünne Schnur hält ihn fest, sogar doppelt. Dennoch: Ein bisschen Freiheit zwischen zwölf und zwei.
»… selbst stören mich die Einschlüsse nicht, eher die Fläche, die schnell markiert und irgendwie wie weg von den Händen flieht.«
Im Traum sind wir Vertraute, eigentlich. Bis sich beim Aufstieg zu deinen Gemächern die Treppen so zusammenschieben, dass mir nur der Aufzug zur Flucht nach unten bleibt. Draußen fällt mir ein Schraubglas aus der Hand, es kullert bergab und zerspringt auf einem Gitter aus Metall. Rote Flüssigkeit tritt aus und gerinnt zu zwei Klumpen, die sich in unterschiedliche Richtungen davonmachen.
Im Traum verlieren wir uns fast. Wir stecken fest in einem milchigen Nebel, in dem ich mich versehentlich anderweitig verliebe. Der Neue singt von mir als einer Frau, die ich nicht kenne. Erst als du auftauchst, wird mir klar: Mit dir teile ich nicht nur Ring, Kind und Zuhause, auch Jahre gemeinsamer Träume, die ich nicht loslassen will. Wer bin ich ohne sie? Wer sind wir ohne einander? Wir weinen und halten uns an der Hand, drücken sie immer wieder, zweimal – unser Zeichen.
»Es ist fast unmöglich, einen Tag nach einer solchen Nacht zu bestehen. Es ist, als gäbe es doch nichts anderes als das. Alles andere ist Ersatz. Wenn das so ist, war dieses Leben nicht viel wert.«
Martin Walser/ Cornelia Schleime: Das Traumbuch – Postkarten aus dem Schlaf
Im Traum versucht sich Clemens auf dem Weihnachtsmarkt mit eigenem Stand, er verkauft Bier, weiße Schaummäuse und ranzige Pommes in salzig und süß. Lisa probiert das süße Körbchen für 6 Euro und ahnt schon, dass es widerlich schmeckt. Doch die Werbung funktioniert: Sein Porträt auf gelblichem Knitterpapier zieht Leute an und Clemens macht das Geschäft seines Lebens. Noch viel wichtiger: Die Arbeit macht ihm Spaß!
Carla kreiert ein Kostüm, das sie zum Becher hochstülpen kann.
Geträumt von einem Familientreffen unter blühenden Bäumen. Die Omas und Opas sitzen schon lange da, als wir verspätet ankommen. Ich klettere in die Bäume zu einer Party meiner Schulklasse und schicke die falschen Bilder in die Gruppe, sie lassen sich nicht mehr löschen. Die Jungs saugen an ihren Zigaretten, um endlich keine Bubis mehr zu sein. Ein Gänsemarsch durch verrauchte Gänge, als sich Thomas P. von hinten an mich schmiegt und in sein Atelier schiebt. Er wirft Teller mit Goldrand zu Scherben. Dann zündet er ein Stöckchen an, schiebt es sich zwischen die Zähne und bläst mir den Rauch in den Mund. Ich schließe die Augen, fahre Achterbahn durch schwarzweiße Muster und will unbedingt wach bleiben in diesem wunderbaren Rausch.
Paarfindung im Sechzigerjahre-Sommerferienlager, bis nur noch einer übrig ist: Der Dicke mit den reichen Eltern. Am letzten Tag geleitet mich mein Partner zur Anlegestelle am Fluss. Ich bin adrett gekleidet, das schulterlange Haar brav frisiert und mit einer Spange zusammengehalten. Er reicht mir seinen Arm, und schreitet mit schnellem Schritt durch den sonnenwarmen Nachmittag. Er fragt nervös, was die Eltern wohl zu unserer Liaison sagen werden – doch soweit kommt es gar nicht. Als die Fähre anlegt, wird ihm ein Wisch gereicht, der uns das Betreten versagt. Der Dicke lacht fies, doch damit kommt er nicht durch, ich zische Gemeinheiten, bis er weint. Die Fähre legt trotzdem ohne uns ab, die Eltern lassen sich nicht blicken und uns einfach da.
In der Küche bläst sich die Spülmaschine auf wie ein ausgebeultes Kissen, sie gluckert und poltert. Wir schließen die Tür, da hören wir einen Knall – das Rohr ist geplatzt. Die Tapete ist jetzt grau gesprenkelt und die Wand voll mit Wasser. Das Wohnzimmer ist geschrumpft, auch die anderen Räume werden immer enger. Anfangs finden wir das noch gemütlich, dann fühlen wir uns bedrängt von wachsenden Pflanzen und Polstern. Wir nehmen unsere Decken und ziehen ins Gartenhaus. Kann es sein, dass der Berg näher rückt? Bald ist das Fenster ganz verdeckt und die Tür geht nicht mehr auf.
Im Traum verkaufst du unser Bauernhaus mitten im Nirgendwo an eine russische Großfamilie, sie lärmt begeistert durch die Räume. Erst als der Notar schon weg ist, fällt mir wieder ein, dass wir nur dann verkaufen, wenn wir das kleine Schlösschen dahinter wirklich bekommen. Wie konnten wir diese Klausel nur vergessen! Ich mache dir Vorwürfe im Gewächshaus, bis ich merke, dass ich träume. Lachend zeige ich dir die lustigen Details des Traums und ziehe dich zum Schloss. Du verschwindest in einem der drei versteckten Eingänge – nur in welchem? Im ersten Gang schwirren Hornissen, sie stechen mir einen Plan aufs Bein. Dieser führt mich durchs Gebäude in Karins Jugendzimmer, Anna ist auch da. Nur wo bist du? Draußen schreit unser Kind, das von der russischen Familie schwungvoll übers Gras gezogen wird, obwohl es doch einfach nur schlafen will.
Ich erwache im Garten eines Hotels vom Frühstücksgeklapper der wachen Gäste. Ich sehe Marion beim Yoga und will zurück in den Schlaf. Warum bloß haben wir uns kein Zimmer genommen? Ich stolpere über unsere Koffer und über dich in deinem Schlafsack, hinein in eine prunkvolle Halle und weiter durch wellige Gänge mit rotem Teppich und gelbgeblümten Tapeten. Ich falle hin, stehe mühsam wieder auf und schleppe mich zur Rezeption, wo ich erkläre, dass ich nun doch ein Zimmer will. Der junge Direktor freut sich, dass die Rechnung dann aufgeht. In meinen Taschen suche ich nach Geld und finde nur deine paar Münzen, es reicht gerade so. Ich bekomme einen schweren Schlüssel, aber keine Erklärung, wo das Zimmer dazu liegt. Es gibt vier Türme mit Wendeltreppen zu unzähligen Türen, mir wird schwindlig, ich sinke auf die weichen Stufen und schlafe weiter.
Im Traum erzählt ein alter Mann sein Leben, in dem er schon als Kind verloren ging. Jahrelang suchte er nach seinen Wurzeln und fand Brüder, die nun tattrig neben ihm am Tisch sitzen. Ich lausche gebannt und will mitschreiben. Nicht nötig, sagt einer der Brüder und zeigt auf das Kartenspiel vor uns, das jede Etappe dieser Suche dokumentiert. Ich fotografiere den Spielplan ab.
Später liege ich in einem flachen See mit weißem Sand, der das Wasser milchig macht. Von weit weg höre ich Gelächter und Stimmen, die mich meinen. Ein Mann in roter Badehose schwimmt mir nach, ich tauche ab und umkreise schwarzes Totholz, umgefallene Bäume, die ihre Äste und Wurzeln wie Skulpturen in den nebelweißen Himmel strecken.
Wir sind zu Gast in der Wohnung von Jochen, der doch Angst vor Gästen hat. Er ist unterwegs, daher gehts vielleicht. Du lässt mich träumen und kochst derweil für weitere Gäste, die ich noch ankündigen muss. Ich telefoniere im Garten mit meinen Eltern, die spontan vorbeischauen wollen, als Constantin und Iris mit Kindern über die Hecke winken. Es fehlen noch Zutaten, also nehme ich ein Taxi zum Markt. Durchs Autofenster zeigen drei zerzauste Jungs auf die Holzkröte in meiner Hand, sie haben den Stab dazu. Ich steige aus und sie ein, der Kleinste sitzt am Steuer und fährt los. Meine Handtasche ist noch im Wagen, ich renne schreiend hinterher. Nach und nach werfen sie meine Sachen auf die Straße, Geldbeutel, Schlüssel, Handy, das beim Aufprall zersplittert, zuletzt die leere Tasche. An einer Brücke lehnt eine Tüte mit Gewürzen, daneben große Quader aus Brot ohne Rinde. Ein Mann lacht mich an, singt Rezepte und wuchtet die Zutaten auf seinen Anhänger. Seine runde Frau sitzt bis zum Bauch in einem Berg aus gekochtem Reis, den sie in Schüsseln füllt und verkauft, nebenbei fragt sie ihn ab für seine Kochprüfung.
Im Traum waten wir zwischen Holzwänden japanischer Badehäuser durch einen Bach, der mit jedem Schritt tiefer und schneller wird. Für unser Kind auf deinem Arm ist das Wasser zu kalt, du hältst es über deinen Kopf. Am Hafen steigen wir mit den Füßen auf Modellbau-Boote und umkreisen eine Boje. Vom Piratenschiff fallen Schnapsfläschchen neben uns ins türkisblaue Wasser, David sammelt so viele wie möglich ein, bevor sie versinken. Dabei macht er Wellen, die uns fast umwerfen. Das Wasser um die Boje wird fest, das Eis trägt uns und die kleinen Boote eignen sich auch als Schlittschuhe.
Beim Pizzaessen in einer Strandhütte frage ich Sebastian nach seiner Ehe, er lacht traurig und schüttelt den Kopf über all die Bilder darin. Julia kaut genervt, sie wäre jetzt lieber auf einer anderen Party, doch zwei Freunde schreiben, dass sie ihren reservierten Platz einnehmen wollen.
Im Traum parken wir vor einem Fenster, zum Spaß winke ich hinein und erkenne Fabian, der da gerade eingezogen ist. Er kommt raus, wir gehen was trinken, die Gruppe wächst und wird lauter mit jedem Glas. Ich sehe nur ihn und fotografiere Details durch einen durchsichtigen Plastikwürfel, bis er mal kurz in einem Kulturzentrum verschwindet. Die Halle mit neongrünem Boden steht zum Verkauf, du entwirfst schon Grundrisse. Der langhaarige Moderator nimmt mich mit aufs Dach, wo auch Fabian sitzt und verschwitzte Rockstars über eine Röhre nach unten auf die Bühne rutschen, angefeuert durch Girlanden aus Motivationssprüchen. Das Licht geht aus, nur ich bin noch da. Ich eile zur Rutsche, die jetzt mit dem Mikrophon verriegelt ist, verrostet und mit Moos bewachsen. Ich zwänge mich in die Röhre, die immer enger wird, ich stecke fest.
Im Traum wandern wir zum Meer, dort steht die Villa, in der wir die letzten Sommer verbracht haben. Sie hat neue Besitzer und Absperrbänder an den Toren, ich gehe trotzdem rein, will mich verabschieden von den schönen Räumen. Die neue Einrichtung verstellt das Treppenhaus und die Flure, auch die Salons sind viel zu voll. Ein weißhaariger Mann taucht auf, will mich verscheuchen. Seine Tochter drückt mir einen Wäschekorb in die Arme, flieht vor ihrem schreienden Baby und nimmt mich mit nach draußen in den Park. Sie führt mich zu einer Ansammlung von Villen und Palästen aus Stahl und Glas. Die meisten gehören ihrer Familie. Niemand ist zu Hause. Die Mittagshitze drückt, wir warten im Schatten eines Schirms.
Du hast gefragt, ob ich für dich mitträumen kann, schon stehen und liegen wir falsch im Leben halbschlafender Gestalten im Frack, die kaum vorankommen, bis sie wieder eingeschlafen sind. Ihr wacher Bruder scheucht sie mit Vertrag ins Rampenlicht. Wer wankt oder strauchelt, dem schließt er den Mund mit Reißverschluss. Rußverschmierte Köpfe mit verglühenden Augen, die zu viel gesehen und verstanden haben. Es wird eng und enger. Ich erwache in orange, eingepfercht zwischen Drehsesseln mit langbeinigen Frauen, deren Finger im Gesicht und überall diesen Film wohl so plastisch wirken ließen wie nie.
Geträumt von einem Spaziergang auf unserer neuen Straße, die uns an meine alte Straßenecke in Brooklyn und weiter nach Zürich führt. Clara stolpert voraus in einen Supermarkt, ich mit Kinderwagen hinterher. Mit jedem Schritt wird sie blasser, sie sackt mir in die Arme. Ich schreie nach Hilfe und Clara ins Gesicht, wie lange sie nichts gegessen hat. Eine Verkäuferin verdreht die Augen. Sie streckt mir ein Tablett mit einem Cent entgegen und zischt: Verschwindet! Da erst sehe ich, was sie sieht – den überladenen Kinderwagen und wie unförmig und verdreckt mein grauer Mantel ist. Ich ziehe ihn aus, darunter trage ich ein schickes Kleid. Fieberhaft suche ich im ganzen Laden nach etwas Essbarem für Clara und verliere Zeit zwischen Regalen voller Putzmittel, Cola und Schokocremes. Mein Kind babbelt fröhlich vor sich hin und ruft plötzlich: Orangensaft! Sein erstes Wort.
Im Traum lade ich spontan in unsere neue Wohnung ein. Mir folgt ein vielsprachig quasselnder Pulk bis vor die Tür, zu der ich keinen Schlüssel finde. Ich stochere mit einer winzigen Glühbirne in einem Treppenloch, bis die Fenster im Haus leuchten. Alle Türen öffnen sich, nur unsere nicht. Die Leute schauen sich derweil bei den Nachbarn um: Bücherstapel mit Pflanzen, orientalische Vorhänge und weiche Teppiche, eine Spielhöhle voller Kuscheltiere, im Flur ein riesiger Zeichentisch, an dem gleich gebastelt wird. Vom Haus führen vertunnelte Hängebrücken über einen Graben in die Stadt. Schaukelnd sitzen wir den Einheimischen gegenüber und drücken lachend unsere Füße gegen ihre. Auf der Klippe sehen wir einen verfallenen Anbau, der doch mein Atelier werden könnte. Da fällt der vermisste Schlüsselbund aus meiner Tasche durch ein Gitter in den Graben und versinkt im Schlamm.
Im Traum habe ich raue Flechten an den Fußsohlen. Wenn ich sie abkratze, wachsen sie sofort nach. Unterwegs auf superschnellen Rädern machen wir halt bei einem Kleiderladen, der durch eine Luke nach unten führt in ein Labyrinth aus schmalen Gängen, Treppen und Rutschen. Unser Kind klettert und freut sich über die vielen Spiegel, in denen sein Kopf viel zu groß und uralt aussieht. Panisch suche ich dich, renne entgegen der Laufrichtung der Pfeile, vorbei an Wachposten mit Trillerpfeife, verschanzt in kleinen Buden. Ich finde dich im schummrigen Schankraum, wo du ein rosa Getränk probierst. Du redest beruhigend auf mich ein, aber ich sehe deinen besorgten Blick für den kleinen Helmut Kohl auf meinem Arm.
Im Traum schaue ich auf die Uhr und mir fällt ein, dass genau jetzt unser Flug nach London startet. Ich suche unsere Flugtickets, die noch unausgedruckt im Datenmeer dümpeln. Wir sitzen am Rand eines blau leuchtenden Schwimmbeckens. Drei winzige Wasserwesen sollen uns eine Abkürzung zeigen, nur die eine mit Brille und blauer Dauerwelle schmollt und taucht ab. Sie sortiert ihre Handtasche und lässt sich nur mit bunten Sammelkarten überreden, uns zu begleiten. Auf dem Weg sehen wir unsere Freunde vor und hinter einem Schaufenster sitzen. Da will ich bleiben und doch nicht mehr weg.
Im Traum darf Sarah aus dem Publikum hinter die Kulissen des Musicals und sich ein Kostüm aussuchen. Während sie auf das riesige Kleid wartet, wird sie zu Clara und verdreht zwei Männern den Kopf. Der Visagist lässt sich besonders viel Zeit mit ihren kurzen, roten Haaren und der Tonmann rennt verzweifelt um seine schallgedämpfte Kabine herum. Er erzählt mir vom Fluss seiner Kindheit, den er jetzt andicken muss, weil er zu flüssig geworden ist. Und vom Brei, dem kleingeschnittene Hartplastikteile zugesetzt werden, damit er wie früher schmeckt. Dem Baby fehlt in dieser Version der Geschichte der Mund, es sieht aus wie ein angeschnittener Apfel.
Im Traum sollen wir wichtige Unterlagen besorgen und noch schnell Susannes alten neuen Freund vom Bahnhof abholen. Wir sind spät dran, daher überlässt uns Fätät seinen winzigen, weißen Geländewagen, der unter seiner Wohnung in einem Parkdeck steht. Wir finden keine Rampe, also holpern wir über eine Treppe nach unten ins Erdgeschoss und fahren durch die Gänge eines Architekturbüros bis zur Drehtür nach draußen. Der Freund soll zu Fuß nachkommen, wir düsen direkt zum Bürokomplex mit riesigem Treppenhaus ganz in Schwarz. Eine Kletterin seilt sich ab, Susanne und Michaela wollen gleich mitmachen und wärmen sich mit Dehnübungen auf. Die Treppen schwanken und werden zu steilen Rutschen aus Latex, eine fürchterliche Höhenangst packt mich und zieht mich nach unten. Wir fahren weiter und halten beim Friedhof, am Eingang stehen zwei Soldaten in uralten Uniformen, sie folgen uns mit drohendem Blick. Wir gehen schnell weiter, rennen in wirren Umwegen zurück zum weißen Auto und fahren ins Donautal. Neben dem Haus meiner Eltern entdecke ich im Felsen ein Loch mit ungeahnter Aussicht auf eine nie zuvor genutzte Badegelegenheit. Du wirfst mir ein Handtuch zu und springst von weit oben ins glitzernde Nass – herrlich.
Im Traum bin ich in den USA, um ein Schließfach aufzulösen. Es hat die Nummer 206 und eigentlich gehört es Alexandra. Es ist Teil eines Wohnprojekts, in dem Freunde von früher hausen, in gestapelten Holzkisten, fast ohne Tageslicht. Ich krieche in die Fassade und schaue durch Lamellen nach unten auf die futuristischen Straßen der Stadt. Im dunklen Gang verstellt mir einer den Weg, schubst mich in den Duschraum und lädt mich zur Abschlussfeier ein – es ist ein Befehl, keine Option. Den ganzen Abend heuchle ich Leichtigkeit und versuche den grinsenden Tanzpartner so zu hypnotisieren, dass er mich elegant und mit starker Hand führt. Ich gebe auf und hole die Kuchen aus meinem Schließfach. Überall sagen mir Leute Hallo, an die ich mich nicht oder nur dunkel erinnern kann. Meine ärgste Feindin trägt eine Clownsnase aus Karamell und lässt sich von mir zum endlich geschafften Abschluss umarmen. Mit missmutigem Blick packt sie Geschenke ihrer Geschwister aus, Eiswürfel kullern heraus. Ihr struppiger Vater schaut vielsagend und geht. Sie schlägt vor, dass wir jetzt alle zusammen duschen gehen.
Im Traum empfängt uns ein Kellner mit Kniefall, die Nase auf dem Teppich der großen Eingangshalle des Restaurants. Er überreicht uns eine Speisekarte aus Holz, mit Geheimfach für den Schlüssel zu unserem Tisch. Unser Baby ist schon größer als ich, sein Mund mehlverschmiert. Es wird aufgerufen und darf in der Backstube eine Himmelsleiter aus Teig formen. Ich male die Buchstaben H I M M E L auf das Schild, als plötzlich Tumult ausbricht – ein Überfall. Die nach dem Raubzug liegengebliebenen Geldscheine stopfen wir uns in die Jackentaschen und nehmen zur Tarnung Gefäße mit. Am Ausgang kontrollieren sie nur meinen Sauerkrauteimer mit Fleisch. Wir eilen möglichst unauffällig durch den dunklen Park Richtung Schrottplatz. Die Beute verstecken wir zuerst in einem kaputten Schließfach und dann doch in einem Kinderwagen voller Glühbirnen, der beim Schieben lustig klirrt.
Wenn mir mein Blog einfällt, erinnere ich mich an mich. Ich habe Heimweh.
– Wie ist das neue Ich? Das reale Ich?
Das reale Ich ist überfordert und nicht nett. In jeder Minute ohne Kind wie wahnsinnig am Arbeiten. Der Versuch, den zu schnell wachsenden Verlag in ein größeres Gefäß umzutopfen. Nachts am Pläne schmieden und Anträge schreiben für freie Projekte. Als hätte es nicht mehr viel Zeit. Als wärs bald vorbei.
– Jeder Tag ein Leben, oder?
Komische Leben sind das.
– Tauschen wir?
Geträumt von einem Foto, auf dem mein Gesicht durchrunzelt ist wie vielleicht mit 80. Ich sehe es in der Zeitung als Fotomontage neben den Gesichtern alter Politikerinnen, die besser gepudert sind als ich.
Beim Fest fragt mich Wolfgang nach meiner Hochzeit und geht, als alle drumherum eifrig davon erzählen, weil ich mich kaum erinnern kann. Ich gehe auch. Im Keller werden Fladen gebacken, mit Dörrfrüchten und viel Honig. Der Konditor wickelt mein Baby damit ein – als Proviant, sagt er – und legt es zum Trocknen in ein schaukelndes Segelboot voller Seile. Und wie bekomme ich das Gebäck wieder ab?
»… oder der schwere dunkelbraune Schreibtisch aus der Designsteinzeit, an dem mein Vater immer noch jeden Tag von morgens bis abends sitzt und seine Übersetzungen macht und am friedlichsten wirkt.«
»Wir wohnen, wie wir gelebt haben. Das ist es, was ich sagen wollte. Und wir leben, wenn uns das Glück nicht verlässt, immer so gut, dass die Dinge, mit denen wir uns umgeben, jetzt schon die schönen Erinnerungen von morgen sind.«
Maxim Biller
Jemand sprach heute von einem Phänomen namens Stillheimer, wie schrecklich. Dann jongliere ich mal weiter mit meiner Aufmerksamkeitsspanne von drei Minuten.
»… eröffnet uns die Digitalisierung die Möglichkeit, auf mehreren Zeitebenen gleichzeitig zu stagnieren.«
Sophia Fritz: Die Abwesenheit der Zuversicht
Im Traum suche ich im ganzen Haus nach einem ungestörten Ort, um meinen Traum aufzuschreiben. Die Räume haben keine Türen oder nur halbe, überall ist jemand und quatscht mich an. Das Bett der Großeltern steht in einem Wintergarten voller Pflanzen, zwischen den Kopfkissen zwei weiße Wärmflaschen wie Schwäne aus Porzellan. Oma will mich endlich sprechen, doch ich eile weiter, den Zettel mit dem Traumversatzstück in der Hand. Im Flur liegen die Vorfahren mumifiziert auf der Couch und unten ist ein Fest, wo meine Tante mal eben ein drittes Kind zur Welt bringt, ihr Sohn ist bei ihr und wischt sich die Freudentränen weg. Am Tisch sitzt der strohblonde Lorenz sich selbst gegenüber, einmal frisiert und einmal nicht. Dein Chef beschwert sich über die Tafel hinweg über die mangelnde Servicequalität im Online-Handel, ich denke an die unversendeten Mails und Bücher und setze zur Gegenrede an, vielleicht zu laut. Doch der Traum, der Traum, wie war der noch? Weg.
Im Traum entdecke ich ein Kinderkochbuch auf dem Laubengang zu einer Wohnung, umgeben von Familien und Grün. Wir wohnen woanders, im Erdgeschoss mit Blick ins verdorrte Flachland. Nach dem Aufwachen gehe ich in die Küche, wo sich einer seinen Kaffee kocht – erst da fällt mir wieder ein, dass wir uns die Küche mit ihm teilen. Ich verschwinde ins Bad. Wo ist das Baby? Eben war es noch auf meinem Arm, jetzt liegt es am kalten Küchenboden, der Mund zum tonlosen Schrei verzerrt, keine Augen mehr. Panisch hebe ich es hoch und presse es an mich, sein Gesicht kommt zurück. Wir schauen aus dem Fenster, der Mitbewohner auch. Dort rennt der zerzauste Sloterdijk, in der Hand eine qualmende Pfanne voller Wurst.
»Das war der eigentliche Unterschied, dachte Ferguson. Nicht zu wenig Geld oder zu viel Geld, nicht was jemand tat oder nicht tat, nicht ein größeres Haus oder ein teureres Auto, sondern Ehrgeiz.«
»… ein Mädchen, das weder normal noch nicht normal war, sondern heiß und furchtlos, und das genau wusste, mit welcher einzigartigen Persönlichkeit es von Geburt an ausgestattet war …«
» … eine griesgrämige, fahrige Frau, die zu sehr mit den Kleinigkeiten des Alltags beschäftigt war und nicht kapierte, dass einem das Leben durch die Finger rinnen konnte, bevor man überhaupt zu leben begonnen hatte …«
»Wie dein lieber Freund Edgar Allan Poe einmal einem aufstrebenden Schriftsteller riet: ›Unerschrocken sein – viel lesen – viel schreiben – wenig veröffentlichen – Distanz halten zu den Kleingeistern – und nichts fürchten‹.«
»… und an jenem Punkt seiner Reise zum Erwachsenendasein strebte er für die Zukunft lediglich an, … ›der Held seines eigenen Lebens‹ zu werden.«
»… denn wenn ein Buch ›so‹ sein konnte, wenn ein Buch ›so‹ auf Herz und Verstand und innerstes Weltgefühl eines Menschen einwirken konnte, dann war Romanschreiben mit Sicherheit das Beste, was man im Leben tun konnte …«
»… da die alten, vorhersehbaren Abläufe nicht mehr galten, wusste man vom einen Tag auf den anderen immer weniger, was passieren würde. Ferguson genoss dieses neue Gefühl der Ungewissheit. Alles mochte im Umbruch sein, und manchmal herrschte das reinste Durcheinander, aber wenigstens war es nicht langweilig.«
»Du musst so viel lernen wie du kannst, … dann musst du’s wieder vergessen und was du nicht vergessen kannst, wird die Grundlage deiner Arbeit bilden.«
»Leer … nicht so, als stünde man allein in einem Raum ohne Möbel, sondern im Sinne von ausgehöhlt … wie eine Schwangere nach der Geburt. Nur war es in diesem Fall eine Totgeburt, ein Säugling, der sich niemals verändern, wachsen oder laufen lernen würde, denn Bücher lebten nur so lange in einem, wie man sie schrieb, und sobald sie herauskamen, waren sie verbraucht und tot.«
»Du willst die Welt nicht neu erfinden, Archie, du willst sie verstehen, damit du auf ihr Leben kannst.«
»… die selbstauferlegte Verpflichtung, sich im Verhältnis zu anderen zu definieren und der Verlockung zu widerstehen, ausschließlich für sich zu leben …«
»Ja, genau, er hatte es gut, und was war das doch für eine großartige und schöne Welt, wenn man bloß nicht so genau hinsah.«
Ein Juli mit Archie Ferguson in vier Versionen.
Paul Auster: 4 3 2 1
Im Traum schafft es mein Vater als Hochzeitsfotograf, dass ich als Braut auf keinem einzigen Bild zu sehen bin.
Im Traum eine politische Kundgebung, bis eine vom Balkon aus ruft, im Kaufhaus habe es einen Raub gegeben. Das warst du. Ich habe dich dort allein gelassen zwischen chaotischen Regalen voller Hosen, die du nicht anprobieren wolltest. Wie zur Bestätigung schießt jemand drei Löcher in die Wand: Das erste qualmt, das zweite pafft Ringe in die Luft, das dritte bläst eine Rauchspirale durch den Saal.
Angefangene Geschichten ohne Ende.
Im Traum besichtigen wir eine Wohnung mit Meerblick. Im Aufzug fährt eine Kellerratte mit, sie huscht in die Wohnung, übers Parkett der Räume und lenkt mich ab. Ich sperre sie ein. Als ich die Tür wieder öffne, kommt sie als helle Schlange mit aufrechtem Kopf wieder raus und wird zum Skorpion. Das Meer hier ist eine bedrohlich wogende Brühe, das Haus nur für den Sommer gebaut. Also nein.
Im Traum treffe ich ihn auf einer Geschäftsreise durch Fernost in einem Restaurant. Am Tisch meiner Reisegefährten ist kein Platz mehr für mich, so setze ich mich an seinen. Er bestellt Speisen, die so anders sind, dass alles um ihn zu leuchten beginnt. Seine Geschichten duften, sein Körper glänzt, ich will ihn behalten und stelle ihn ein.
Meine Dienerschaft weiß um die Querelen im Familienunternehmen, so lädt sie mich und ihn und meine Labor-Assistentin wie jeden Tag zur Mittagszeit ein, im Nebenzimmer Platz zu nehmen. Nur eines ist anders: Sein Blick gilt nicht mehr mir, sondern ihr, die ich kurzerhand für unbestimmte Zeit auf Forschungsreise ins Exil schicke. Sein verliebtes Lächeln erstarrt, er schießt mit kalten Blicken auf mich.
Im Traum besuchen wir spontan entfernte Verwandte auf ihrem Anwesen. Das Haus hat so viele Zimmer, dass die Besitzer selbst nicht alle kennen. Wir stolpern hinein, durchwandern staunend die leeren, verstaubten Säle, die immer seltener für Feste vermietet werden. Die beiden Kinder rennen uns fast um vor Freude und führen uns ins Untergeschoss. Dort besteigen wir die Gondeln eines Riesenrads, das in der Wand versteckt ist. Oben landen wir auf einer Dachterrasse mit großen schwarzen Bodenplatten, die unvermittelt absinken und wieder auftauchen. Stempelaufzüge, denke ich mir, und kauere am Boden, während die dunklen Wände um mich herum immer höher werden. Umgekehrte Höhenangst oder Klaustrophobie? Und was passiert, wenn man auf zwei verschiedenen Platten steht?
Im Traum treffe ich ihn auf einer Geschäftsreise durch Fernost in einem Restaurant. Am Tisch meiner Reisegefährten ist kein Platz mehr für mich, so setze ich mich an seinen. Er bestellt Speisen, die so anders sind, dass alles um ihn zu leuchten beginnt. Seine Geschichten duften, sein Körper glänzt, ich will ihn behalten und stelle ihn ein.
Meine Dienerschaft weiß um die Querelen im Familienunternehmen, so lädt sie mich und ihn und meine Labor-Assistentin wie jeden Tag zur Mittagszeit ein, im Nebenzimmer Platz zu nehmen. Nur eines ist anders: Sein Blick gilt nicht mehr mir, sondern ihr, die ich kurzerhand für unbestimmte Zeit auf Forschungsreise ins Exil schicke. Sein verliebtes Lächeln erstarrt, er schießt mit kalten Blicken auf mich.
Ein Treffen wie ein Schachspiel: Jeder Zug birgt Gefahren, die ich versuche zu erahnen, nur gibt es keine Regeln und verloren haben wir uns längst.
Kindheit durchgespielt, Jugend getestet, Beruf ausprobiert, Ehe gewagt und mich als Mutter versucht. Als wäre dieses Leben eine Probe und nicht schon die Aufführung – die einzige übrigens.
»Verzeihen macht eine gemeinsame Zukunft möglich – ob man die überhaupt will, ist eine andere Frage.«
Sven Stillich: Verzeiht euch!
Ein exemplarischer Mensch
»Die Arbeit des Verlegers ist vor allem eine Suche … Der Wunsch, die flüchtige Gegenwart lesbar zu machen, ist sein Antrieb. Die Spur seiner Suchbewegung sind die Bücher, die entstehen. Jetzt und jetzt und jetzt.«
Jan Wenzel
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»Doch wir waren zwei sehr unterschiedliche Schwangere. Mein Körper reagierte mit Zustimmung, ihrer mit Widerwillen.«
»In den neapolitanischen Geschichten, die sie erzählte, gab es anfangs immer etwas Hässliches, Ungeordnetes, das später die Formen eines schönen Bauwerks, einer Straße, eines Monuments annahm, um dann wieder in Vergessenheit zu geraten, an Bedeutung zu verlieren, schlimmer zu werden, besser zu werden, schlimmer zu werden, in einem von Natur aus unvorhersehbaren Strom, der aus Wellen, Windstille, Sturzfluten und Kaskaden bestand.«
»Um irgendein Projekt auf die Beine zu stellen, das man mit dem eigenen Namen verband, musste man sich selbst lieben, und sie hatte es mir gesagt: Sie liebte sich nicht, liebte nichts an sich.«
»Es gibt diese Anmaßung bei denen, die sich zur Kunst und besonders zur Literatur berufen fühlen: Man arbeitet, als wäre man mit einem Amt betraut worden, aber eigentlich hat uns niemand je mit irgendwas betraut, wir selbst haben uns ermächtigt, Autoren zu sein, und dennoch sind wir bekümmert, wenn andere sagen: ›Was du da geschrieben hast, interessiert mich nicht, es ärgert mich sogar. Wer hat dir das Recht dazu gegeben.‹«
Ein vierwöchiger Sog – die Neapolitanische Saga von Elena Ferrante:
Meine geniale Freundin
Die Geschichte eines neuen Namens
Die Geschichte der getrennten Wege
Die Geschichte des verlorenen Kindes
Im Traum erwache ich in einem Schloss, in einem riesigen Bett, umgeben von Wänden aus Stein voller Stuck und raumgreifender Schnörkel. Draußen tobt das Meer. Wir sprechen über eine schwimmende Insel, die regelmäßig von einer großen Welle überrollt wird. So werden die pastellfarbenen Fassaden der schmalen Häuser immer enger zusammengeschoben. Bei einer Radtour sehe ich Pauls Freunde mit Kind. Ich frage, wie das so ist, die Mutter zuckt mit den Schultern, sie weiß es noch nicht. Sie zeigt mir ihr Haus, in dem noch Platz für uns ist. Es besteht nur aus Fluren und Treppen, die Waschbecken sind unpraktisch in Zwischengeschossen angebracht. Erst auf der dampfenden Straße bemerke ich meine im Schloss vergessenen Schuhe und starre auf ihre winzigen Füße in knallrotem Lack mit Plateau-Sohlen, die sich gut abheben vom heißen, schwarz glänzenden Teer.
Ich liege wach und denk an dich. Und dass dir dein Papa mal vorgeschlagen hat, du könntest mir eine Zitrone schicken, damit ich wenigstens weiß, dass du sauer bist. Das hast du mir geschrieben, da waren wir vielleicht zwölf.
Wann fing es an, dass Freundschaften kompliziert wurden? Vielleicht waren sie das schon im Sandkasten, als ganz klar war, dass es nur eine beste Freundin geben kann. Wir wohnten in einer Straße, du vorne an der Kurve, ich ganz hinten im letzten Haus vor der Wiese, die bald bebaut werden sollte. Noch gehörte die Wiese uns und die Straße unseren Parcours aus Kreide, für unsere Dreiräder und Bobbycars. Wir trafen uns bei dir oder bei mir und wenn es Zeit war, uns zu verabschieden, begleiteten wir uns noch ein Stück nach Hause. Manchmal dreimal hin und her, um irgendwann in der Mitte Tschüss zu sagen, bis morgen. Einmal, als dein Papa dabei war, mit Abschiedskuss, das war seine Idee und fanden wir komisch.
Klar gab es andere Freundinnen. Monja oder Anna von gegenüber, die du nicht mochtest. Du warst meine Nummer eins und trotzdem immer ein bisschen eifersüchtig. Als ich ein Jahr vor dir in die Schule kam, bist du mit deinen Eltern weggezogen. Wir wurden Brieffreundinnen, besuchten uns viermal im Jahr und der Platz der besten Freundin wurde frei. Er wurde immer wieder neu besetzt, doch keine blieb, so ist es bis heute. Nur du.
Was hält uns zusammen?
Wir sind so verschieden.
Du kamst zu keiner meiner Partys, meine Freunde schüchterten dich ein. Oder interessierten dich nicht. Deine mich ja auch nicht. Bis auf einen, deinen Tanzpartner, der uns beide geküsst hat. Mich mit achtzehn, dich mit dreißig. Es geht nur um uns zwei. Beste Freundinnen, in guten wie in schlechten Zeiten, durch alle Lebensphasen. Mit langen Pausen, die den Alltag raushalten aus dieser Freundschaft.
Einmal dann richtig lange Funkstille und einsilbige Antworten auf meine Fragen. Nach meiner Hochzeit, bei der spontan eine andere Trauzeugin war. Auch diese Freundschaft währte nicht lang – zu empfindlich und explosiv, zu verschieden und doch zu gleich.
Manchmal sprichst du bitter, wie deine Mutter, der du scheinbar nie genügen konntest. Und ich manchmal pragmatisch wie meine, der ich nie richtig nah sein konnte. Beide sind wir doch mehr wie unsere Väter, die wir lieben. Wir suchten nach Männern wie ihnen.
Jetzt strampelt mein Kind neben mir und du wohnst in einem Haus mit einem Arzt und seinen zwei Kindern. Du hast den Vormietern den Rasenmäher abgekauft, einen neuen Job und einen Stall für deine zwei Pferde gefunden. Dein zweites Pferd habe ich noch nicht kennengelernt, auch nicht den Arzt. Und du nicht mein Kind.
Kennen wir uns noch? Unser Leben überholt uns in diesem Jahr, in dem der Rest der Welt den Atem anhält.
Im Traum treffe ich Armin von der Maus, der mir erzählt, dass er das Ziffernblatt erfunden hat, bevor er beim Fernsehen gelandet ist. Ich erinnere mich, wie sich die Maus das Ziffernblatt auf die Nase steckt und ihren Schnurrbart als Uhrzeiger benutzt. Er nickt und schaut über die Stadt in Bolivien, von der ein Teil in der Luft schwebt. Warum wir hier sind (wir wollten Designer Uebele unsere Entwürfe zeigen, doch niemand hat welche gemacht), fällt mir erst wieder ein, als Justynas Performance beginnt, wobei sie diesmal nur das Catering macht. Unten vor der Burgmauer drei tanzende Frauen in Schwarz, oben ein inszeniertes Blutvergießen. Ich sehe das Rot über den Boden fließen. Wie schön egal mir das alles ist, denke ich, als ich das schlafende Kind aus meinem Rucksack hole.
Die Pause des Seminars nutze ich für einen Strandspaziergang. An der Hauswand führt eine steile Wendeltreppe hinab zum Meer. Dann kommt Wind auf und wirbelt mir Möwen, Enten und Schwäne entgegen, dann auch Schafe, Pferde und alles Getier der Insel, ich ducke mich und werde vom Sturm verschont. Zurück in unserem Zimmer hast du Damenbesuch mit raspelkurzen Haaren, wie du es magst. Sie schaut mich neugierig an. Selbst in deinen Träumen fragst du mich doch immer vorher.
Im Berufsschulzentrum treffe ich auf den großen schwarzlockigen Jungen aus der Parallelklasse (der immer so vertraut mit Leyla geflüstert hat – was wohl aus Leyla geworden ist?), nehme ihn bei der Hand und mit ins Klassenzimmer. Alle sehen es, auch du, mit unserem Kind auf deinem Schoß. Wir setzen uns hinter dich in die zweite Reihe, ich spüre die Blicke aller im Rücken. Du lässt dir nichts anmerken und die Versteigerung beginnt. Als unsere beiden Namen aufgerufen werden, stehst du auf, ich auch, und wir tanzen zur einsetzenden Musik, für das Grundstück in Zinzilore – so heißt auch das Lied, zu dem wir sanft schunkeln. Ob das reicht?
Schreibtisch mit Aussicht
Schriftstellerinnen über ihr Schreiben
»Obwohl ich weiß, dass es nicht nur vergeblich, sondern auch ein Verlust ist, der anarchischen Welt-Grammatik meines Kindes eine Ordnung entgegenzusetzen, die Prinzipien wie Stringenz und Effizienz unterworfen ist, werde ich es immer wieder versuchen (die Spülmaschine ausräumen, die Wäsche erledigen, Dinge dorthin zurückbringen, wo ich will, dass sie sind, immer), um diese Tätigkeiten nicht dann erledigen zu müssen, wenn ich arbeiten, also schreiben könnte. Ich werde daran scheitern und schließlich bereuen, dass ich es, in der wenigen Zeit, die meinem Kind und mir täglich bleibt, trotzdem versucht habe.«
– Antonia Baum
»Doch wenn der Drang zu schreiben tatsächlich unbezwingbar ist, dann kommt er stärker zurück denn je, macht einem das Leben als Mutter schwerer als üblich, belädt einen mit unbegründeten und äußerst begründeten Schuldgefühlen. Ist es nun also besser für eine Frau, die schreiben will, Kinder zu bekommen – oder nicht? Ich weiß es nicht. Leben heißt nicht nur lesen und schreiben. Doch das Lesen und Schreiben kann die Macht haben, unser ganzes Leben zu fordern.«
– Elena Ferrante
»So, das war es auch schon. Mehr ist da nicht. Vermutlich geht es jedem, der arbeitet, nicht anders. Man glaubt an sich, man zweifelt an sich, man findet sich lächerlich, und das zu Recht. Das Gute daran ist einzig, dass ich mein Leben zu Hause verbringen kann, ohne einen Vorgesetzten, ohne Kollegen, die vielleicht aus irgendwelchen Gründen schlecht gelaunt sind. Ein unglaublich gutes Leben habe ich, auch wenn ich weiß, dass es überraschenderweise irgendwann endet.«
– Sibylle Berg
Du wächst so schnell und streckst dich lang, wirst schwerer und wacher mit jedem Tag. Wir warten auf dein Lachen, tun alles, um dich zu trösten, bei jedem Pups, mit dem du kämpfst. Wir streicheln deine feinen Haare über dem Köpfchen, das wir schon zehn Stunden vor deiner Ankunft in mir spüren durften, ein unvergessliches Gefühl. Deine runden Backen, die Stupsnase, der kleine Mund und das lustige Kinn. Und wie bei mir: Die Falten um die Augen, die hellen Wimpern, die spitze Oberlippe und eindeutig die Ohren. Die weichen Falten an deinem Hals, wo du dich gar nicht gerne waschen lässt. In deinem Nacken leuchtet ein Storchenbiss. Dein fester Trommelbauch, mit dem versteckten Nabel und der zarten warmen Haut, die wir so gerne küssen. Von Kopf bis Fuß finden wir dich zum Knutschen und die Liebe wächst wie du. Schläfst du mal länger, dann vermissen wir dich – selbst dein Schreien klingt dann wie Musik in uns nach. Auch wenn dein Gesicht verzweifelt rot wird, dein Mund sich verzerrt, die Unterlippe bebt und deine Augen sich maximal zusammenkneifen, finden wir dich wunderbar. Nur halten wir es nicht lange aus, wir wollen, dass es dir gut geht, immer. Wir halten deine rudernden Arme und Beine, wenn du Angst hast zu fallen – ins Nichts dieser viel zu großen Welt, die so klein ist, seit du da bist.
»Ich konnte es nicht sein lassen und musste Lio im Internet suchen und habe spannendes, schönes gefunden. Also, Lio kann auch aus dem Griechischen von Helios, dem Sonnengott kommen. Und da am Sonntag, 13. Dezember, der Luciatag war, von Lucia, die Leuchtende, von Lux = Licht, habt ihr genau ins Schwarze, wobei eher Weiße getroffen. Darum, viel Freude mit einer kleinen strahlenden Diskokugel.«
13.12.2020
24 h
00:42 Uhr
51 cm
3070 g
»Dass man, wenn man sehr müde ist, sagt, man sei todmüde, fiel mir ein, und dass man, wenn man todmüde ist, doch voller Leben ist, und wenn man lebensmüde ist, schon dem Tod nahe.«
Bernhard Schlink: Die Frau auf der Treppe
»Und Clemens hatte eine Erleuchtung: Eindeutigkeit gibt es nur um den Preis des Irrtums.«
»Flackernd erklang die Stimme aus dem Untergrund: ›Idealisten sind gefährliche Menschen. Sie haben ein falsches Bild von der Welt. Krampfhaft suchen sie nach Gelegenheiten, Opfer zu bringen. Und stürzen sich und andere ins Unglück.‹
›Aber du bist doch auch ein Idealist!‹ sagte die Mutter verwundert.
›Eben. Man hüte sich vor mir!‹«
Ein August mit Eginald Schlattners ›Das Klavier im Nebel‹
Im Traum blättere ich durch ein Buch mit mehreren Geschichten, die durch ein sich wandelndes Inhaltsverzeichnis voneinander abgetrennt sind. Ich lese die erste Geschichte und schaue aus den Augen eines kleinen Jungen aus dem Fenster einer Wohnung, vor der täglich ein gelbroter McDonald’s-Clown vorbeigeht. Der Junge und seine große Schwester verkleiden sich wie der Clown und eines Tages schaut er tatsächlich zu ihnen durchs Fenster und albert mit ihnen herum, bis ihn die Mutter hereinbittet und eine leidenschaftliche Affäre mit dem Clown beginnt. Der Junge versteckt das Clownszeug im Keller, wo er sich eigentlich nie hintraut, denn zwischen der trocknenden Wäsche spielen nur die Nachbarn: Zwillinge, die mal Drillinge waren. Sie spielen nur solche Spiele, für die es drei braucht. Damit beginnt die zweite Geschichte mit dem Titel ›Act To One Another‹. So führt ein Stichwort weiter zur nächsten Geschichte, kreuz und quer durch das Haus und das Buch, das sich übrigens sehr gut aufschlagen lässt.
Traum von einem Klassentreffen, für das jemand richtig gut recherchiert hat. Auf jedem Platz steht eine Geschenktüte mit Anspielungen auf den eigenen Lebenslauf. Über jeden wird eine Präsentation gezeigt, humorvoll und tiefgreifend – ein Spaziergang durch die 18 Jahre, in denen wir uns nicht gesehen haben. Über mich wurde ein Film gedreht mit einer rothaarigen Frau, die durch eine Stadt aus gestapelten Büchern tanzt. Immer wieder stürzt sie in die Tiefe auf ein Trampolin, das sie wieder nach oben katapultiert und auf die Füße stellt. Über meinen Nebensitzer erfahren wir, dass er erst neulich seinen Vater ausfindig gemacht hat. Und später jubelt der ganze Saal bei der Meldung, dass Ende des Jahres nun endlich auch ich Mutter werde. (Wohl genau dann, wenn das Klassentreffen tatsächlich stattfinden wird.)
Traum vom Aufbau einer Ausstellung mit riesigen Büchern, aufgefächerte Seiten schaffen Nischen für Exponate. Sarah bittet mich, ihr beim Formulieren der Texte zu helfen. Ihre Nische hat sie fertig eingerichtet, in der Hoffnung, die Ausstellung würde morgen eröffnen, doch alle anderen sind leer. Eine Kuratorin bittet mich um fünf Treppenbücher für ihre Ausstellung. Kurz darauf erklärt sie mir, dass schon alle weg sind – einfach mitgenommen. Gab es denn keine Aufsicht?, frage ich fassungslos und denke an die wenigen verbliebenen Bücher im Lager. Nebenan inszeniert ein Künstler das Einstürzen der Glaskuppel des Turms, die künftig durch einen transparenten Ballon ersetzt werden soll. Was für ein Lärm und alles liegt voller Glassplitter.
Im Traum verschanze ich mich mit meiner Schwester im leeren Haus eines LKW-Fahrers. Wir kamen über die Garage rein und nur nachts traue ich mich mal raus, um zu schauen, ob man uns von außen sieht. Die Nachbarn legen ihren Garten neu an, mit weißen Steinen, die im Mondlicht leuchten. Später wohnt auch Christian bei uns, und Sarah, die uns irgendwann verpetzt. Christian hat ein rot geschwollenes Auge – jemand musste ja verprügelt werden für diese Dreistigkeit. Er lacht darüber und wir kabbeln uns auf der Sofalandschaft. Julia und ich finden eine Kiste mit Kleidern, ich wähle ein goldenes mit allerlei Broschen und Ketten, die ich dann doch weglasse, damit der Ring mit der roten Miniatur-Sonnenbrille besser zur Geltung kommt, und auch die floralen Tattoos auf meinen Armen. Julia findet ein goldenes Minikleid und nimmt sich den Schmuck. Mama lacht, als sie uns sieht und Papa sagt: Die goldenen Schwestern.
Traum von einer Großbesprechung im Freien mit Mindestabstand. Da sich die Pfarrer ständig sehen, sitzen Sie als Familie zusammen auf einer Decke. Spät am Abend wird ein Taxi gerufen, in dem auch für mich noch Platz ist.
Traum von einem Ausflug mit Sarah, Christian, Tobi und Jonah in einen rosa blühenden Park. Wir legen uns auf eine Wiese und schlafen, bis mich ein Kind mit einer Plastikflasche bewirft. Ich bin zu müde, um mich zu wehren.
Später Chorprobe an einem Strand, wir sitzen alle sehr weit auseinander und der neue Dirigent ist enttäuscht, dass wir nicht auf Anhieb vom Blatt singen können. Wütend geht er davon, woraufhin die Männer schwimmen gehen. Eine Baggerschaufel wirft eine Ladung Sand über mir ab, meine Beine sind so tief eingegraben, dass ich nicht aufstehen kann. Ein blonder Junge hilft mir beim Ausgraben meiner Beine und zeigt mir einen grün bewachsenen Unterstand, hier sitzen wir geschützt vor Sonne, Wind und Sandangriffen. Anfangs bin ich noch genervt, er redet etwas viel und lacht die ganze Zeit. Später nehme ich seine Hand, er passt auf mich auf.
Im Traum sitzen wir wartend in einem Schloss. Frühstück wird serviert und wir essen, erst gelangweilt, dann voller Interesse. Es gibt ein Brot, das aus alten Brotscheiben neu zusammengebacken ist, außen mit Schokolade und gehackten Pistazien verfeinert, innen recht kross wie Zwieback. Die Bediensteten sprechen aufgebracht miteinander. Obwohl wir die Sprache nicht verstehen, bemerken wir ihren Unmut darüber, dass wir die Brötchen und Croissants nicht angerührt haben. Wir wechseln auf ein Sofa und bewerfen uns mit Früchten aus Stoff, ich versuche mit den Aprikosen zu jonglieren, klappt nicht. Wir nehmen uns Kuchen auf die Hand und machen einen Spaziergang durch den Park, nur Clara und Georg bleiben zurück und fallen übereinander her.
Im Traum kümmert sich die Nachbarin aus der Wohnung nebenan um unsere, während wir weg sind. Als wir zurückkommen, hat sie mit ihren Kindern die Wohnung besetzt und sämtliche Vorräte verkocht, denn in den Läden gibt es nichts mehr. Ihre Kinder toben durch die Räume und finden allerhand Kram, den sie unbedingt behalten wollen. Sie lacht uns aus und du sagst, da siehst du, wie wichtig eine gute Vorratshaltung ist.
Im Traum ein Essen im Wald mit Clemens und seinen Freunden. Es gibt Kokosnuss und Currykugeln. Ich sitze neben einem, der mir von seinen Kindern erzählt und von seiner gescheiterten Ehe, er wohnt jetzt wieder in seiner Studentenhöhle und sortiert sein Leben. Seine Tochter springt von einer Pfütze zur nächsten, als wir aufbrechen landen auch die anderen darin und sind von Kopf bis Fuß mit Schlamm verschmiert. Das richtige Outfit für das Festival, zu dem wir wollen. Auf dem Weg sehe ich seine Tochter in einer winzigen Höhle verschwinden, sie selbst wird winzig, der Eingang führt durch meine Handtasche. Aufgeregt berichte ich dem Vater davon, der einen Zaubertrank dabei hat, mit dem auch wir uns schrumpfen können, doch erst mal werden wir riesig, schleichen über winzige Straßen und versuchen, die Autos und Passanten in Ameisengröße nicht zu zertrampeln. Zurück im Wald nähert sich ein knurrendes Monster, vor dem wir in die kleine Höhle flüchten. Dort treffen wir auch die Tochter wieder, sie trägt einen gelben Schirm als Hut und stellt uns ihre neuen Freundinnen vor. Alle haben sehr lange Haare, ewig waren sie hier drin. Die einzige, die noch groß ist und uns zurückverwandeln kann, ist die Mutter, die mit einer Schere am Höhleneingang auf uns wartet. Die Haare schneidet sie uns, solange wir noch klein sind, mit einem Schnitt. Nun haben wir alle die gleiche Frisur.
Im Traum lasse ich mich durch Lissabons Abenddämmerung treiben und finde auf einem Hügel ein gemütliches Restaurant. Bunte Lichterketten, entspannte Gäste auf Sitzkissen und Kellner in abgetragener Kleidung stehen im Kontrast zu den Preisen für Speisen und Getränke, die ich nicht bezahlen kann, ich habe viel zu wenig Bargeld dabei. Ein Mann am Tisch lädt mich ein, ich will ihm das Geld am nächsten Tag zurückgeben. Bis ich da das Restaurant endlich wiedergefunden habe, ist es Abend. Der Mann ist nicht mehr dort, der Kellner beschreibt mir das Haus, in dem er wohnt, nicht weit weg. Ich treffe ihn an seiner Tür, er muss schnell zum Bahnhof und für ein paar Tage weg. Ich renne mit ihm die steilen Treppen hinab und durch ein ehemaliges Industrieareal, in dem nun Ausstellungen stattfinden. Wir werden langsamer und schauen uns die Kunst dann doch genauer an. Ein Irrgarten aus Tüchern, in dem wir uns verlieren und wiederfinden. Er verschiebt seine Reise auf morgen, will bei mir bleiben, wenigstens heute Nacht. Am nächsten Tag ist er fort und die Stadt hat ihre Farben verloren. Ich irre durch die Hügel, treffe Sarah und Philipp, gemeinsam suchen wir das Restaurant mit den Lichterketten, das es nicht mehr gibt. Meine Schulden konnte ich nicht bezahlen, keiner ließ mich.
Ein letztes Aufbäumen der Prinzessin, bevor alle Aufmerksamkeit der nächsten Generation gilt.
Traum von einem Segeltörn, bei dem Christoph erst mal das Boot umwirft und damit auch mich samt Handy und Geldbeutel ins Wasser schubst. Es dauert, bis das Boot wieder aufgerichtet ist. Musste das sein? Ja, sagt Christoph, denn jetzt wissen wir, wie das geht. Wir legen an und schlendern über eine Insel voller Menschen und Attraktionen. Ich bin nackt und habe mein Handtuch vergessen. Wir kommen an überfüllten Stränden vorbei und in einer Höhle mit Wasserfall, vor dem die Leute Schlange stehen, um in seinem Heilwasser zu duschen. Unser Ziel ist ein quietschbuntes Hotel, an dessen Pool sich eine braungebrannte Frau mit Zitrone einreibt. Ich lege mich auf einen Liegestuhl, du musst kurz weg und kommst nicht wieder. Die Frau telefoniert und berichtet lautstark vom Fencheltee, den sie gerade trinkt, der tut ihr so gut, sagt sie, und von einem Trick mit Mullbinden um einen Korken, der im Mund des Mannes bei ihr Orgasmen auslöst. Nur wie sie den präparierten Korken anschließend wiederbekommt, weiß sie noch nicht. Ich will ihrem Telefonat nicht länger zuhören und gehe zur Rezeption, die wie eine Felsenfestung inszeniert ist. Ein Typ ruft mit verstellter Piepsstimme hinauf, bis der Rezeptionist hinunterschaut und seinen Kollegen auslacht. Ich frage ihn, ob mein Mann eventuell schon eingecheckt hat, und komme mir vor wie im Film, wenn die Ehefrau ungelegen ins Hotelzimmer platzt. Raum Ipanema, Nummer 20. Und wie komme ich da hin? Er braucht lange für seine Wegbeschreibung, die einmal über die Insel führt. Ob ich das finde? Und ob du dann noch da bist?
Im Traum bekomme ich per Post eine Einladung zu einem Radiointerview. Ich versäume, den mehrseitigen Einladungstext zu lesen und bin etwas überrumpelt vom Thema: Es geht um Gene und Gendefekte, wozu ich nun wirklich gar nichts sagen kann. Statt mich vorzustellen steigt die Moderatorin mit der Frage ein, wie es für mich sei, mit dem Lukas-Syndrom zurechtkommen zu müssen. Ich habe keine Ahnung, wovon sie spricht und improvisiere: Falls sie darauf anspiele, dass ich immer wieder Neues mache, statt bei meinem Beruf zu bleiben, das sei bei mir nunmal so angelegt und für mich auch völlig stimmig. Die vielen Berufsbezeichnungen nutze ich nur als Erklärung für diese Mischung, die keinen Eigennamen hat. Sie schüttelt fassungslos den Kopf und stoppt das Interview. Ich gehe duschen in einem Bad, das eigentlich nur ein Waschbecken hat, doch wenn ich mich ganz klein mache, wird der Wasserhahn zur Dusche. Was ziehe ich an? Im ganzen Zimmer liegen meine Kleider verstreut. Noch nicht ganz angezogen werde ich von einem Interviewpartner abgeholt, der mich fröhlich darauf hinweist, dass es ja nur Radio ist und somit egal, was ich trage.
Auf einer Reise durch China überredest du mich, in einem Elektroladen ein kleines teures Gerät in die Verpackung eines großen Billiggeräts zu stecken und mitzunehmen. Wenig später sind wir auf einer Party und werden von einer Polizistin verhört. Ich lüge für dich und mache dir Vorwürfe im Badezimmer. Du weißt selbst nicht, warum du das gemacht hast. Versehentlich lassen wir auch noch einen transparenten Bauhelm und einen Gesichtsschutz aus Plastik mitgehen. Sie werden uns kriegen, hier ist doch alles videoüberwacht.
Im Traum ein Einkauf in Fridingen, der Laden ist wie ein Markt aufgebaut. Am Gemüsestand probiere ich mich durch die essbaren Blumen und nehme alle Gemüsesorten mit, die ich noch nicht kenne. An der Kasse wird Antonija ein Strafzettel ausgestellt, weil sie keine Maske hat – das gibt einen Strafpunkt in Flensburg, wo sie nun nicht mehr nur für Autofahrer verantwortlich sind. Ich drehe noch eine Runde durch den Laden – Hefe gibt es immer noch nicht. Ich treffe Oma, die es nicht mehr aushält und endlich mal wieder selber einkaufen gehen will. Wir beobachten zwei, die sich an den Zwiebeln bedienen, direkt hineinbeißen und vom Ladenbetreiber noch ein paar Reste zugesteckt bekommen. Ich habe einen Tretroller und rolle schon mal vor, um dann an der Ampel wieder auf Oma zu warten. Sie hat den Weg zu sich nach Hause vergessen, wir gehen durch den Flur ihres Nachbarn, der aus dem Keller guckt. Oma quatscht sich fest, ich rolle weiter und warte vor Ihrer Haustür.
Im Traum finden wir ein Haus und ziehen testweise ein – mein Zimmer hat eine bogenförmige Fensteröffnung ohne Scheibe, könnte kalt werden. Veronika erzählt aus ihrem Leben, in dem auch immer wieder mal Zeit für das Kloster war. Noch heute kehrt sie einmal jährlich zurück in ihre Stammzelle. Wir öffnen eine Truhe mit kleinen Kostbarkeiten wie historische Kronkorken und hübsch bedruckte Metalldöschen, die nach und nach fotografiert und projiziert werden. Als es mir zu langsam geht, versuche ich es mit mehreren Gegenständen pro Bild. Die Kompositionen und Arrangements werden ein Erfolg, bejubelt vom Publikum.
Im Traum ein schwimmendes Haus, darunter Schwäne, zwei davon sind tot oder aus Keramik. Zum Sterben kehren Schwäne an ihren Geburtsort zurück, lernen wir in einer Doku.
Im Traum ein Buffet mit Nüssen, geformt wie Tetraeder, und etwa fünf Zentimeter groß, ganze Tabletts mit Feigen von frisch bis getrocknet, Himbeertörtchen. Ich kann nicht aufhören alles zu probieren, während nebenan mein Chor probt. Ich habe meine Noten verlegt.
Im Traum Tipps zur Geburtsvorbereitung: Atemübungen mit Zeichnungen, die auf der Rückseite des Papiers weiteratmen. Oder atmend aus Ton Figuren modellieren, möglichst organisch.
Im Traum nehmen zwei Jungs hinter meinem Rücken mein Gepäck auseinander und machen sich darüber lustig. Als ich es bemerke, mache ich ihnen eine Szene, kleinlaut packen sie alles wieder ein. In der Zwischenzeit bereitet sich alles vor auf einen großen chinesischen Tanz. Raumteiler werden zur Seite geschoben und die Treppe, auf der ich stehe, wird elegant im Boden versenkt. Ich erklimme die Stufen und bin auf Höhe des Bodens, kurz bevor der Deckel sich schließt. Die Parade ist beeindruckend und wir Zuschauer werden durch den Saal geschoben. Ich tanze mit einem Mädchen, das seine Schuhe verloren hat. Alle Schuhe, die hier rumliegen, sind ihr zu klein. Im Nebenraum gibt es ein Buffet, an dem wir ewig anstehen. Als ich dran bin, gibt es keine Teller mehr, doch Naomi hat sich so viel aufgetan, dass ich bei ihr mitessen darf. Nun brauche ich mein Gepäck, das überall verstreut ist. Zwei Koffer, Rucksack, Schlafsack, Isomatte, große Mappe, Tasche mit Proviant. Ich überrede den Busfahrer dort anzuhalten, wo die beiden Jungs von vorhin auf mich warten – pflichtschuldig helfen Sie mir beim Tragen. Die neue Haltestelle finden auch die anderen Passagiere praktisch, sie wird in den Fahrplan aufgenommen.
Im Traum suchen sich Naomi und Matthias das schönste Zimmer aus, Sie haben das kleinste Gepäck, doch hunderte Nägel dabei, mit denen sie eine Wand zum Igel machen. Das sieht spannend aus. Nur dass das Zimmer kein richtiges Bett hat, merken sie erst nachts.
Mich zu berühren ist für dich in etwa wie Fußball zu kommentieren – völlig außerhalb deiner Vorstellung davon, wer du bist und was du kannst und willst. Wie das Telefonieren. Ich habe mich in deinen innersten Kreis eingeschlichen. In den Favoriten deines Telefons stehen deine Omas, deine Mama und vielleicht noch dein Bruder, dann ich. Wie habe ich das geschafft? Indem ich dir das Gefühl gab, es ginge nur um dich. Der Narziss in dir fühlte sich geschmeichelt, zwang sich anfangs noch und seit es Routine ist, fehlt etwas, wenn mein abendlicher Anruf ausbleibt. Unsere Telefonate sind anders, Corona kommt kaum vor, wir bewegen uns in einer anderen Zeit. Vier Tage noch. Mir fallen keine Fragen mehr ein. Drehen wir es doch heute mal um: Was willst du wissen?
Im Traum liegen wir gemeinsam unter einer Decke, beide nackt, beide im Halbschlaf, beide im Wissen, dass nein. Und doch finden sich unsere Körper auch ohne uns, deine Hände auf meiner Haut, im Schlaf, forschend, ohne Ziel. Du findest es spannend, wie sich ein weiblicher Körper anfühlt und ich bin überrascht über deinen. Ums Handgelenk trägst du einen blauen Skarabäus mit roter Schnur.
Im Traum eine Zugfahrt durch China, vor dem Fenster die Großbaustelle einer werdenden Stadt mit bunten Rohren und abstrakte Formen, die ich unbedingt fotografieren will. Auch Bäume mit rosa Blüten, halb vom Nebel verschluckt. Doch mein Handy streikt, kein Bild wird abgespeichert. Im Hotel angekommen suchen wir die Rezeption und finden sie im Keller, der Eingang ist so niedrig, dass wir gebeugt hinuntersteigen. Hinter dem Tresen keine Chinesen, auch nicht in der Armee – alles Amerikaner, die hier die Stellung halten. Später sitzen wir in einem überschmückten Raum mit Glitzerelementen, die ich auf eine Schnur auffädle, um hier wenigstens ein bisschen aufzuräumen. Wir decken die Tische in mehreren Räumen für ein großes Fest, zu dem niemand kommt. Wir verteilen die Kuchen unter den Helfern und ich juble jedem ein paar Dinge unter, die ich nicht mehr haben will.
Seit zwei Wochen habe ich einen Ohrwurm. Der geht erst weg, wenn wir das Original gefunden haben. Ich kann die feine Melodie summen, dazu haucht eine Frauenstimme vorsichtig »and I sleep … sleep …sleep«. Doch wie das Lied, zu dem wir in unserer ersten Nacht in Berlin getanzt haben, werden wir es nicht mehr finden in deinem Meer aus Musik.
Im Traum ein Telefonat mit Jana, ihre Stimme kommt aus dem Handlauf eines Treppengeländers, das sich plötzlich bewegt. Ich gehe hinterher, um den Gesprächsfaden nicht abreißen zu lassen, nur rollt es in die falsche Richtung. Dann steht Jana neben mir und fragt, ob wir zur Skihütte spazieren, um heiße Schokolade zu trinken. Als wir ankommen, schließen sie gerade – geänderte Öffnungszeiten aufgrund der Pandemie. Jana spricht von ihren Zweifeln zur Nachbarschaft, der Tratsch, ein Leben lang – hält sie das aus? Doch mag sie das Haus, das von ihrer Schwester umgeplant wird statt von dir, was du noch nicht weißt. Wir brechen auf, sie bleibt ratlos zurück, kurzärmelig im kalten Abendwind.
Im Traum drehe ich eine Runde mit dem Fahrrad, um allen, die ich schon lange nicht mehr gesehen habe, zumindest mal von weitem zuzuwinken. Oma steht vor dem Haus und wird von der Tante abgeholt, die sich jetzt auch mal kümmern möchte. Oma weiß nicht, was sie davon halten soll. An einem Bootssteg treffe ich Christian, dem ich Proviant für seine Reise mitbringe. Und zwei alte Kameras, die ich versehentlich eingepackt hatte vor zehn Jahren, sie gehören ihm.
Im Traum haben wir Besuch in unserer winzigen Wohnung, in der du die letzte Woche allein gelebt hast. In der Küche klebt die Arbeitsfläche, aus den Schränken quillt Brokkoli. Ich suche Tassen für Tee, sie sind verschwunden. Die Gäste sitzen um den Tisch und kratzen die festgetrockneten Kräuter ab. Im Wohnzimmer liegt der Boden voller Dinge, er ist nicht mehr zu betreten. Das ist doch peinlich vor unserem Besuch, der den Tee nun aus Suppentellern trinkt.
Im Traum sind wir bereit für unsere Hochzeit, unsere Familien holen uns ab und parken vor einer Festhalle, alles ist dunkel. Als wir den Saal betreten, geht das Licht an und unser Chor und Orchester singen und spielen nur für uns. Wir sollen auf die Bühne und etwas sagen, wir sind noch so verschlafen, dass wir kein Wort rausbekommen. Ich wünschte, ich hätte doch ein weißes Kleid, so nimmt man mir die Braut doch gar nicht ab.
Dein Schreiben schreibt dem Einen ein Heft unter die Knie. Du weinst dich bei mir aus, wimmerst in Rätseln von deinem Gehen, der Unmöglichkeit des Verlassens deiner Freundin, die doch bei deiner Tour dabei sein wird, als liebevoll illustriertes Schwein auf dem Plakat. Wir sitzen am matschbraunen Fluss, du platzt fast vor Gefühl, sagst aber nichts. In deinem Kopf ist noch alles offen, du willst meinen Rat, der nur von Tagesstruktur spricht. Ein kleiner Junge mit langen Haaren fragt dich vorsichtig, wo das Programm weitergeht. Gleich ist eure Lesung. Wir sitzen auf Kissen im Eingang eines Kinos, ihr unterbrecht euch gegenseitig in eurem Lesen zwischen den Plakaten der Traumfabrik.
Im Wohnzimmer meiner Eltern eine Ansammlung an Sofas für die Quaratäne, Beratung auf Abstand. Oma sitzt mit ihrem Teller am Klavier, da ist Abendsonne. Julia jammert über das zu weiche Bett, während ich am Telefon hänge. Ständig ruft einer an, der behauptet, wir hätten uns mal gekannt. Ich kann mich nicht erinnern und sage nichts, das zieht sich. Derweil fährst du mit Getöse und Anhänger davon.
Schlaflos vor lauter Namen im Kopf.
Im Traum eine Bergschlucht mit reißendem Fluss. Es wird schon dunkel, als wir unsere düstere Ferienwohnung betreten, kaum ein Lichtschalter tut. Die Küche liegt voller Backwaren und im Gefrierfach finde ich eine zerbeulte Cola-Dose, in der ein altes Handy steckt, tiefgekühlt. Das wurde hier versteckt und dann vergessen.
Bei einem Festival mit schlechter Musik Familienknatsch über die Zeltverteilung und Dinge, die auf dem ganzen Gelände verteilt liegengeblieben sind. Nachts drehe ich eine Runde mit Rucksack, um alles einzusammeln, da sehe ich auf der Bühne eine seltsame Performance mit Wurstaufschnitt. In einem weißen Zelt tanzen deine zwei Cousins, um die Tiere zu vertreiben, ich mache mit.
Früher oder später fällt mir ein, dass ich mein Fahrrad nicht angeschlossen haben könnte. Ich suche es überall und finde es unter der Treppe – zu gut versteckt, das war ich selbst. Kurz darauf fehlt es schon wieder. Zwei Jungs machen grinsend eine Testfahrt in immer noch größeren Bögen um mich herum.
Traum von eurem Büro-Umzug in ein schickes Haus mit Aussicht. Überall stehen ausrangierte Möbel der Vorgängerinnen, massenweise CD-Ständer, die ja wirklich niemand mehr braucht. Über einen liegengebliebenen Flyer versuche ich deren Bürostruktur nachzuvollziehen. Im Nebenraum üben die Damen noch schnell für eine Präsentation, alles etwas steif und gekünstelt. Dein Chef testet den neuen Drucker und wartet ewig auf den Ausdruck. Du holst ein paar Sachen aus dem Auto und verläufst dich im Garten. Könnte eine Weile dauern, bis hier alles rund läuft.
Im Traum ein Künstleraustausch, dann überstürzter Aufbruch, der Bus steht schon bereit, doch alles liegt noch voller Kunst und Taschen, die sich nicht so schnell zuordnen lassen. In der Tür steckt der Schlüssel, für den sich niemand verantwortlich fühlt. In der Ecke steht ein bekanntes Kunstwerk aus Holz und Schnüren, eine Klappkonstruktion, die mich schon lange fasziniert. Als ich den Künstler dazu kennenlerne, bin ich verliebt und wir turnen gemeinsam durch sein Werk. Mit großer Verspätung ist alles zusammengepackt und der Bus fährt los. Es ist so voll, dass manche in der Gepäckablage sitzen, direkt über mir die schöne Frau, die ich unaufhörlich anschauen muss, sie streichelt mich unauffällig. Die Reise wird zur Klassenfahrt, auf der Sabine von ihrem Sabbatical im Camper berichtet. Danach muss sie sich entscheiden, wie es weitergeht, Erwachsenwerden lässt sich ja nicht ewig verschieben.
Im Traum schieben wir ein Klavier durch die Straßen von Amsterdam. Es regnet, begleitet von Windböen, die das überhohe Klavier zum Schwanken bringen. Zuvor eine Entwurfsrunde mit Clara und dem Pianisten, der auch stadtbekannter Grafiker ist. Die beiden diskutieren – was ist mein Part in diesem Projekt? Auf einer Brücke fängt mich einer meiner Brüder ab, wir müssen aufs Schiff zu den anderen Prinzen. In meiner Kabine verkündet eine Durchsage, dass das königliche Abendessen stattfindet, trotz Trauerfall. Doch erst mal muss ich raus aus den regennassen Kleidern. Es dauert, bis ich ausgezogen bin und als ich es endlich geschafft habe, bin ich wieder angezogen, also nochmal von vorn. Im Duschraum dampft es aus allen Ecken, bei mir kommen nur ein paar kalte Tropfen raus. Ich wechsle den Raum, doch dort sind nur Klos und die Tür geht nicht mehr auf. So stehe ich da mit meinem Handtuch. Eine Frau öffnet die Tür mit ihrem Schuh, ich schlüpfe hinterher, vorbei an meinen Prinzenbrüdern, die mir vielsagende Blicke zuwerfen. Ich weiß: Bei dem Trauerfall geht es um den Pianisten, um den sie sich gekümmert haben. Ich mochte ihn gern. Beim Blick aus dem Fenster meiner Kabine sehe ich, wie unser Schiff langsam in den Hafen einläuft. Das Anziehen ist noch mühsamer als das Entkleiden vorhin, dann bleibe ich eben hier. Doch wir Prinzen werden erwartet.
Felix und Sven aus dem Nachbarhaus fällt die Decke auf den Kopf. Sie fragen bei der Hausverwaltung, ob sie den Garten im Hinterhof bepflanzen dürfen. Mit handgeschriebenen Briefen an den Kellertüren laden sie zum Mitmachen ein. Nach einer Woche Umgraben und Kampf mit Girsch werden zu Ostern die Primeln und Kräuter eingepflanzt, sogar einen Sandkasten haben sie unter dem Efeu freigelegt. Nach und nach schauen die Nachbarn bei ihnen vorbei, die mit den Kindern zuerst. Sie bringen Setzlinge, Gartenmöbel, Ostereier oder Wein. Wir finden im Schrank noch Samen für Schnittlauch, Rucola, Sonnenblumen und eine Schwarzäugige Susanne, »klettert« hat Mama vor Jahren in ihrer gut gelaunten Schrift darauf geschrieben, als sie noch Hoffnung hatte in unsere grünen Daumen. Beim Wasseranschluss im Keller finden wir einen Schlauch, das geht schneller als mit den Gießkannen zum Wasserholen in den dritten oder fünften Stock. So gießen wir das Werk der Nachbarn und sind gespannt, was hier wohl wächst und was nicht. Und ob sich nach Corona noch jemand um den Garten kümmert. Ein Gartenfest wäre nett.
Im Traum wird Kathi aufgefordert in der Probenpause zu berichten, wie sie Menschen unterstützt in diesen besonderen Zeiten. Stattdessen trägt sie Gründe vor, warum sie es nicht tut und sich jetzt nur noch um sich kümmert. Sie findet kein Ende und das Orchester rutscht unruhig auf den Stühlen herum. Später beobachte ich, wie Kinder dem U-Bahnfahrer zum Dienstschluss ein Eis bringen. Das machen sie jeden Tag, seit fast niemand mehr mitfährt.
Im Vorbeigehen höre ich sein »Strenggenommen« und mein Puls beschleunigt sich, als wäre er noch immer mein Vermieter.
Während wir telefonieren, fläze ich auf dem Bett oder Sofa herum, schaue den Schallwellen zu, knibble an meinem Zehnagel, schaue mir die Tapete schön. Seit wann ertrage ich sie?
Im Traum frage ich in die Tischrunde, warum wir ausgerechnet die Dächer der Häuser in Frankfurt so gelungen finden. Einer kennt sich aus mit Stadtplanungsgeschichte, er erzählt von einem Katalog mit Dachformen und Ziegeln. Dies sei einem Stadtoberhaupt zu verdanken, das auch die Straßen pflastern und den Park anpflanzen ließ, darum die alten Bäume unter denen wir nun sitzen. Die hohen Hocker sind fest im Boden verankert und stehen zu weit weg vom runden Tisch. Ich klettere runter und suche einen, der mir vorhin so gut gefallen hat. Du schaust mir hinterher, lachend und wohlwollend, denn du weißt, ich komme wieder.
Soleier
Das beste daran sind die Grimassen, wenn sich im Mund alles zusammenzieht. Großer Spaß!
Mittagsschlaf in der Sonne auf dem Bett. Alles ruhig in mir, jetzt auch die Haut. Nur langsam machen mich diese Tabletten, von denen schon eine halbe genügt, um mich in einen Dämmer zu versetzen. Es duftet nach gekochter Orange, die du zum Kuchen machst. Du bist wieder da, nach Tagen im Tunnel aus Bildern von Brücken mit Bäumen, zwar hier, doch neben mir. Du schlägst Eier auf den Metallrand der Schüssel, es klirrt und knackt sechsmal. Vom Bett aus schaue ich dir zu.
Die Zeit hat keine Bedeutung mehr. Wie viele Tage sind wir schon hier? Gestern war ich draußen, der Wocheneinkauf, danach war ich erschöpft wie sonst nach einer Reise. Wie anstrengend war unser Leben zuvor. Wie lässt sich ein Weniger leben, weniger Kommunikation, weniger Termine oder Rennerei? Im Sommer wäre es wieder soweit: Eineinhalb Jahre, länger hält doch keiner meiner Büroversuche.
Im Traum bin ich verliebt, er ist toll, wir knutschen auf der Straße, im Schlepptau zwei kichernde Mädchen, seine Schwestern oder die Nachbarskinder? Wir nähern uns der Straße meiner Kindheit, die Häuser haben Augen, also nehmen wir die Treppe – ein Umweg den ich früher schon gegangen bin, wenn mir der normale Weg zu langweilig war. Wir entdecken drei identische Gartenhäuser, die Tür zum zweiten ist offen. Wir schlüpfen hinein und fallen übereinander her. Als er mich küsst und auszieht habe ich keine Zweifel mehr: Er muss es sein! Im Kopf stricke ich an einer Erklärung für die Familie, gleich ist mein Geburtstagsfest, alle kommen wegen mir und ich bin nicht da. Ich versuche die Uhr zu lesen, muss sie dreimal drehen, bis ich verstehe: eine Viertelstunde noch. Da kommt jemand, zwei Kinder mit ihrer Mutter. Wir verstecken unsere Nacktheit hinter dem Tischtuch und beteuern, dass wir gerade gehen wollten.
Im Traum ein Fest, zu dem ich alle eingeladen habe. Ich verspreche ein veganes Buffet und dass ich Joghurt besorge, laktosefrei. Dann vergesse ich es doch und ernte einen vorwurfsvollen Blick von Vera, die ich nicht kenne. Aus Frust schlägt sie sich den Teller voll, noch bevor die Feier beginnt. Sabrina sortiert sich noch und schaut sich um: Wir stehen in einem langen Gang voller Licht und Menschen, der die Kirche mit dem Fest verbindet. Alles leuchtet, wir sind geblendet und werden einfach weitergeschoben ins Sonnenlicht.
Traum von einem Ausflug mit unseren Familien in ein Einkaufszentrum. Papa muss sich erst mal ausruhen und bleibt zum Mittagsschlaf im Auto. Die anderen gehen schon mal vor, Toiletten suchen und etwas essen – es gibt nur japanisch. Im Keller finden wir eine riesige Modelleisenbahn, die extra zu deinem Geburtstag aufgebaut wurde. In der Miniatur-Landschaft sind kleine Kameras installiert, sie übertragen die Zugfahrt für die Gäste auf die große Leinwand. Sie fährt über einen beigebraunen Teppich, den kenne ich noch aus meiner Kindheit. Du baust alle Gleise ab und draußen auf dem Parkplatz wieder auf, nur fehlen dir allerlei Weichen, deine Route ist zu komplex. Du bist so vertieft in das Verlegen der Gleise, dass du deine Gäste vergisst. Deine Familie kennt das schon und beschäftigt sich selbst, meine muss ich erst noch wiederfinden im Labyrinth der Gänge.
Statt in Frankreich in der Ruhe rings ums Schloss liege ich im halbrunden Park vor unserer Tür, umkurvt von Autos, die gerade sicherer sind als öffentliche Verkehrsmittel. Mittagsmüde liege ich im Gras und schaue zu den letzten nackten Ästen vor Blau. Kein Gedanke folgt dem vorherigen, jeder strebt in eine andere Richtung, wie diese Zweige über mir. Meine Haut kribbelt wie jeden April. Besser gleich wieder rein in die pollenfreie Zone, doch kurz Abstand tut gut. Die letzten Tage mochte ich dich nicht. Auch von der Begeisterung für meine Muse ist nicht mehr viel zu spüren, seit wir jeden Abend telefonieren. Inspiriert hat mich wohl doch das Zappeln, das Warten auf seine seltenen und dadurch kostbaren Zeichen.
Jede Bank im Park ist besetzt von ein oder zwei Personen. Ein Vater rennt mit seiner Tochter barfuß durchs Gras. Wie lange ist es her, seit ich barfuß draußen war? Einmal im Winter beim Spaziergang mit dir, ich wollte was spüren. Spitze Steine und kalter Matsch zwischen den Zehen.
Zwei junge Mamas mit Picknickdecke lassen sich neben mir nieder. Das Baby trägt einen riesigen Hut mit Blümchen, darunter runde Backen. Es will aufstehen, braucht eine Hand, dann steht’s und wackelt mit dem gut gepolsterten Po. Samt Decke wird es über die Wiese gezogen, der Sonne hinterher. Krabbelspaziergang durch Gänseblümchen und Löwenzahn Richtung lila Blütenteppich.
Eine Haarsträhne im Wind, ihr Schatten in meinem Buch, die Strähne schreibt mit, der Wind will mir was sagen. Keine zweihundert Meter von deinem Homeoffice entfernt, da liebe ich dich wieder sehr. Du nimmst es leicht, alles. Du vertraust, dem Leben und uns.
Im Traum ein Unwetter mit überschwemmten Häusern. Christian ruft an und sagt, sein Haus treibt davon. Damit sind auch meine Bücher futsch, die ich in seinem Keller gelagert habe. Eine Welle hat gereicht, um alle Kartons durchzuweichen, die Farben der Bücher verschwimmen. Mama sagt, das wars dann wohl mit deinem Verlag. Sarah fragt, ob wir noch zum Konzert wollen. Wundert uns eh, dass das stattfinden darf. Eine Ausnahme, danach wieder Quarantäne. Nur blöd für Christian, sein Haus ist ja weg.
Im Traum sitze ich mit Aaron auf seinem Bett, wir schauen einen Film, der genau zu meiner Stimmung passt. Er hat die Wohnung aufgeräumt, im Flur hängt eine Fotografie vom Flur in spiegelverkehrt – diese Raumaufteilung wäre besser. Er hat ein Faltblatt über mich gestaltet mit Fotos, auf denen vor allem meine Brille zu sehen ist. Wäre ich Optikerin, könnte das so passen. Meine Schwester soll unbedingt meine Foccacia probieren, auch wenn sie nicht mehr frisch ist und fast zu hart zum Kauen. Sie beißt hinein und nickt tapfer.
Im Traum eine Probe mit meiner Band, die zum Wohnzimmerkonzert wird. Ein Gast steht auf und unterbricht uns, um zu sagen, er muss jetzt los. Also hören wir auf und die Tapete wird rosa mit weißen Punkten und vielen Rissen und Bauschäden in der Wand. In der Mitte meines Schlafzimmers hängt eine lange Kleiderstange, vor lauter Kleidern geht die Tür kaum auf. Ständig kommen Leute rein, Bikinimädchen. Marion nimmt mich mit auf ihrem Fahrrad, das uns ohne Treten den steilsten Berg hinaufbringt. Heute beide gestreift, sie hellblau, ich gelb. Oben wollen wir zelten und lernen zwei Jungs kennen, mit denen wir die Nacht verbringen, am Lagerfeuer und später im Zelt – erst da erkenne ich dich, wie schön, so vertraut! Beim Aufwachen eine Melodie im Kopf, die Veronika mit mir geübt hat für ein Quartett. Ob ich das kann, so allein mit den anderen Stimmen?
Mein Mann hat sich den Bart abrasiert, jetzt sieht er aus wie auf den Fotos mit achtzehn. Ich kenne ihn nicht mehr und küsse einen Fremden.
In der Mittagspause wollen wir zu den Tischtennisplatten im Park, doch die sind mit rotweißem Band abgesperrt – dabei wäre der empfohlene Mindestabstand hier nun wirklich gegeben. Die Polizei patrouilliert und hebt bedauernd die Hände, gestern mussten sie sogar ein Paar vom Basketballkorb vertreiben. Zurück in den Nachrichten scheinen mir gesperrte Sportflächen und Spielplätze das kleinste Problem, die Lage in den Krankenhäusern New Yorks liest sich verheerend. Andrea schreibt aus der Geister-Stadt, die nur noch als Hülle besteht: Sie müssen jetzt innerhalb von sieben Tagen ihren Umzug organisieren, es gibt fast keine Flüge mehr zurück nach Deutschland. Über meine Träume muss sie schmunzeln. Auch so träumt sie sehr häufig von Verfolgungsjagden, Terroranschlägen, Zombies und Co, nun mischt sich das mit Naturkatastrophen und humanen Experimenten. Wo ich gedanklich schon in New York bin, schreibe ich Pete, es geht ihm gut, er ist zu Hause und wohnt noch immer in unserer Wohnung in Bushwick, in der er für immer bleiben wird – oder bis der Landlord das Haus verkauft. Er hat jetzt eine Katze namens Ivan und ein Programm für Chrome geschrieben, das ›Coronavirus‹ durch ›Boogaloo Flu‹ ersetzt.
Im Traum gehe ich zu einer Hütte am Rande der Wüste, ich war lange nicht da und hatte vergessen, wie einsam sie liegt. Um die Angst zu vertreiben, singe ich laut und tanze im Garten, der fast vertrocknet ist. Abends entdecke ich zwischen den Kissen ein schlafendes Mädchen. Erst erschrecke ich mich und renne raus, nur wohin? Über mir die Nacht voller Sterne, ringsum Geräusche, ein Rascheln und Knacken im Gehölz. Lieber wieder rein, wo das Mädchen aufwacht und mich beim Kochen unterhält. Später nehme ich mir ein Fahrrad und stelle es zwischen viele andere, wo ich es später nicht mehr finde. Dann nehme ich ein anderes und radle weiter, das wiederholt sich von Halt zu Halt. Das letzte Fahrrad ist ganz hell, fast durchsichtig, selbst die Reifen. Es wird auffallen, wenn das fehlt hier im Dorf.
Im Traum ein Planspiel in einem alten Hotel, wir sollen ein Logo gestalten für die ganze Aktion. Laurenz kontrolliert uns, Zimmer für Zimmer, die haben doppelte Türen. Eine öffnet nach außen, die andere nach innen, beide sind mit verschiedenen Schlüsseln zu öffnen, was mir schon am zweiten Tag zu blöd wird, ich lasse sie nur angelehnt, trotz Wertsachen und Computer im Schrank. Ich wimmle Laurenz ab, um Clemens zu lauschen, der mir von seinen vier Kindern erzählt, jedes von einer anderen Frau, das wusste ich gar nicht. Die Anderen im Zimmer bitten um Ruhe, wenigstens an diesem Ort, also nehme ich den Besuch mit ins Bad. Ein weißhaariger Mann mit Hosenträgern überm roten Pullover legt sich neben mich in die Badewanne. Ich bin auch angezogen, doch mir ist kalt, das warme Wasser will nicht steigen, weil ständig der Stöpsel umkippt. Am Wannenrand versammeln sich immer noch mehr Leute, auch Philipp, der nicht weg will aus Berlin, aber keiner darf mehr bleiben, wir müssen weg. Wir finden eine Mitfahrgelegenheit in Laurenz’ Auto, mit Pizzaofen statt Handschuhfach. Die Pizza belegen wir immer noch dicker, aber sie wird nicht reichen für uns drei. Wir halten bei einem Laden, dort wird mir ein Teller Pasta mit Pilzen aufgetürmt. Als ich bezahle (Vorsicht: Handkontakt!), ist der Teller verschwunden, die Pasta aus und nur noch Gemüse zu haben, kalt. Die anderen warten ungeduldig im Auto, das mitten im Laden parkt. Die Verkäuferin zuckt mit den Schultern und will alles behalten für morgen, es ist ja auch schon nach acht.
Die Tage verschwimmen, alle sind gleich. Brauchen wir Höhepunkte, um die Wochen voneinander zu unterscheiden? Jeden Abend um 20:15 Uhr nehme ich nun eine Serie auf: Andreas, Andrej, Andruschka. Ein Mensch oder drei und ich im Kaleidoskop, in dem wir uns drehen und gegenseitig spiegeln. Ein Mosaik aus Anekdoten, Schnipseln und Fragmenten. Je mehr ich höre, desto weniger sehe ich, wohin. Zerreden wir’s? Und wie fülle ich die Lücken?
Es geht nicht ums Geld, es geht um Leben und Zeit.
So lebendig sind wir nie wieder: Uns verdoppeln, das tun wir nie mehr.
Du bist so sanft, so ruhig. Wird dir mein Schreiben jemals gerecht? Wir versuchen’s, ziellos, ein Experiment. Gespräche, die ich aufnehme, um deine Sprache einzufangen – sie stockt. Ich darf den Wellen nicht zuschauen.
Im Traum jobbe ich in einem Schuhladen, nur dass niemand mehr Schuhe braucht in diesen Zeiten, außer Kinder, die zu schnell wachsen. Um den Laden zu unterstützen, probiert sich eine Stammkundin durchs Sortiment. Ein Mann liefert Kartons und bietet mir an, den Laden zu saugen, zwölf Euro bekommt er dafür, die Münze ist riesig, fast handtellergroß. Mangels Kundschaft hat mir noch niemand gezeigt, wie das alles hier geht. Ich lege mich zwischen den Regalen schlafen. Ein Regal weiter liegt Andreas, erst mit Abstand, doch uns beiden ist kalt, also wärmen wir uns gegenseitig, bis wir eingeschlafen sind. Ich träume von einer Wanderung mit Rast an einem längs halbierten Baumstamm als Tisch, auf den Holzwürfeln drumherum sitzt meine Klasse und neben mir Heike, sie spricht über mich hinweg.
Ich schaue dem Park vor unserem Fenster beim Grünwerden zu, der höchste Baum braucht am längsten. Unten mischen sich gelbgrüne Blättchen ins Braun, an das wir uns schon gewöhnt hatten. Auch ans Drinsein haben wir uns gewöhnt, da bleiben wir trotz Sonnenschein. Warnt mich meine Trägheit vor dem Pollensturm da draußen? Unsichtbar wie der Virus, nur schneller spürbar, quasi sofort. Eine Ampel, meine Haut.
Vielleicht doch ein Buch über einen Protagonisten, der keine Lust hat und keine Zeit. Das Warten auf ein Zeichen, ein Stichwort, eine Geschichte. Also ein Buch über die Autorin. Du traust mir das Erfinden durchaus zu, in den Träumen tue ich es ja auch.
Im Traum ein Tanzworkshop, wir sitzen im Kreis auf dem blassgrünen Sporthallenboden. Die erste Übung ist leicht: Auf Knien gleiten wir ruhig durch den Raum und weichen uns gegenseitig aus, sehr japanisch. Dann finden sich immer zwei Frauen zusammen, als Rampe für einen akrobatischen Sprung der Jungs. Wir fragen den Kleinsten, ob er es mit uns versuchen mag – lieber nicht. Wieder im Kreis wollen zwei Frauen in vielschichtig schimmernden Kleidern nun endlich zum Eigentlichen kommen: zum Schweben. Wir schauen zu, sie konzentrieren sich, Ganz langsam heben sie ab und immer schneller steigen sie nach oben, erst sitzend, dann schwerelos tanzend in der Luft, sie schlagen Purzelbäume und Räder, ihre Kleider wirbeln in rotgrün und lilablau. Den schwebenden Schneidersitz erkenne ich wieder vom Flyer – also kein Photoshop, sondern Magie? Nein, Training, sagt die Kursleiterin. Wenn ich nur oft genug meditiere, kann ich das bald auch.
Im Traum sitze ich mit Mama im Naturpark-Express, wir plündern einen Geschenkkorb, denn die Hochzeit ist ja abgesagt. Sie versucht mir zu erklären, wer genau heiraten wollte, ich kenne sie nicht. Wir besuchen die Eltern der Braut, die Abstand halten: Wir stehen in ihrem Wohnzimmer, sie draußen auf der Terrasse. Nervöses Lachen, bis wir wieder gehen. Der Geschenkkorb wird zum Festmahl in der Wartehalle am Bahnhof, vor lauter Köstlichkeiten vergesse ich den Zug, der ohne mich abfährt.
Sei bloß kein Ringelnatz! Sonst wirst du zum Lesezeichen.
Du, meine liebe Muse, hast mich für heute ausgeladen. Dieser Virus macht dich fertig, dein Labor hält dich fest und weil keiner mehr da ist, musst du jetzt alles selber machen. Chemikalien bestellen zum Beispiel und die Kühlkammer desinfizieren, bis du high bist. Du hast mich nicht nur ausgeladen, ich habe dir auch einen Gegenvorschlag gemacht: Virtuell treffen und gemeinsam in die Oper. Andrej lässt anfragen: Was ziehen wir an? Nichts, entgegnet mein Kopf und ich schreibe: Das rote Kleid. Wonach ist Andrej? Drei vor sieben schickst du mir ein Bild aus dem Labor – also im weißen Kittel in die Oper? Die ist jetzt offensichtlich abgesagt.
Fließender Übergang vom Abendbrot zur Elektroparty, wir löschen das Licht und tanzen nackt, wirklich zum ersten Mal? Noch so viele Dinge, die wir zum ersten Mal tun können. Wer braucht schon Clubs und Festivals – uns reicht dieser Platz auf der Welt, sechsundfünfzig Quadratmeter Freiheit.
Nach fünf Jahren im täglichen Einsatz ist der gelbe Kuli leergeschrieben. Seine letzten blassen Worte: Endlich ein von oben …
Darf ich glücklich sein, in diesen Zeiten? Ich bin da, wo ich immer hin will, bei mir, bei uns. Von hier aus ist alles möglich, so ohne Spiegel. Dir muss ich nichts beweisen. Ich darf komisch tanzen, falsch singen, mich im Ton vergreifen, mich gehen lassen wie der Hefeteig in unserem Ofen, tagelang tun was mir gefällt, ich sein. Danke für dich auf unserer einsamen Insel.
Zwei Dus: Mein Mann und meine Muse.
Im Traum entdecke ich eine leerstehende Villa in rosa, die ringsum mit Bäumen verwachsen ist. Im ersten Stock kommen dicke Wurzeln aus der Fassade, die noch kahlen Äste reichen bis übers Dach. Bald, wenn die Blätter wieder sprießen, wird das Haus komplett eingewachsen sein und im Grün verschwinden, ein riesiges Gebüsch. Ziehen wir hier ein? Nur widerwillig gehe ich zurück zur Brache, zur Besprechung mit dem Lenkungskreis. Eine fragt mich, wo ich gewesen bin und ich erzähle ihr alles: Warum es mir ums Jetzt geht und nicht mehr ums Morgen und dass ich da so ein Thema habe, das zuerst dran ist oder auch nicht. Sie nickt verständnisvoll und hört dann wieder zu im Kreis der Engagierten.
Zu zweit im Homeoffice, eigentlich ganz nett. »Deinen Geschmack möchte ich mal haben«, knurrt Matthias am Telefon. Er schreibt an einer Theaterkritik über das, was uns hier gespielt wird.
Im Traum gehe ich mit Marina ins Schwimmbad. Wir sind erstaunt, dass es noch offen ist. Sie mag im warmen Becken bleiben, ich würde gerne schwimmen, vielleicht zum letzten Mal. Später eine Wanderung mit Raubzug, erst sind wir ein Team, dann beklauen wir uns gegenseitig bis auf die Kleider, uns bleibt nur die eigene Haut. Einer macht ein Ballett zu den wenigen Schritten, die noch außer Haus gegangen werden. Choreografie der Langsamkeit.
Wiederkehrendes Traummotiv: Zu viel Zeugs im Zug ausgebreitet, zu spät das Gepäck zusammengesucht, fast zu spät ausgestiegen. Wieder mit dem Chor unterwegs, Probenwochenende, ich bekomme das allerletzte Zimmer ganz oben, das nur durch eine Luke in der Decke erreichbar ist. Und wieder denke ich: Das kenne ich doch schon aus meinen Träumen, aber diesmal ist es echt. Das Stück haben wir noch nie geprobt, morgen ist Auftritt. Und das Abendprogramm verpasse ich, weil mir niemand Bescheid sagt. Eine meint, dass ich beim Konzert besser nicht mitsingen oder nur den Mund bewegen soll.
»Ich muss zugeben, ich bin ein großer Nebelmaschinen-Fan.«
Ab morgen dann zu zweit im Homeoffice. Nach Corona sind wir statt Architekt und Grafikerin womöglich E-Komponist und Bloggerin bzw. lebenslange Tagträumerin mit Schreibzwang.
Traum von einem Theaterstück in einer riesigen Badewanne. Für das Publikum gibt es keine richtigen Plätze, also setzen wir uns auf den Rand. Wir werden gefragt, ob wir mit normalen Cerealien einverstanden sind oder ob wir Sonderwünsche zum Frühstück haben. Einer beobachtet, dass ich nichts dazu sage und weist mich zurecht. Ich will gerade nicht über Frühstück nachdenken. Dann geht es los: Eine Frau im Hautanzug schleppt eimerweise Pfannkuchenteig zur Wanne, deren Ränder ganz niedrig geworden sind. Zuerst verteilt sie die Masse in einem feinen Muster aus Linien, dann kippt sie alles hinein. Gerade noch rechtzeitig rettet Justyna ihren Gitarrenkoffer vor dem Ertrinken im Teig. Wir bekommen unser Müsli serviert, dann wird die Kulisse umgebaut. Eine Dusche neben einem Herd, alles zu groß, jeder Zuschauer sieht einen anderen Ausschnitt.
Gegenwind beim Sonntagsspaziergang auf Abstand. Sie fragt, warum ich mich nackt ausziehe in aller Öffentlichkeit. Ja, was ist das nur mit dem Veröffentlichen, warum mache ich das? Mutig, meinen so manche, sie könnten das nicht. Ich kann nicht ohne. Ungefiltert und nah mag ich es. Noch suche ich mein Schreiben, mache Fingerübungen, vielleicht bleibt es dabei. Teil der Suche ist der Wunsch nach Resonanz, darum setze ich die Pflänzchen aus im kühlen Frühlingswind. Ganz warm wird es, wenn das Literaturhaus schreibt: Welch schöne Texte, der Ton ist so kurz und einfach und doch so fein.
Im Traum spiele ich in einer Szene mit, von der ich erst danach weiß, dass sie gespielt ist und kein echter Streit zwischen zwei Freundinnen an der Haltestelle vor der Schule, an der kein Bus mehr hält. Meine blonde Gegenspielerin lacht, als die Szene im Kasten ist und spaziert erhobenen Hauptes davon. Kurze Lagebesprechung, dann schiebe ich ein Tablett auf Rädern voller weißer Miniaturen und Architekturmodelle vor mir her zum Bahnhof. Da fällt mir ein, dass mein Rucksack noch vor der Schule steht. Diesmal weiß ich, dass ich träume und mache einen riesigen Schritt über fünf Straßen hinweg, hebe ihn auf und bin wieder da – den Zug verpasse ich trotzdem. Empört schreit mich die Schaffnerin von der Tür aus an. Ich nehme den nächsten Zug, dessen Fenster so klein sind, dass ich nichts sehe und fast meinen Ausstieg verpasse. Statt die Haltestellen anzusagen, plaudert der Lautsprecher munter über die vorbeiziehende Landschaft und unsichtbare Dörfer, die dort mal existiert haben könnten, zu Urzeiten.
Im Traum geben wir ein Konzert, möglichst locker, doch wie? Die Lieder kenne ich nicht. Ich teile das Mikrofon mit Andrea, bewege nur die Lippen, kopiere ihre Gesten. Als sie bemerkt, dass ich sie spiegle, macht sie absichtlich komische Verrenkungen. So schüttelt sie mich ab und ich stehe stumm und mit hängenden Schultern allein im Rampenlicht, bis die Frauen aus dem Publikum die Bühne erklimmen, das Mikrofon ergreifen und schnipsend die Aufführung retten. Ich verziehe mich ins hintere Dunkel der Bühne und gehe. Draußen ist Nacht, die Straße glänzt vom Regen. Ein langhaariger Asiate in schwarzer Lederjacke richtet einen übergroßen mattschwarzen Porsche als Wohnmobil ein. Zwei düstere Typen pöbeln ihn an, ich gehe schnell weiter. Auf der Rolltreppe abwärts stehen die beiden hinter mir und kichern.
Im Traum sind wir mit Opa unterwegs. Du bringst ihn ins Hotelzimmer, wo er sofort einschläft. Später ist er so kalt, dass du ihn ins Auto trägst und den ganzen Tag in der Schweiz herumfährst. Irgendwann fährst du zur Grenze und fragst, was es kostet, einen Geburtstag über die Grenze zu transportieren. Der Zöllner stellt dir eine Rechnung aus. Ich sitze auf der Rückbank, die entgegen der Fahrtrichtung ausgerichtet ist und heule vor mich hin. Plötzlich sitzt Oma neben Opa und merkt erschreckt, wie kalt er ist. Sie wärmt seine Hände und er wacht auf. Ich nehme ihn in den Arm und er fragt, wie alt soll ich denn werden?
Im Traum telefoniere ich laut mit Bene in einem Reisebus, mir egal, dass mich alle hören. Als ich raus muss, habe ich zu wenige Hände, um alles einzusammeln: Rucksack, Schuhe, Schirm, Telefon. Die Bustür schließt sich schon, genervt macht der Fahrer sie nochmal auf für mich. Draußen erzählt Sabine von Schuhen, die Sie unbedingt haben muss: Regenfest.
Besuch in diesen eigentlich einsamen Tagen. Leichtsinnig? Vielleicht. Wir spazieren zu weit hinauf und zu steil hinab für deine feinen Schuhe, doch Auslauf tut gut und ist noch erlaubt, auch für Laborhamster und Computermaus. Zum Essen gibt es bunte Bete und süßen Fenchel, den halben Tag habe ich singend in der Küche verbracht. Nun bin ich müde vor lauter Pollen und überfordert damit, nicht mehr nur ich zu sein, wie ich mich dir schreibe, sondern auch alles, was ich hier in den letzten Jahren aufgetürmt habe und was nicht. Mein Mann kommt heim und ihr testet sein neues Miniklavier, bis ich frage, ob ich dich noch kurz für mich haben darf. Etwas trampelig, auch das bin ich. Könntest du dich klonen, dann würde Andrej mit ihm gehen und Andreas und Andruschka mit mir. Wir sitzen am Boden vor dem Bücherregal und schauen, was für dich passt, eher Seethaler als Kästner, die Frauen lässt du bei mir, bis auf meine Träume, die ich dir gestern gebunden habe. Kurz sprechen wir noch über unsere WG, du fragst, ob ich eigentlich schon dort war. Ich war nur in deiner und die ist zu klein für uns vier. Also sind wir auf Wohnungssuche – und das in diesen Zeiten? Vielleicht diskutieren wir auch schon, ob der Flur nun blau oder glitzernd gestrichen werden soll. Andruschka sitzt mit Drink daneben und mag die Idee der Sonne in der Discokugel – also doch weiß.
Im Traum besichtige ich mit Papa ein Hotelzimmer für demnächst. Dann ziehen sich alle um für die Oper, ich bleibe wie ich bin und gehe schon mal vor zum Bahnsteig, der von Autos umtost ist – zwar alles hübsche Oldtimer in Bonbonfarben, doch unheimlich laut in diesem schwarzen Tunnel. Ein Paar mit Kind macht es sich auf einer Picknickdecke gemütlich. Das kleine Mädchen fragt mich, ob ich mich dazusetze und ihr erzähle, wer ich bin. Wir schauen auf den Verkehr wie auf ein Meer, bis meine Eltern und meine Schwester kommen – alle in rosa Ballkleidern, auch Papa.
Im Traum steht ein Mann im hautengen lila Sportoutfit mit pinkem Stirnband und Tennisschläger auf einem Surfbrett im Wasser und liefert sich mit dem Publikum einen vierundzwanzigstündigen Schlagabtausch. Eine riesige halbtransparente Kugel wabert zwischen ihnen hin und her und gerät immer wieder in Wasserlöcher, aus denen sie nach einigen Minuten wieder rauskatapultiert wird. Ich beobachte das vom Fenster aus, bis sich die Landschaft draußen zu bewegen beginnt und ein riesiger Campingplatz mit bunten Wohnwägen am Fenster vorbeizieht. Vor einem blauen Wohnwagen steht ein Polizist, er hält uns an. Vom Fahrersitz aus erklärt ihm Papa, wie das funktioniert, dass unser Auto, scheinbar fahrerlos, hinter uns herfährt. Papa hat da so ein Gerät, das exakt die Bewegungen des Lenkrads nachvollzieht, die er im Wohnmobil macht. Sowas hat der Polizist noch nie gesehen, er steigt ein und fährt eine Runde mit.
Naomi macht bei einem Flohmarkt mit und ist etwas enttäuscht, wie wenig sie für den Schmuck bekommt, auf den sie mal monatelang gespart hat. Warum sie ihn jetzt verkauft, verrät sie uns nicht. Du und ich schauen uns das Gebäude an, eine Schule, die früher mal ein Bahnhof war. Aus den Bergen führen steile Schienen direkt auf die Mensa zu. Ein ehemaliger Schüler erzählt uns von seiner Befürchtung, die Schule könnte irgendwann einfach losrollen. Er führt uns herum und unterhält sich vor allem mit dir. Er nähert sich dir langsam und küsst dich. Ich halte deine Hand, du bist nervös, dann küsse ich mit. Jetzt ist auch der andere nervös, aber auch freudig überrascht. Geht doch.
Im Traum bin ich zu Besuch in deinem Hamsterrad. Du hast zu tun, aber das macht nichts, ich bin eh gleich eingeladen zu einer Geburtstagsfeier in einem Club. Du bist gerade am Duschen, als ich los muss. Auf dem Herd habe ich noch zwei pochierte Eier stehen, was mir erst einfällt, als die Wohnungstür ins Schloss fällt. Ich klingle dich aus dem Bad, du öffnest mir, ein Handtuch um die Hüfte. Plötzlich haben wir doch Zeit füreinander und essen die Eier, die sich zu Würfeln geformt haben, sie schmecken gut. Deine Mitbewohnerin leistet uns Gesellschaft, ihr beide habt auch Lust auf den Club. Auf dem Weg dorthin verliere ich euch und finde mich in einem Keller wieder. Ich entdecke noch ein zweites Kellergeschoss und frage, ob dort mein Verlag einziehen darf. Der grummelige Besitzer gibt zu bedenken, dass es im Sommer recht dampfig werden kann hier am See. Endlich bin ich im Club, alle sind verkleidet und tanzen, immer wieder werden mir bunte Pillen angeboten, aber die brauche ich nicht. Als ich euch wiederfinde, seid auch ihr verkleidet und im Gesicht voller Glitzer. Du bist schöner denn je.
Der Traum diktiert mir den genauen Wortlaut der Sätze. Die Müdigkeit in mir sträubt sich, doch die Worte wiederholen sich so eindringlich, dass ich zu Stift und Notizbuch greife und mitschreibe:
Wie wunderbar ist das Leben, wenn die Ränder der Tage sich zur Zeit hin öffnen. Man sagt sich, ich sei einer, der den Ball halten solle, statt ihm auszuweichen. Eine Sinfonie klingt durch den Nebel des Waldes, in dessen Mitte unser Schloss steht. Dazu mischen sich die Klänge der Orgel aus den Katakomben. Ein Mann mit Schnauzbart packt seine Gitarre aus, sie ist ganz kompakt, ich darf sie für ihn stimmen. Im Saal finde ich eine Tür zu einem Nebenraum, dort sitzt eine Gruppe Asiaten und wartet. Sie sind aus Taiwan. Als ich gerade anfange sie zu verstehen, blinkt plötzlich ein Blaulicht auf dem Hof. Sie wissen, was das heißt: Das Virus ist da, vielleicht. Das soll jetzt untersucht werden, doch erst mal unsere Autos: Sie benötigen Fotos der Fahrzeuge, dazu Steckbriefe. Wir antworten mit der Nebelmusik, die im feuchten Morgenlicht über das Tal zum nächsten Hügel schwebt.
Schreib mit, jetzt passiert was, dafür hast du dich all die Jahre vorbereitet, das Einigeln geprobt. Die Welt ist krank und bleibt zu Hause. Noch genießen wir den Ausnahmezustand, die verordnete Verlängerung des Winters in den Frühling hinein. Hausarrest. Weil alle zu Hause sind, seien wir jetzt verbundener als zuvor, heißt es. Ich frage dich, ob wir uns dennoch sehen, du hast keine Angst und kommst gern. Verbunden in Zeiten des abnehmenden Programms. Berlin und Frankreich sind abgesagt und Griechenland ist verschoben. Meine Augen weinen, zu viel gelesen und geschrieben, kein Weitblick mehr.
Bald bin ich durch mit deinem Buch. Zwischen Seite 414 und 415 der Abdruck von Sandkörnern im Falz. Zwei Seiten später rieseln sie mir auf den Bauch.
Deine vierundneunzigjährige Oma lässt sich von Corona nicht aufhalten und sicher nicht das Einkaufen abnehmen, sie hat ja schon ganz andere Krankheiten überlebt. Ich überlege, ob ich meinen Nachbarn anbieten soll, für sie einkaufen zu gehen, aber ihr Sohn wohnt ja auch noch im Haus. Der für heute geplante Besuch meiner Omas wird erst mal auf unbestimmte Zeit verschoben. Also passt mein Lebensstil ganz gut zu den Empfehlungen: Ich bleibe im Bett mit deinem Buch ›Abbitte‹, das mich erst einlullt und dann schrecklich leiden lässt: An einem heißen Sommertag erfindet ein dreizehnjähriges Mädchen eine Geschichte, die zur Lüge wird und mindestens drei Leben zerstört. Jetzt Teil zwei, es ist Krieg. Vom Buch wandert mein Blick in die Nachrichten, die ich sonst so gut zu ignorieren weiß. Eine Deutschlandkarte mit steigenden Zahlen an Infizierten und eigentlich wie immer: Lob für Merkels Ruhe und Tadel für Trumps Ignoranz. Im Postfach regnet es Absagen: Keine Chorproben, kein Klassentreffen, kein Workshoptag zum Wohnprojekt. Irgendwie fühle ich mich erleichtert. Vielleicht doch ganz gut, Dinge noch nicht erledigt zu haben, Urlaubsplanung, Geldanlage, Kinderkriegen. Ob gut, ob schlecht, wer weiß das schon? Ansonsten: Wilde Knutscherei im Stehen (was sich überraschend jugendlich anfühlt) in der Küche, die nun nach fast einem Jahr so richtig eingeweiht ist.
»Das Stimmungsschicksal vernetzter Gesellschaften, die den dosierten Umgang mit ihren Affekten noch nicht beherrschen, ist die Verstörung, die sich bis zur Panik steigern kann.«
Bernhard Pörksen: Panik, live auf Sendung
Im Traum bin ich sauer auf dich. Du erzählst mir vom Küssen und lässt mich warten bei einem Wochenende in den Bergen. Dreimal wechsle ich das Zimmer und meine Kleider, trage sogar Ohrringe, irgendwie möchte ich doch besonders sein für dich. Mama macht Kuchen und Torten, die überall im Haus rumstehen. Ich bin versucht zu naschen, einmal angefangen stopfe ich drei Hände voll in mich rein und rede mir ein, das war ja nur ein Rest, so unförmig wie der ist. Am Ende erfahre ich, dass es noch eine zweite Unterkunft gibt und du dort übernachten willst. Na klar, ich bin dir zu viel und du übernimmst jetzt sogar mein Schreiben, das ich in einem Schrank verloren habe. Die Schränke sind geflochten aus Weidenzweigen und stehen zwischen den Tischen und Stühlen im Speisesaal. Alles ist gedeckt für das große Fest, nur du drückst dich.
Du fehlst mir, dabei kenne ich dich kaum. Du bist unerreichbar, habe ich dich darum ausgesucht? Ein weiterer Einsiedler in meiner Sammlung. Ist das jetzt Liebeskummer oder die Traurigkeit über das Vergangensein der zeitlosen Zeit, in der ich mich nur um mich selbst drehen durfte? Mein Mann hätte heute meine Hilfe gebraucht und ich war nicht da, als er ohne Schlüssel vor unserer Tür stand. Ich saß im Vortrag und wollte nicht erreichbar sein, wenigstens für eine Stunde abgetaucht. Er kam derweil bei Anja unter, machte Papierflieger und Maultaschen für Carla. Als ich ihn dort abhole, ist er noch sauer, will eine Entschuldigung von mir. Ich war nicht da. War ich jemals da? Bin ich sonst nicht immer da? Will ich immer da sein? Stell dir drei Tage vor, an denen das Telefon nicht mehr aufhört zu klingeln. Ich werde für meine Geduld bezahlt, für mein Zuhören, Erklären, Beschwichtigen, fürs Durchhalten. Der Druck vor dem Druck. Als das Werk vollbracht ist, wird der Empfang abgesagt. Corona zwingt uns in die Isolation. Erzählst du mir mehr vom Mönchsein?
Drei Mädchen sitzen am Kindertisch und spielen Abendessen, die eine hört nichts, die andere sieht nichts und die dritte schweigt. Wir sind Gäste bei einem feierlichen Empfang und später im Eis am Meer. Wir sind zu dritt, der Mann geht etwas zu nah ans Wasser, wir sorgen uns um ihn. Kurz darauf kommt eine so große Welle, dass wir alle im eiskalten Wasser treiben. Wo ist die Prinzessin? Sie plant ihren großen Auftritt, als alle schon denken, sie sei erfroren. Später bringen wir ein kleines Mädchen zu Bett, auf ihrem Nachttisch stapeln sich Tupperdosen mit Essensresten, die da unbedingt bleiben sollen.
Sie sagt, ich solle mir gut überlegen, ob ich wirklich nochmal das Gleiche machen möchte in blau und grün. Ich will zurück zu den Pflänzchen im Gewächshaus, in die Wärme ohne Gegenwind.
Das Wetter heute ist doch mal wieder wie gemacht für uns zwei!
Traum. Oder Träume? Oft erinnere ich mich an zwei Geschichten, doch nie an ihre Reihenfolge.
In einem Getränkemarkt versuche ich kurz vor Dienstschluss Bier und Wein zu bekommen. Am Eingang strömen mir so viele Menschen entgegen, dass ich kaum reinkomme in das Geschäft. Drinnen sind nur Büros. Ein netter Mann gibt mir, was ich möchte, auch Cola in Riesenflaschen. Ich versuche die Kisten an meinem Fahrrad zu befestigen, es kippt ständig um. Nun muss ich mich entscheiden: Fahrrad oder Getränke. Immer wieder schleiche ich um das Gebäude und auch hinein, auf der Suche nach Kabelbindern oder etwas, das mir ermöglicht, beides zu transportieren. Da schließt sich das Rolltor fürs Wochenende, ich bin gefangen und weder ich noch die Getränke werden rechtzeitig zur Party zu Hause sein.
Meine Eltern sind zu Besuch in meinem winzigen Zimmer. Sie sind so müde, dass wir überlegen, ob sie hier irgendwo übernachten können. Decken und Kissen habe ich genug, nur die Matratze ist viel zu schmal. Mama schaut sich um und alles ganz genau an. Es gibt viele Klappschränke und einen Schrank als Bad, wie in einem Wohnmobil. Die Zimmerdecken sind niedrig und die Wände dicht beklebt mit bunten Aufklebern, darunter eine Tapete, die so stark gemustert ist, dass sie fast einfarbig wirkt.
Übst du gerade?
Spielst du mir was vor?
Warum hast du keine Zeit für mich?
Die kleine Lene war zu Besuch und hat mir ihren quengeligen Ton dagelassen.
Guten Morgen Traumfrau, schreibst du und damit ist der Traum, den ich schon im Halbschlaf festhalten wollte, endgültig weg. Natürlich meinst du meine Träume. Und doch mag ich die Doppeldeutigkeit unserer Korrespondenz – ein zielloses Unterfangen zweier Menschen, die doch nie zueinander finden werden.
Am liebsten am Boden, am Verkriechen und Verstecken. Meinen Tanzbegriff ausweiten aufs Liegen.
»Wer hat jemals was von senkrecht gesagt?«
»Die Vorliebe für Miniaturen ist bezeichnend für einen ordnungsliebenden Geist, ebenso aber auch die Neigung zur Geheimniskrämerei.«
»Waren alle Menschen so lebendig wie sie selbst? … Zwei Milliarden Stimmen, und jeder einzelne fand seine Gedanken gleichermaßen wichtig, stellte gleich große Ansprüche ans Leben und hielt sich, genau wie alle anderen, für etwas Besonderes, dabei war eigentlich niemand etwas Besonderes. Ertrinken möchte man in seiner eigenen Bedeutungslosigkeit.«
»In einer Geschichte brauchte man sich bloß etwas zu wünschen, man musste es nur niederschreiben, und schon gehörte einem die Welt.«
»Der Preis für selbstvergessene Tagträumerei war immer aufs neue dieser Augenblick der Rückkehr, dieses erneute Sich-Wiedereinfinden in das, was zuvor gewesen war und nun noch ein wenig schlimmer schien.«
»Gab es denn nichts anderes im Leben, nur drinnen und draußen? Konnte ein Mensch nicht auch woandershin?«
»… war es doch ein verlässlicher Grundsatz, daß nichts je so geschah, wie man es sich vorstellt, weshalb ihr dies als wirksame Methode galt, das Allerschlimmste schon einmal auszuschließen.«
Ian McEwan: Abbitte
Ich lese in deinem Buch, das du am Strand gelesen hast. Es riecht anders als meine und anders als neue Bücher, auch anders als die Bücher aus der Bibliothek oder aus den Kisten unserer Nachbarschaft, und ganz anders als das Buch, das meine Oma neulich ausgemistet hat – wenn ich darin lese, bin ich bei ihr und fühle mich wohl. Vielleicht ist es ihr Waschmittel, das alles um sie herum so riechen lässt. Wie wohl meine Bücher riechen? Sich selbst riecht man ja nicht. Papier fängt Düfte ein und vermischt sie mit den Geschichten.
Die Idee kam mir vor ein paar Wochen unter der Dusche. Und eben dort lasse ich sie jetzt wieder los. Sie gurgelt noch im Abfluss:
»Willst du es nicht wenigstens mal mit mir versuchen?«
Wieso? Du bist nicht innovativ, wurde mir gestern gesagt, vom Direktor persönlich. Du machst mir nur Arbeit, die keinen interessiert, vielleicht nicht mal mich.
»Ich werde aber wiederkommen, jedes Mal wenn du duschst, dir die Hände wäschst oder trinkst. Und wenn du schwimmst. Auch wenn die Heizung plätschert oder rauscht wie ein Wasserfall, bin das ich. Ich bin überall, wo Wasser ist.«
Und ich bin überall, nur nicht bei mir. Lässt du mich jetzt bitte in Ruhe duschen?
Im Traum hält Matthias einen Vortrag mit musikalischer Begleitung von Gabi und Josh – sie spielt Cello und er Klavier in einer Wahnsinnslautstärke und Energie. Wir wechseln die Räume und setzen uns in Klokabinen, jeder für sich, alle diskutieren miteinander über die dünnen Trennwände hinweg. Die Kabinen werden zum Nachtquartier, manche besuchen sich gegenseitig und feiern bis spät. Zusammen mit Simona schlage ich die Zeit tot bis zum Beginn der ersten Chorprobe, die sich immer weiter nach hinten verschiebt. Es ertönt eine Bohrmaschine als Lärmskulptur.
Klein und naiv fühle ich mich nach dem Telefonat mit diesem lauten Mann, der mir rät, zu zivilem Ungehorsam anzustiften.
Diese Woche lebe ich in einer Welt aus Zahlen. Euros und Stunden, zu viele, zu teuer. Hochstaplerin im Dienst bis spät. Da ist dann kein Platz mehr für Nettigkeit.
Die Mücken in unserer Wohnung – fast habe ich mich an sie gewöhnt. Kohabitation. Am liebsten kommt eine zu mir ins Licht, wenn ich lese oder einen Film schaue, dann krabbelt sie zwischen den Zeilen und Szenen herum.
Im Traum sitze ich in einem Vortrag und kann mich nicht konzentrieren. Neben mir ist eine so begeistert von der ganzen Veranstaltung, dass sie es mir ständig sagen muss. Sie wechselt zwischen den verschiedenen Bühnen hin und her, die Kleinkunst fasziniert sie. Die anderen im Publikum bereiten ihre nächsten Projekte vor und hören nicht zu. Alle senden, kaum jemand empfängt. Keiner will mehr sehen, aber alle gesehen werden. Ich stehe und gehe zwischen gedankenversunkenen Zuschauern umher. Zurück in meiner Bankreihe sagt die von vorhin: »Toll, oder?«
Besuch von Anastasia, die uns Fotos zeigt von ihrem Haus auf Lefkada. Da wollen wir hin, da gehen wir hin, im Mai! Sie zeigt uns ihre Strände und eine versteckte Bucht mit weißen Felsen, weißem Sand und türkisblauem Wasser. Dorthin führt ein versteckter Pfad mit 300 Stufen. Nun ja, wohl nicht mehr ganz so versteckt, Google kennt ihn schon. Am höchsten Punkt der Insel eine kleine Kirche mit Rundblick, im Tal eine Flusswanderung mit Wasserfall. Ich träume mich schon mal dorthin, ans Ionische Meer. Io, Tochter des Flussgottes Inachos und eine der Geliebten des Gottes Zeus.
Zum ersten Mal von dir geträumt, nun also auch nachts: Du durchwanderst eine Wüste und findest einen Fisch, der japsend am staubigen Boden liegt. Du hilfst ihm auf und nimmst ihn mit. In der Zeitung liest du von Udo Lindenberg und wirst gedanklich er. Jemand sieht mich in deiner Kirche, wie ich dich anschmachte, während du spielst. Ich stelle mich zwischen die Orgelpfeifen, dir gegenüber, ganz nah. Du improvisierst, bis Wasser aus den Pfeifen rinnt, erst in kleinen Bächen, dann als Wasserfall, der uns von der Empore spült, ins Kirchenschiff. Jetzt japsen wir und dein Fisch schwimmt munter davon.
Ja, weiterträumen ... bis mich der Aktivschläfer neben mir aus meinem Traum kickt. Nicht nur einmal, nein – erst zuckt er beim Einschlafen, als gerade ein Waldschrat mit zotteligem Bart seinen Kopf schief hält und mich um die Ecke ins Traumland zieht. Dann muss er aufs Klo und versetzt die Matratze in einen Wellengang, als schliefen wir auf einem Wasserbett. Zwei Atemzüge später atmet er so laut, dass kein Träumen mehr möglich ist. Oder doch: Til Schweiger erzählt von seinen Büchern, meine sind schöner. Dann dotzt sein Hintern gegen meinen und der Traum – eben noch alles, was wichtig war – ist unwiederbringlich weg. Sonntag, 6:23 Uhr. Beim Träumen unterbrochen zu werden, macht mich wütend. Da werden mir Geschichten geklaut und mit ihnen das Vergnügen, sie im Halbschlaf zu notieren und später vielleicht zu tippen und dir zu schicken.
Ich schleiche mich in die Kirche und lausche deiner Orgel, deinem Orchester. Das kleinste Notenbüchlein der Welt: Ein Ton pro Seite, einer für dich, einer für mich und so weiter. Komponierst du das Stück? Dann mache ich das Buch.
Warum du? Geht das einfach so wieder vorbei und das Leben weiter? Ich sei immer in Bewegung, immer tut sich was, so dein Eindruck, der mir gefällt. Und weil mir im Leben dann doch zu wenig passiert, klammere ich mich an die Träume mit ihrem wechselnden Du.
Traum von einer Silvesternacht, in der wir die Zeit vergessen. Erst um 0:37 Uhr frage ich Anja, wie spät es ist. Wir liegen uns auf dem Sofa gegenüber, teilen uns eine Decke und sprechen über Ziele fürs neue Jahr, uns fallen keine ein. Die anderen feiern nebenan, wir räumen kurz auf, gleich kommen noch mehr Gäste. Die kleine Carla ist putzmunter und isst Rosinen. Kai steht vor der Tür, fürs Klassentreffen. Später in der Nacht sind wir viele und bereit, ein Verbrechen aufzuklären. Eine Gruppe und einer allein, zur Tarnung.
Du lässt mich warten. Kommt davon, wenn man mit Bakterien und Orgeln verpartnert ist. So wird das aber nix mit deinem Buch. Augen auf bei der Protagonistenwahl!
»Eifersucht ist Liebesneid.«
Wilhelm Busch
»Also die Zitrone beim nächsten Mal vorsichtiger dosieren.«
Immer.
»Beim Cocktail nicht.«
Das ist aber kein Cocktail, das ist ein Salat.
»Und wenn ich Cocktailtomaten reingemacht hätte?«
Zur Einstimmung schickst du mir deine Orgelimprovisation einer bedröppelten Christina im Regen – klingt nach Sintflut, die nach der Eiszeit kommt. Vor lauter Vorfreude mag ich gleich los in den Sturm zum Bus zu dir unter den Schirm. Zur Vorspeise setzen wir uns an die Kirchenorgel, ich traue mich nicht zu spielen an so vielen Tasten nach so vielen Jahren. Lieber lausche ich deinem Sprint durch die Musikgeschichte von Buxtehude zu den Franzosen über Bach ins zwanzigste Jahrhundert. Die feinen Orgelschuhe machen dich zur Märchenfigur und das Orchester unter deinen Fingern spult in meinem Kopf gleich mehrere Filme im Schnelldurchlauf ab. Neben den Tasten liegt ein Heft für Orgelschäden und ein Telefonhörer für einsame Organisten.
Zwei Straßen weiter am Kühlschrank deiner Küche (auch Why-Not-Bar genannt) findet sich für jede Gefühlslage ein passender Spruch. Erst Nachtisch, dann Hauptgang, dazu Wein und zwei Leben. Du beschreibst mich als Briefumschlag, in dem ein Päckchen steckt, wenn man ihn nur aufmacht. Du lernst so viele Christinas kennen heute Abend, eine davon zieht in die WG von Andreas, Andrej und Andruschka.
Und dann fragt er:
»Wovon leben Sie eigentlich?«
Luft und Liebe, was sonst.
Zwei Narzissen, die sich gegenseitig beäugen.
Ich hab mich verguckt, sage ich dir gleich, als ich heimkomme. Du lachst, kennst das schon von mir. Du weißt, da ist ein ganz feiner Mensch, den will ich kennenlernen. Du hast es selbst mal erlebt, wie das ist, wenn ich plötzlich da bin, ganz und gar. Das lässt sich nicht beiseite schieben, das ist dann so. Ich bin verknallt. Vielleicht habe ich mir damit ein Wort aus der falschen Schublade geangelt. Neugierig, interessiert, fasziniert – es geht doch auch eine Nummer kleiner. Doch diese unmittelbare Begeisterung für einen neuen Menschen trifft der Knall doch am besten.
30: Du lernst, dass Glück relativ ist.
31: Es wächst am besten zwischen zwei Zuständen.
Heike Faller / Valerio Vidali: ›Hundert‹
Traum von einem Besuch im Schwarzwald bei Sarahs Wohnprojekt. Ein Gespräch mit Ihrer Bankberaterin und dem Architekten, dabei wollte ich nur mal schauen. Alle trinken Bier und noch eins, ich bleibe beim Wasser und bin müde. Vor mir liegt eine lange Fahrt. Die Handys sind alt und haben keinen Empfang, so kann ich nicht schauen, wann der Bus abfährt. Ich soll noch bleiben und etwas essen vom Zuckerbuffet.
Im Traum entdecken wir einen langen Wurm in der Brotschublade. Wir räumen sie komplett aus, da ist noch etwas: ein blau schimmernder Tausendfüßler, der in der Mitte breit ist wie ein Fladen. Er krabbelt auf eine große Knospe und verschwindet darin. Du rufst mich oder ich dich, wir können uns nicht hören. Du ziehst an einem Faden, der in die geschlossene Blüte führt und wirst ohnmächtig. Das Gift des Tausendfüßlers.
Gegenüber im Zug Vater und Tochter, sie futtert Bifi, er M&Ms. Sie schaut Videos und streckt ihm die Hand hin: »Blau.« Sie wird gefüttert, bis die Lippen blau sind. Dann ein genervter Blick ins karierte Heft. Sonntagabend, ich kenne das Gefühl. Der Vater sucht ein Erklärvideo über Nährstoffe. »Wenn schon Video gucken, dann was Sinnvolles.«
In meinem Kopf hallt der Samstag nach, ein vielstimmiges Plapperkonzert. Zwischen Wandern und Tanzen ein paar Tränen im Zug, mein Gesicht im Spiegel der nächtlichen Scheibe.
Dann eine Begegnung im Tanz, ein Stichwort zum Schreiben, eine Einladung aufs Schloss Vellexon. Tatsächlich! Dieser Ort, den ich so liebe – aus dem wir vorletzten Sommer rausgeflogen sind. Seither suchen wir nach einem neuen Schloss. Nun kommt der Ort zu mir zurück, mit neuen Menschen. Ist es dann noch der Ort?
»Sonntag ist Nordpol für mich. Unerreichbar. Von einer dicken Eisschicht umgeben. Abweisend und kühl.«
Sabine bläst das Licht aus, Stromausfall, selbst das Sturmlicht am Hafen blinkt nicht mehr. Sie lässt die Fenster zittern, zerrt an den Bäumen und macht Wellen wie am Meer. Alle Schwäne schauen in eine Richtung und sitzen wie Rennfahrer vor dem Start auf dem Wasser neben dem Feuerwehrboot. Wer vergibt den Namen meiner Mutter an so ein Unwetter? Keine Bahn fährt, mein Besuch hängt hier fest.
Du schreibst aus dem Bus und verrätst mir etwas (in Klammern), das dich zum dritten Mal auf den Kopf stellt. Jede Woche eine neue Information. Du machst das gut, das hält mich wach und mein Bild von dir lebendig. O Mensch, bewein dein Sünde groß. Während du Orgel übst, finde ich meinen Blog von 2007, meine Zeit in New York. Zeiten der Sünde? Wann warst du im Kloster?
Dieses Stöbern in alten Notizen ist wie ein langer Blick in den Spiegel. Eigentlich will ich das nicht sehen. Was für eine Zeitverschwendung, mir im Spiegel beim Älterwerden zuzuschauen. Später werde ich schreiben, denke ich oft. Vielleicht schon seit ich schreiben kann. Ich schreibe ja längst und dieses Schreiben, seine Entwicklung und Anfänge werden sichtbar in meinem Blog.
Alle scheinen zu wissen, wer du bist. Hat dich mal jemand gefragt? Die Suche beginnt in deinem Innersten. Bist du bereit, da reinzugehen? Und mich mitzunehmen? Was soll ich da? Vielleicht ist Verlieben nur eine Idee, ein Ausbruch aus dem was ist, was ich schon kenne. Eine Flucht vom Selbst. Nur noch du, alles andre egal. Alle Gedanken richten sich an dich. Sie brauchen ein Gegenüber, Resonanz, um ihre Kraft zu spüren. Wie der Sturm da draußen, der den See aufwühlt.
Lieber das Große im Kleinen abhandeln als das Kleine am Großen.
»Es zählt nicht mehr das Erreichte, es reicht das Erzählte.«
Innerhalb von Minuten löst sich der Nebel auf. Erst schaut der Kirchturm raus, dann das andere Ufer. Ich sitze schreibend im Sand der Schmugglerbucht, kneife die Augen zusammen vor lauter Licht. Sonniger Windhauch, in Erwartung auf Wirbelsturm. Lass dich nicht wegwehen!
Dein Leben ist gerade so viel voller und schneller als meins. Das habe ich nach meinem letzten Jahr im Dauerlauf abgebremst, um genauer hinzuschauen. Um mich einzulassen auf das, was kommen mag. Auf dem Weg zeigen sich zarte Blättchen, die gedanklich zu Büchern heranwachsen. Nur das eigentliche Beet liegt brach, egal wie regelmäßig wir gießen. Seit fünf Jahren, wie ich heute in meinen Notizen las.
Auf dem Weg zu meinem geliebten Bodensee hält der Zug jetzt so, dass der Mond an der Oberleitung hängen bleibt, in einer Linie über dem Fernsehturm. Im Gepäck die bislang ungeplünderten Notizbücher meiner letzen fünf Jahre. Rohdiamanten, vielleicht.
Im Traum falle ich samt Rucksack ins Hafenwasser. Die Bootsbesitzer lachen mich aus und helfen mir erst raus aus dem brackigen Nass zwischen den Booten, als ich schreie. Es ist Freitagnachmittag und sie wollen schleunigst raus auf den See. Ich hole den Laptop aus dem Rucksack, seine Tastatur ist jetzt stark gewellt, doch er tut noch. Tropfend trotte ich heim. Schmutziges Geschirr stapelt sich am Straßenrand, da fällt mir unsere Küchenbaustelle wieder ein, spülen dürfen wir derweil beim Nachbarn. Ich trage einen Stapel Teller zur Treppe. Der Teppich, der Boden und auch die Schränke sind dort so verklebt, dass ich alles stehen lasse und gehe. Ich tropfe noch immer.
Singend bin ich durch den Regen geradelt, nachdem ich dich zum Bus gebracht hatte. Meine Gäste waren ja längst weg, selbst die Spuren ihres Besuchs in meiner Abwesenheit. Nur der Geruch verbrannter Pinienkerne hielt sich bis Montagfrüh.
Und bei dir, alles wie geplant? Montag Orgel, Dienstag Yoga, Mittwoch Boxen, nächsten Samstag Oper, irgendwann Hamburg. Und dann?
Zeit für Teil Eins.
Dein Jogurt zum Frühstück gibt mir Rätsel auf. Selbst Schuld – du spielst mir meine verwirrenden Wortfragmente zurück, jetzt ahnen wir beide soviel wie zuvor. Na, du vielleicht etwas mehr, ich bin ein offenes Buch.
Doch halt: Rosarote Sicht!? Sowas hält sich zwischen sechs Wochen und sechs Monaten. Wir sollten uns sehen, bevor sie sich trübt. Oder hält sie länger, wenn man sich nicht sieht? Oder nicht, weil aus den Augen, aus dem Sinn?
Kann ich deine Nummer haben?
Teil Zwei dann mit 64.
Den Vormittag verbringe ich lesend. Den Wortschatz auffrischen, auf der Suche nach Begriffen aus der queeren Szene – als wäre das ein Club, in dem eine verheiratete Frau nichts zu suchen hat. Worte für Schubladen. Und die Zwischentöne? Bekommen ein Plus. Heteronormative Welt, ja, wir sind viele, die Norm, wieviele sind mehr, mehr als hetero und mono, um poly ging unser erstes Gespräch, daran ändert doch Heiraten nichts.
Als Kind wollte ich ein Junge sein und bitte bloß keine Brüste bekommen. Ich war sowas von ein Mädchen, am liebsten unter Jungs.
Mich verstecken, unsichtbar sein. Für Wochen wollte ich das jetzt, Winterschlaf. Und plötzlich diese Lust, gesehen zu werden, mich zu zeigen, schön gefunden zu werden, gefunden zu werden. Wie eine Raupe, die sich über Monate verpuppt hat und nun als Schmetterling schlüpft. Noch immer im Schlafanzug (weil Montag, der gehört mir), doch mit einem neuen Leuchten im Blick.
Wir warten am Bühneneingang, beide an zweiter Stelle, wir werden synchron die Bühne betreten – du rechts oben, ich links unten. Du blickst zu mir, bis das Orchester sitzt, dann gehen wir los.
In den letzten Takten dann ein optisches Phänomen: Ich konzentriere mich so sehr aufs Singen und unsere Dirigentin, dass alles um sie herum verschwimmt und verschwindet. Sie leuchtet, hält die Spannung, die Stille, ich kippe gleich um. Zu wenig getrunken, geblinzelt oder geatmet? Die Luft ist ganz schwer. In Zeitlupe lässt sie den Taktstock sinken, ein letztes Mal, mit uns. Hinter mir eine tickende Uhr.
Applaus!
»Kann es sein, dass wir heute das selbe Hemd tragen?«
»Nein, denn sonst stünde einer von uns oben ohne da.«
Wieder suche ich deinen Blick. Du blickst zurück, länger als ich es aushalte. Was ist das, was mich an dir so angenehm verwirrt? Will ich einfach jemanden neu sehen oder neu gesehen werden? Mich neu erzählen geht vielleicht nur mit einem neuen Gegenüber. Ohne all das, was war oder nicht. Nicht wahr?
Verdis Trompeten im Ohr surfe ich auf meiner Wärmflasche durch deinen Sauerkrautauflaufduft.
Im Traum wohnt Georg in einem Wohnmobil, im Parkdeck über einem Einkaufszentrum. Clara gibt uns eine kleine Führung und lässt durchblicken, wie enttäuscht er ist, dass die versprochene Aussicht ins Grüne jetzt betonverbaut ist. Das Fenster seiner Schlafkoje zeigt direkt auf den Eingang zum Kaufhaus, täglich strömen Menschenmassen darauf zu und alle schauen rein. Auch Max und Vroni berichten von ihrer Hausrenovierung: Sie beschließen, das Dach anzuheben und ringsum ein Fensterband einzusetzen, so wird alles höher und heller.
Nach dem Aufwachen erzähle ich meinem Architekten davon, er entgegnet:»Verrückt, was heute alles geht.«
Es gab mal eine Zeit, da fand mein Leben im E-Mail-Postfach statt. Seither wohne ich hier. Liebesbriefe kamen schon länger keine mehr an und doch erwarte ich immer, wenn ich hier reinschaue (mindestens drei, vier, fünf – ach, wahrscheinlich zehn oder zwanzigmal täglich), dass zwischen all den Fragen, Bitten, Aufträgen, Korrekturen, Informationen und Rundbriefen etwas passiert. Etwas Magisches.
Nach Wochen im Schneckenhaus sitzt du plötzlich neben mir. Ein neuer Mensch! Wir tanzen die halbe Nacht im Dreivierteltakt durch den Spiegelsaal. Am Morgen begegnen wir uns lachend am Frühstücksbuffet. Während der Proben und des Konzerts suche ich deinen Blick – wenn sich nicht gerade die Beine der Dirigentin oder die Kleider der Solistinnen zwischen uns schieben. Nach dem Konzert finde ich dich nicht mehr. Dafür unsere Tanzflächen-Gouvernante Frank, die mir deinen Nachnamen verrät. Dann noch Joghurt dazu und schon bist du zu finden! Ich schreibe dir, drehe und wende die Sätze, prüfe den Rhythmus, Klang und Tanz der Wörter auf unverbindliche Leichtigkeit, und klicke auf das Papierflugzeug. Aufgeregt wie früher warte ich jetzt.
Wahrscheinlich ist das Warten selbst das Magische daran. Vielleicht sollte ich öfter mal ein verheißungsvoll glitzerndes Leuchten versenden. Verdi hat dich wahrlich verzaubert, das sah schön aus. Wollte ich dir sagen.
Im Traum bin ich zu Gast bei Thomas Gottschalk, in seinem Domizil am Wasser. Er empfängt mich in der riesigen Garage, dort stehen ein Gefährt mit unheimlich großer Ladefläche und ein Motorrad. Ich soll ihn interviewen, er flirtet lieber. Ich folge ihm durch lange weiße Gänge, vor den Fenstern nur blauer Himmel und weit unten das Meer. Er zeigt mir seine Kunstsammlung, Skulpturen in obszönen Formen. Eine roboterhafte Bedienstete schaut abwechselnd nach ihm und einem leeren Kinderbett, das sie gedankenverloren hin- und herwiegt.
Er fragt mich, ob ich mein Rad dabeihabe, wir könnten eine Tour entlang der Küste machen. Ich kam mit dem Bus, also nehmen wir sein Motorrad – bis kniehohes Wasser die Fahrbahn überschwemmt. Wie das geht, am Steilhang über dem Meer? Die Felswände sind glatte Wasserflächen, wie riesige Spiegel, die Sonne blendet aus allen Richtungen. Wir waten weiter, ich falle hin und die Strömung reißt mich Richtung Klippe, er greift nach meiner Hand und hilft mir auf.
Nach unserem Ausflug schaut er nach seiner Roboterin. Sie wiegt noch immer das Kinderbett, darin nun ein Berg Penne mit Tomatensoße, sie fallen beide hinein, er stopft sich voll mit Nudeln und vernascht sie gleich mit.
Geträumt vom Philosophen, der mir stolz das Ergebnis seiner neusten Umräumaktion präsentiert: Das Aquarium weg vom Fenster, dafür hat dort jetzt ein Stall für Kleinvieh Platz, es raschelt im Stroh.
Dann mein erster Tag im neuen Büro: Drei Schreibtische und eine Liegelandschaft aus mehreren Betten. Die Tische sind belegt, also bleiben mir die Betten, die ich ans Fenster schiebe. So mag ich arbeiten, liegend und mit Ausblick auf einen weitläufigen englischen Garten. Wenn nur die anderen nicht wären. Können die Schreibtische auch weg?
Liegemöbel sind ein Thema in meinen Träumen. Mag am Schlafen liegen.
Traum von Austern, in denen kleine langbeinige Monster wohnen. Glücklicherweise lasse ich anderen den Vortritt, die wissen, wie man die essen muss, um nicht von innen gegessen zu werden.
Ich beziehe eine Wohnung mit rotem Samtteppich, die Fenster schauen auf die Altstadt. Ich möchte alles umstellen, doch die Vermieterin rät mir, es erst mal so zu lassen, wie es die letzten hundert Jahre gewesen ist. Auch das Kleid, das ich trage, sieht aus wie vor hundert Jahren. Nun denn, probiere ich das mal aus, neue Perspektive. Immerhin – ein Fahrradabstellplatz direkt hinter dem Haus.
Im Traum treffe ich Madame Moneypenny und ich weiß schon alles, was sie über Geld zu sagen hat. So dauert es, bis wir ein Thema finden, das auch sie wirklich interessiert. Ernährung! Und ihre Schuhe, die sehr elegant sind und zu denen sie feine türkisfarbene Strümpfe trägt. Im Schrank sucht sie nach Kaffee, der neben der Brühe steht – das belustigt sie täglich aufs neue. Ich erzähle von New York, sie wittert genau dort in meiner Biografie einen Knick, womöglich hat sie recht.
Im Traum lädt mich meine ehemalige Klassenkameradin Judith überraschend zu ihrem dreißigsten Geburtstag ein. Ich bin etwas irritiert, dass sie erst jetzt dreißig wird, Jahre nach mir. Waren wir nicht alle ein Jahrgang, Dezemberkinder? Dich darf ich auch mitbringen. Als wir ankommen, ist noch kaum jemand da, nur die Familie, Freunde trudeln nach und nach ein. Judith begrüßt uns kurz und muss dann weiter, wir schauen uns um. Der Gasthof ist etwas altmodisch, doch schön vorbereitet. Plötzlich Gejohle und Applaus, ein Gast klärt uns auf: Heute feiern wir Judiths Hochzeit. Die Vorbereitungen sind ein Schauspiel für sich und gleichen einer mühsam einstudierten Choreografie: Der Bräutigam macht Soundcheck mit seiner Band, Stühle werden gerückt und Betten hereingetragen, die Trauung soll im Liegen stattfinden. Der Raum wird abgedunkelt und ich merke, dass ich meine Sonnenbrille trage und die normale Brille nicht mehr finde, also unscharf oder dunkel. Die Zeremonie zieht sich: Freundinnen und Tanten tragen theatralisch Texte vor, dazwischen zahlreiche Auftritte des Bräutigams mit seiner Band, Judith lacht die ganze Zeit, etwas verkrampft. Du gehst zwischendurch raus, die Band ist nicht so deins und Theater schon gar nicht. Dann sehe ich Matthias, der eben erst angekommen ist. Das Programm ist zwar noch in vollem Gange, wir fallen uns trotzdem in die Arme und ich weiß wieder, dass seine Umarmungen die besten sind. Wir lassen uns dann auch nicht mehr los und gehen Arm in Arm durch den Raum, um meine Brille zu suchen. Er erzählt, dass er auch kaum noch Kontakt zu Judith hat und sie sich nur meldet, um zu streiten. Da kommt sie angerannt und gibt Matthias im Vorbeigehen die Hand. Ihr Mann schmettert ein letztes Stück, dann ist es überstanden.
Die Brille finde ich erst nach dem Klingeln des Weckers wieder, da wo sie hingehört, auf dem Nachttisch.
»Das sind Erwachsenenfehler – weißt du, was ich meine?«
Im Traum kollidiert ein spontan angesetztes Chorprobenwochenende mit Naomis Besuch, der mir wichtiger ist. Also schwänze ich die Probe am Freitag und stoße erst Samstagfrüh dazu. Alles ist anders als die Proben zuvor: die Rhythmen, die Aussprache, die Texte, ich komme nicht mehr mit. In der Pause sollen wir die Zimmer aufräumen, zu denen man nur gelangt, wenn man über einen Turm aus aufeinandergestapelten Hockern auf den Schrank springt und dann durch eine Deckenluke klettert. Ich erinnere mich an derlei Aufstiege aus meinen Träumen – das nervt mich so sehr, dass ich gleich wieder abreisen will. Irgendwie schaffe ich es dann doch nach oben. Die Zimmer sind teilweise dermaßen verwüstet, dass nur noch ein Hochdruckreiniger und Renovierung helfen können. Ich konzentriere mich auf die Balkone, deren Bepflanzung wir etwas stutzen sollen und ich versehentlich komplett zurückschneide. Das vormals grün eingewachsene Haus ist nun kahl, die Erntehelfer auf den Feldern ringsum sind entsetzt. Wir gehen zurück in den Gewölbekeller und proben weiter. Jede halbe Stunde fährt ein Bus, der mich von hier wegbringen könnte. Ich verstehe nicht, wieso ich dann doch bleibe.
Im Traum bewohnen wir Sarahs Haus, nachdem sie sich für das Nomadenleben entschieden hat. Es hat so seine Eigenheiten, Schlupflöcher in Wänden, ein tropfsteinhöhlenartiges Bad – generell eher eine Höhle als ein Haus. Dann steht sie vor der Tür und erklärt mir, was ich noch nicht weiß. Zum Beispiel der Typ, der immer vor der Tür herumlungert: Er will hier rein, um im Flur zu pupsen und dann wieder zu gehen. Wenn wir ihn nicht einlassen, kackt er uns vor die Tür.
In der Nachbarschaft wohnt meine Schwester, die wir besuchen, als sie gerade eine Party vorbereiten will. Ihre Gäste sind schon da, alle zwei Köpfe kleiner als sie, doch sie kommt nicht durch, die Arme voller Käse, der ihr jeden Moment zu entgleiten droht. Ich dränge mich durch die kleinen Gäste, um ihr einen Teil abzunehmen, dann fällt alles runter und wird zertrampelt.
Traum und Träume, ineinander verschlungen, wie unsere sechs Beine. Meditation, sagt der Guru, doch wir füßeln und schauen, wie weit wir so gehen können. Ein Junge, gerade mal zwanzig, Marco um die fünfzig, dazwischen ich. Es geht von mir aus, sachte und doch zielstrebig, nur wohin? Wir sehen ein Ritual, das uns Rätsel aufgibt: Ein Mann und eine Frau, die ein Mann sein könnte unter der Perücke, zwischen ihnen eine Fratze aus der Parallelwelt, in der wir nun sitzen. Wir sind alle im Rausch. Ein Tempel oder ein Zelt, das wir abbauen, während wir noch drin sind. Der schwere Stoff drückt uns zu Boden, wir kriechen durch die Farben, Orange und Rottöne. Nach der Meditation gehe ich zu meinem Bett im Schlafsaal, strecke mich darauf aus und überlege, ein Kleid anzuziehen, es ist heiß. Marco schaut mich an, verwundert über meine Initiative vorhin, fasziniert. Die anderen sitzen schon im Gartenkreis: Der Guru, die mit der Perücke, du und alle, die nicht von der Parallelwelt verschluckt wurden. Durch Meditation kamen wir hierher und die bringt uns auch schneller zurück, als uns lieb ist.
Ich hatte die Wahl: Ein Jahr lang Abendschule oder eben so richtig Schule in Vollzeit, dafür nur ein paar Wochen. Ich sitze in der zweiten Reihe, bis zur großen Pause geht alles gut. Dann zeigt mir einer ein Video über die Auswirkungen von Juckpulver, er lacht fies, das Pulver muss hier überall verstreut sein. Ich sehe meine Haut schon blühen und spiele die Alterskarte: Ich bin 33 und will einfach nur meine Ruhe haben, klar?
Nebenbei kellnere ich in einem Restaurant. Der Chef ist streng, doch er mag mich und lässt mich hin und wieder außergewöhnliche Rezepte ausprobieren: Ein Eigelb im Heißgetränk, er leckt seine Finger ab und schaut mich an. Der Pianist lädt mich auf ein Getränk ein, ich bestelle ein Klavierstück, das alle zum Zuhören zwingt. Er vertont die Geräusche im Raum, reagiert auf Geschirrgeklapper, Gemurmel, Räuspern, Lachen – ein Klangteppich als Echo, das langsam verstummt. Alle hören zu, Echo der Stille. Mit den Tasten mein Herz erobert.
Im Traum tauchst du eine Unterwasser-Bahnstrecke entlang, um noch rechtzeitig zum Schwimmturnier deines Büros zu kommen. Ich habe meinen Laptop im Hotel vergessen, rufe an und frage ob er noch da ist. Ist er, aber leider etwas nass.
Ich höre einen Podcast zu Authentizität, während ich Wäsche zusammenlege und die Küche schrubbe. Und dann noch einen über häusliche Gewalt – nirgendwo ist Frau gefährdeter, Mann übrigens auch.
Im Traum besucht mich Rafael – ja, der aus der Abi-Zeit. Wir spazieren durch die Altstadt und er legt seinen Arm um mich. Verheiratet bin ich und doch gefallen mir seine Sommersprossen wie damals. Wenn ich in den Spiegel schaue, sehe ich ein feines Netz aus Falten, das sieht auch er, doch er schaut mich an, als wären wir wieder achtzehn. Er erzählt von seiner Schwester, die noch bevor sie wusste, dass sie schwanger ist, ihren Beruf als Sonderschulpädagogin gegen was Schickes mit viel Geld eingetauscht hat. Das Kind hat von Anfang an bestimmt, das es eine reiche und schicke Mutter haben möchte. Sie fügt sich.
Im Traum bin ich zu Gast in Lenas und Janas Ferienhaus und versuche es aufzuräumen. Alles ist aus dunklem Holz, wie aus einer anderen Zeit, bis auf den Roboter, der den Boden saugt. Plötzlich riecht es nach Gas, ich sehe eine kleine Flamme auf dem Tisch, eile nach oben und entgehe der Explosion.
Im Traum nochmal eine Überraschungsreise von Sarah und Christian, diesmal nach New York, Last Minute für neunzig Euro. Statt uns die Stadt anzuschauen, hängen wir in unserer Unterkunft ab und in einem Laden, dessen Besitzer Aaron kennt und mir stapelweise meiner Bücher abkaufen will. Ich habe Angst vor den Versandkosten in die USA. Im Haus suche ich einen Moment für mich, um auf der Bettkante rumzurutschen, doch alle Wände zu meinem Zimmer haben Türen, ständig kommt jemand rein. Die Mission hinter unserer Reise habe ich noch nicht verstanden, irgendwas mit Würmern in Logos. Ich frage, ob wir Zeit haben, um Pete zu treffen. Auf einem Display steht, dass Patrick mir eine Nachricht geschrieben hat, doch da das Handy am Netzstecker der Kamera hing, ist diese Nachricht jetzt auf der Kamera und nicht mehr lesbar. Na toll.
Im Flur wird das Licht angeknipst, ich höre es durch die Wand, dann rollt der Aufzug aufwärts. Wie früh die Welt aufsteht, obwohl es noch so dunkel ist. Im Osten zeigt sich erstes Licht hinter den Wolken, Ein Blau-Lila-Orange im Schwarz des Morgens. Im Haus gegenüber erwachen die Küchenfenster, ein Schatten mit Tasse stellt sich ans Fensterbrett. Ganz oben ist Licht in allen Fenstern, verschiedene Lichttemperaturen, die meisten davon zu weiß.
»Tropft dein Cembalo eigentlich?«
ernsthaft und absichtlich:
privat, unbeholfen, harmlos und niedlich.
»Die Urform allen Wohnens ist das Dasein nicht im Haus, sondern im Gehäuse. Dieses trägt den Abdruck seines Bewohners. Das neunzehnte Jahrhundert war wie kein anderes wohnsüchtig. Es begriff die Wohnung als Futteral des Menschen und bettete ihn mit all seinem Zubehör so tief in sie ein, daß man ans Innere eines Zirkelkastens denken könnte, wo das Instrument mit allen Ersatzteilen in tiefe, meistens violette Sammethöhlen gebettet, daliegt. Für was nicht alles das neunzehnte Jahrhundert Gehäuse erfunden hat: für Taschenuhren, Pantoffeln, Eierbecher, Thermometer, Spielkarten – und in Ermangelung von Gehäusen Schoner, Läufer, Decken und Überzüge.«
Walter Benjamin: Das Passagen-Werk
Ein gutes Buch zu Ende zu lesen ist wie ein Knick. Selbst wenn ich das Buch noch einmal lesen sollte, werde ich diese Worte nie wieder so lesen können, wie beim ersten Mal. Es gibt kein Zurück in diesen Moment. Manchmal ahne ich das schon beim Lesen, dann markiere ich mir die Seite unten mit einem winzigen Knick, zu dem ich später zurückkehre, nach ein paar Tagen oder Wochen ohne neues Buch an meiner Seite. Oft sind es Textstellen zu eben jener Unwiederbringlichkeit des Jetzt.
Auch ins Leben mache ich manchmal solch einen Knick: Wenn ich schreibe.
Minimalbeobachtungen.
Es ist Herbst geworden. Wie gerne wäre ich die Autorin, die im französischen Sommer kurz angeklopft hat und sich Geschichten zutraute. Doch da ist auch diese andere Seite in mir, die lieber aufräumt, eingekauft und kocht, Steuer und Abrechnung macht, als sich einen Kunsttag in der Woche oder eine Kunststunde am Morgen zu erlauben. Die lieber Daten von 2003 bis 2019 sortiert, als etwas Neues zu wagen. Die lieber eine Neuauflage eines zehn Jahre alten Buchs produziert, das nun den Keller und die Gedanken blockiert.
Im Traum heiratet deine Oma Frida ihre beste Freundin. Lenas Heirat mit Jana hat sie ermutigt, endlich auf sich zu hören, und nicht mehr auf den Dorftratsch. Hochzeit mit 89 und ich bin nicht dabei. Ich bin so mit mir selbst beschäftigt, dass ich die Einladung nicht richtig lese und mir denke, es geht um einen gewöhnlichen Geburtstag, den ich ja ruhig mal verpassen kann, wenn es mir doch gerade einfach nicht gut geht. Gleichzeitig verpasse ich den Kuchen und du wirst bei der Hochzeit nach meinem Verbleib gefragt. Frida ist untröstlich, dass ich nicht komme – das kann ich nicht mehr gut machen. Und ich? Schaue derweil aus dem Fenster und mache nichts, endlich mal nichts.
Duschzwang
Museumspantoffeln
Schallplattenunterhalter
Strickarchitektur
»Die alte Dame neben mir rutscht hin und her. … Ich möchte nicht mehr neben ihr sitzen. In ihrem leeren Blick ist jede Geschichte aufgehoben. Auch meine. Gerade die.«
»Gleich bin ich dran. Obwohl, wer wartet, zur Passivität verdammt ist, ist warten ein aktives Verb. Grammatik ist so beruhigend. Selbst die Ausnahmen können ihr nichts anhaben, machen sie bloß stärker. Vielleicht sollte ich mir herausnehmen, nach Hause zu gehen, noch bevor mein Warten ein Ende findet und einen Sinn.«
»Aber gerade Sie müssen wissen, dass Geschichten nie Antworten auf Fragen geben, sie stellen nur noch mehr Fragen.«
»Danach glaubte ich, in den Moosbetrachtungen auch Anleitungen zum Verfassen von Erzählungen zu erkennen: Die fehlende Wachsschicht des Mooses wurde gepriesen, welche die Pflanze – und damit die Geschichte – durchlässig machte, ohne sie aufzulösen. Dass das Moos keine Wurzel hatte, sondern nur sehr locker am Boden verankert war, und zwar mit Pflanzenteilen, aus denen jederzeit wieder neue Moospflanzen entstehen konnten, erschien mir wie das Verhältnis von Handlung und Sprache. Wie eine Geschichte setzte sich das Moos bevorzugt in Ritzen und Fugen, um dort ungestört weiterzumachen. Es konnte fast überall gedeihen, aber künstlich anlegen ließ es sich nicht.«
Katharina Hagena: Das Geräusch des Lichts
»Ich steckte meine Kugel in die Tasche und ließ meine Hand darin. Und plötzlich brauste ein Gedanke in meinem Kopf …
Was, wenn meine Kugel aus dem kanadischen Automaten vielleicht gar keine Murmel war, sondern dieser Planet?«
Katharina Hagena: Das Geräusch des Lichts
»Mein Vater kaufte sich einen weißen VW-Bus mit einer lauten Hupe, die drei verschiedene Töne spielen kann. Damit hupt er die ersten zwei Takte von ›Im Frühtau zu Berge‹, dann ist Schluss. Einmal habe ich ihn gefragt, warum es gerade dieses Lied sein müsse, und er antwortete, dass es Appetit auf Eis mache. Der Hauptgrund sei jedoch, dass Frühtau, ach Frühtau, ein Wort sei, das eigentlich selbst eine Eissorte sein müsse. Und daraufhin ging er in den Keller und schuf eine neue Eissorte, die er ›Frühtau‹ nannte, ein Quittensorbet. Später komponierte er auch eine Sorte für burnoutgefährdete Deutsch- und Englischlehrer. Sie besteht aus Kumquats, Dörrpflaumen und gerösteten Mandeln, die ein bisschen angebrannt sein müssen, und heißt ›Plusquam Parfait‹.
…
Mein Vater fährt immer dann mit dem Eiswagen herum, wenn er Lust dazu hat, selbst im Winter. Die Leute kaufen sein Eis auch in der kalten Jahreszeit. Auf Anfrage kreiert er Sorten für bestimmte Menschen oder Anlässe. Das ist teuer, aber es gibt trotzdem eine Menge Leute, die gern eine Eissorte haben wollen, die nach ihnen benannt ist. So viele Dinge werden nicht nach einem benannt. Für das meiste muss man tot sein und für den Rest reich.
…
Das Eis meines Vaters ist anders als andere Eise, die man sonst so bekommt. Die Sorten haben Namen wie ›Schulfrei‹, ›Freude‹ oder ›Schöner Götterfunken‹. Aber es gibt auch düstere Sorten wie ›Melancola‹, ›Mathe-Eis‹ und ›Kummerspeck‹. Er hat Eis für jeden Tag in der Woche. Montags gibt es Sauren Apfel, dienstags Zartbitter, mittwochs Grießbreis und donnerstags Rhabarberkucheneis mir Baiser. Die Wochenendsorten sind zwanzig Cent teurer. Das Freitagseis besteht aus eine Kugel Schokovanille mit Pfannkuchenstreifen darin und einem Geheimnis. Das heißt, innen in der Kugel versteckt er eine kleine Überraschung. Meistens ist es etwas zu essen, ein Kaugummi, ein Schokopfefferminztaler oder ein Karamellbonbon. Doch hin und wieder ist es etwas anderes, ein runder Kiesel, eine Muschel oder ein gestreiftes Schneckenhaus. Jedenfalls muss man dieses Eis sehr langsam essen.
Das Samstagseis birgt zwar keine Überraschungen, ist aber dafür eine Riesenmonsterkugel Fiordilatte mit rosaroter Himbeersahnehaube. Sonntags gibt es Mandeleis mit Meersalz in der Konzentration menschlicher Tränen. Das Sonntagseis enthält kaum noch Wasser, sondern ist eher wie kaltes Marzipan. Dieses Eis gibt es auch – mit jahreszeitlichen Variationen – an höheren Festtagen wie Ostern (mit Hefekranzstückchen), Pfingsten (mit rosa Pfeffer) und den Adventssonntagen (mit Apfel, Nuss und Mandelkern). Allerdings heißt es an den Feiertagen ›Kyrieleis‹. Alle Tageseiskugeln kann man ausschließlich an ihren jeweiligen Wochentagen erhalten.
Mein Vater denkt sich auch Eissorten aus, die er nur in Kombination verkauft. ›Stadtlandfluss‹ zum Beispiel besteht aus drei Kugeln, nämlich ›Stadt‹ (Gin und Tonic), ›Land‹ (Milch und Honig) und ›Fluss‹ (Wasserminze). Die Sorte ›Freiheit und Abenteuer‹ besteht aus jeweils einer Kugel wildem Thymian und einer aus Pistazie-Sambal. Es gibt außerdem eine Sorte, die heißt ›Vorfrühling‹ und besteht aus Waldmeister und Jasmin. Eine andere heißt ›Sommer‹, ein Blutorangeneis, unter das er die gelben, orangenen und roten Blütenblätter von Ringelblumen mischt. ›Herbst‹ macht er aus Birne in Rosenwasser und ›Winter‹ aus Sternanis und Kokosmakronenkrümeln. Alle vier Kugeln zusammen kosten so viel wie drei, denn die Jahreszeit, die gerade ist, gibt es gratis dazu.«
Katharina Hagena: Das Geräusch des Lichts
Im Traum packt Julia ihren Koffer, sie muss los, spricht von einer Insel, auf die sie am Wochenende fliegt. Ich kann mir meinen obligatorischen Kommentar zur Klimabilanz nicht verkneifen. Sie wird sauer, schnappt sich ihr Bobby-Car und lässt sich zur Bushaltestelle rollen. Mir tut es leid, so möchte ich mich nicht von ihr trennen, ich laufe ihr hinterher, erwische ihren Bus gerade noch so. Sie drückt mir wirsch ihr Bobby-Car in die Hand und meint: Danke, dann kannst du ja an der nächsten Haltestelle raus und damit zurückfahren. Doch der Bus hält nicht. Nicht bis zum Studentenwohnheim, vor dem wir dann gemeinsam stehen und nicht reinkommen vor lauter Menschen, die ein- und ausgehen oder vor dem Eingang herumlümmeln. Irgendwann schaffen wir es dann doch im Julias WG. Aus dem Bad kommt eine Mitbewohnerin, sie ist nackt und ignoriert uns. Ich versuche, Julia zu umarmen, doch ich komme nicht an sie ran – zu viel zu tun, die Schule, die Reise. Also schaue ich mir eine Serie an. Dann klingelt mein Wecker den ich kurz ausmache, um weiterzuschauen – es klappt. Die Sendung handelt von meiner Hochzeit, den Vorbereitungen und dem fürchterlichen Chaos danach. Eine Biene sticht mich in meine Handfläche. Als ich dann doch aufwache, freue ich mich dass der Stich nur ein Traum war.
Halbzeit. Ich sitze unter dem großen Märchenbaum, dessen Äste wie Stämme bis zum Boden reichen. Es riecht nach Harz, warmen Nadeln und trockenem Gras. Einmal im Jahr sind wir Schlossbewohner, verarmter Landadel oder doch Prinzessinnen, die versehentlich in der Stadt und in der Kunst gelandet sind.
»Die Menschen … können nur im Hier und Jetzt leben, dafür sind sie geschaffen, aber aus irgendeinem Grund denken sie ständig an Vergangenes oder machen sich Sorgen um Zukünftiges. Das kommt mir so komisch vor, und je mehr ich darüber nachdenke, desto mehr bin ich davon überzeugt, daß es nur einen Weg gibt, diese Gedanken rauszulassen, nämlich Geschichten zu schreiben. Ich glaube, indem ich allerlei Sachen über verschiedene Leute aufschreibe, kann ich mir allmählich immer klarer über das werden, was ich selber fühle.«
»Man versteht die selbstverständlichsten Sachen nicht, solange man nicht mindestens einen so kraftvollen Sonnenuntergang gesehen hat. Wir lesen eine Million Bücher, sehen eine Million Filme, küssen den Liebsten eine Million Mal, bis wir endlich begriffen haben: Den heutigen Tag gibt es nur ein einziges Mal.«
»Paß auf, daß du nicht alles so überstürzt wie ich, hörst du! Schau dir das Essen an, das Mutter für dich kocht, den Pullover, den sie für dich kauft. Schau deinen Klassenkameraden ins Gesicht, sieh hin, wenn ein Haus in deiner Nachbarschaft abgerissen wird, sieh dir alles genau an. … Daß der Himmel blau ist, zum Beispiel, oder fünf Finger an jeder Hand sind, daß man Vater und Mutter hat, daß man Grüße mit unbekannten Leuten auf der Straße tauschen kann – es ist, wie seinen Durst mit frischem Wasser zu stillen. Man muß jeden Tag trinken, um weiterzuleben. Das ist mit allem so. Wenn man nicht trinkt, verdurstet man irgendwann und stirbt, genauso ist das. Weil man nicht getrunken hat, obwohl genug Wasser da ist.«
»Als Kind habe ich es immer so traurig gefunden, wenn der Abend nahte. … Die Dunkelheit verdeckte die Zukunft, und der Sonnenschein des nächsten Tages schien unglaublich fern. Die Zeit kam mir dichtgedrängt vor … Kinder haben immer ein untrügliches Gespür dafür, ›daß es das Jetzt nur dieses eine Mal gibt‹. Ihre Arme und Beine wachsen so schnell, daß sie fast das Knarren hören können, deshalb weiß ihr Körper einfach instinktiv, daß es mit dem Jetzt genauso sein muß.«
Banana Yoshimoto: Amrita
Nichtstun. Außer auf dem Bett liegen und mit den Zehen wackeln. Und den Gedanken dabei zusehen, was sie doch für Akrobaten sind.
Wir schlafen im Rosenzimmer. Im Schrank eine Baby-Badewanne und Windeln, im Vorzimmer ein Wickeltisch und ein Babybett. Ich rede besonders laut und locker über die Aufgabe, die uns damit klar vor Augen steht. Jakob seufzt, Sarah lächelt mitleidig, ich schiebe es lachend beiseite und kann mir überhaupt nicht vorstellen, dass mein nächstes Baby tatsächlich eines aus Fleisch und Blut und kein Buch sein soll. Die Aufgabe, die mich findet. Nun erst einmal Regeneration nach Monaten der Disziplin, die diese Projekte brauchen, um vollendet zu werden.
Er sagt, wir machen die Kunst nicht für uns. Wir übernehmen Aufgaben, die uns finden und wenn wir sie annehmen, werden sie zum Auftrag, dessen Umsetzung Disziplin erfordert. Dafür nicht entlohnt zu werden, leiden zu müssen, sei ein großes Missverständnis in der Gesellschaft. Dazu gehört, unsere Ergebnisse zu veröffentlichen, sie in Resonanz zu bringen mit anderen Menschen.
Jedes Jahr sauge ich seine Sätze auf, als wären sie die Wahrheit. Plötzlich bin ich wach und da, vom Sommer warm und offen und empfänglich für derlei Welterklärung.
Nicht weit entfernt rollt Donner durch die Wolken. Ich liege unter den hohen Bäumen im Park unseres neuen Schlosses, ein Schmuckstück mitten in Frankreich. Beim ersten Spaziergang durch den Park ratterten so viele Gedanken durch meinen Kopf, dass ich das Gefühl hatte, nur mitschreiben zu müssen. Die Inspiration eines neuen Ortes und der Freiheit nach dem Projekt. Schon gestern auf der Fahrt hierher vermischten sich meine Schläfrigkeit mit der Musik und produzierten einen Film, den ich gerne aufgenommen hätte. Vielleicht regnet es gleich, ich warte bis der Donner über mir kracht. Krähen krähen auf den Feldern, der Wind rauscht durch die Blätter der Bäume, es klingt wie Musik. Und wie gut es riecht, nach Sommer und sonnentrockenem Laub. Jetzt, der Donner direkt hier. Ist es wirklich meine Aufgabe, mitzuschreiben? Nehme ich sie an? Oder schaue ich einfach der Zeit dabei zu, wie sie vergeht? Ganz langsam und doch zu schnell für das Assoziationsfeuerwerk in meinem Kopf.
Ich schaufle Geschichten in mich rein, ohne große Pausen, mit Vergnügen am Traumtanzen zwischen den Worten. Kurz vor der Ankunft im Schloss ist der Urlaub im Buch zu Ende. Der letzte Satz bringt mich zum Schmunzeln: »Boobs would be cool.«
Jillian Tamaki, Mariko Tamaki: This One Summer
Du musst nicht in jeden Spiegel schauen, der dir ins Auge fällt. Starke Frauen, geht voran als Teil unserer suchenden und fragenden Generation. Ich backe solange Brot und schaue aus dem Fenster dieser etwas zu kleinen Wohnung in dieser komischen Stadt, die ich zu lieben mir vorgenommen habe. Reisen geht ja auch nicht für immer.
»Die als verfallene Ritterfeste gebaute Löwenburg bekommt bald ihren zerbombten Hauptturm zurück.«
Manchmal habe ich das Gefühl, ich wohne mehr in meinem E-Mail-Postfach als bei dir.
Sie wollte uns über den Tisch führen.
Zurück zum Text.
Ins kalte Messer laufen lassen.
Zwei Gänge runterschrauben.
Um das Pferd von Hinten aufzurollen.
Ständig kommt man ins Hintertreffchen.
Dafür ist zu viel Porzellan den Bach runtergegangen.
Ich fühl mich wie die Prinzessin unter der Erbse.
Das reicht ja für keinen müden Finger.
Dann können wir jetzt auch gleich den Löffel in den Sand werfen.
»Glück ist, im Fremden die Nähe zu finden, die man bei Freunden manchmal gar nicht mehr sieht. Oder sich nicht zu sehen traut.«
»Das mag nach ›Schuster, bleib bei deinen Leisten‹ klingen. Aber es heißt vor allem, dass es zuletzt keine Literatur ohne persönliche Erfahrung geben kann.«
Es fehlt nichts.
»… He even came to my thirtieth birthday party in Oakland that doubled as performance art, where I demanded that everyone wear white and that no one speak. In the video of it, Matt is the star, master of communicating through silence—playful, reverent, and true. This is how I will remember him.«
Ivy Johnson, thank you for sharing this memory.
Vor mir liegt eine Woche am See. Die Tulpen duften, draußen das Ufer voller Vögel, nebenan der neue Nachbar, der immer etwas zu laut spricht. Etwas zu laut ist es in mir drin seit einigen Tagen und etwas zu still bin ich. Ich möchte es immer noch stiller, bis hin zum Stillstand, den ich dann nicht mehr ertrage. Mit den Gedanken und Erinnerungen an Matt kam mir auch meine überdrehte Seite wieder in den Sinn. Reisen, Menschen, Ausstellungen, Essen, Lachen, Mitschwimmen in diesem spannenden Leben.
Matt ist gestorben, schreibt mir Cassie. Es dauert, bis ich die Nachricht verstehe. Ich versuche im Internet herauszufinden, was passiert ist. Ein Verbrechen oder ein Unfall, vielleicht beides. Erst war er vermisst, dann fand man seinen Rucksack und später, ganz woanders, seinen Körper. Wie manisch schaue ich meine alten Fotos durch und seine Bilder auf Facebook und Instagram der letzten Jahre. Das ist alles, was bleibt, eine Timeline. Am nächsten Tag ist sie gelöscht.
Den letzten Kontakt hatten wir vor zwei Jahren, als ich in New York war und er in Hongkong. Wir haben uns immer wieder verpasst. 2008 waren wir Praktikanten bei Pentagram, gleich an meinem ersten Tag haben wir uns angefreundet. Bei Matt fühlte ich mich wohl, er war geduldig mit meinem holprigen Englisch, wir lachten zusammen über meine Wortschöpfungen. Ich mochte seine ruhige freundliche Art, seinen Humor und seinen offenen Blick auf die Welt. Gemeinsam besuchten wir Ausstellungen und probierten uns durch New Yorks Restaurants, er nahm mich mit zu Konzerten, durch ihn lerne ich die Stadt und viele spannende Menschen kennen. Er stellte mir seine Lieblingsmusik zusammen, der Soundtrack zu meiner vierwöchigen Reise mit dem Zug durch die USA. Am Tag meiner Abreise zurück nach Deutschland begleitete er mich zum Flughafen. Auf dem Weg dorthin fiel mir auf, dass ich das Ticket falsch gelesen hatte und ich meinen Flug verpassen würde. Matt blieb ruhig und half mir beim Umbuchen, gar kein Problem. Danke, Matt. Für jeden Moment mit dir.
Im Traum bereite ich eine Rundmail an unsere Hochzeitsgäste vor, in der Mustervorlage sitzen seltsamerweise Bilder von griechischen Skulpturen, die Ausschnitte so gewählt, dass vor allem Penisse und Venushügel zu sehen sind. Die Bilder kann ich später ersetzen, nach der Familienfeier. Als mich Justus anruft und verwirrt nach dem Datum der Hochzeit fragt, dämmert mir, dass sich die Mail automatisch verschickt hat und zwar an den ganzen Verteiler. Unverzeihlich. Ich gehe los und treffe Justus auf einer Rikscha, wir werden durch Stuttgart geradelt. Keine Gelegenheit, meinen Fehler zu erklären. Ich wühle in meinem Geldbeutel zwischen ausländischen Geldscheinen und finde glücklicherweise noch einen Zehner, um die Rikscha-Radlerin zu bezahlen.
Im Wind bemalt ein Baum die Holzwand einer Scheune.
Im Naturhoroskop bin ich ein Apfelbaum.
Klappernder Fensterladen dem Wind, draußen ist alles weiß. Heute geht es nach Hause, nach drei Tagen im österreichischen Schnee, in denen zu viel gesagt wurde. Es war laut und emotional, jede Nuance der Stimmungen am Tisch sickerte in mich ein. Ich bin zu durchlässig für diese Art der Kommunikation. Und es schmerzt mich, wenn du in Schussfeuer gerätst.
Im Auto ein aufgekratzter Matthias, der von seiner Jagdausbildung berichtet und von seiner Zeit als Soldat. Davon kann auch Thomas erzählen: Er war Panzerfahrer, während der Rest der Welt Sonntagsspaziergang machte, in bunten Kleidern.
Abends dann noch so ein surrealer Moment: Blinkendes Blaulicht auf der Hauptstraße, lachende Jungs am Straßenrand und ein auf der Fahrerseite liegendes Auto mitten auf der Fahrbahn, umkreist von einer Kreidespur. Polizisten leuchten mit Taschenlampen in die parkenden Autos. Wie schafft man es, bei maximal fünfzig Stundenkilometer sein Auto auf die Seite zu legen? Ich muss weiter, habe kaum Zeit zu gucken und vergesse später, zu schauen, ob die Kreidespur noch da ist.
Als ich den Papiermüll runterbringe, sind die grünen Tonnen frisch geleert, bis auf einen handgeschriebenen Zettel, den ich wiedererkenne: Mein Brief an Fabian, in der Morgendämmerung aufs Papier gekrakelt, im Landeanflug auf Zürich, wo er mich abholen sollte. Sehnsüchtige Gedanken an unsere Körper auf Papier, die da am Boden der Papiertonne kleben. Ausgerechnet. Hat sie etwa jemand extra so platziert, um mir nochmal zu zeigen, was ich da wegwerfe? Ein Stück Leben, zu weit unten, um es zu retten oder zu Konfetti zu verarbeiten, unleserlich zu machen für meine Nachbarn. Vielleicht bleibt es dort kleben. Vielleicht liegen die anderen Blätter auf den Böden der anderen Tonnen. Ich schaue nicht nach und werfe den restlichen Müll einfach so oben drauf.
Im Traum ein neues Schlafzimmer, in dem die alten Pflanzen ihre Blätter hängen lassen und neue Bäume von Bienen umschwärmt sind. Auf jeder Biene sitzen mehrere kleine Wespen, es brummt und ich zieh mir die Decke über den Kopf.
Kurz darauf ein Spaziergang mit Clara. Es ist warm, doch nicht warm genug, um ohne Strümpfe zu sein und ohne Schuhe. Nach einigen Metern ziehe ich die mitgebrachten Socken an und muss feststellen, dass von den drei Paar Schuhen nur noch zwei einzelne da sind. Ich gehe ein wenig zurück, finde einen und stelle fest, dass auch mein Kleid auf links gedreht ist – wieso hat Clara nichts gesagt? Ich stelle mich in einen Hauseingang, fühle mich beobachtet, also betrete ich das Haus und den Aufzug. Der fährt mit mir hoch und runter, ohne anzuhalten. Die Beschriftung der Stockwerke verrät mir, ich bin in der Caritas. Auch keine geeignete Umkleidemöglichkeit.
Ich vermisse dich, obwohl du da bist. Ich vermisse uns, wie wir sind, wenn wir Zeit haben.
Mein Schlaf ist so durchlässig, ganz dünn und zerbrechlich. Ich sehne mich nach Ruhe, nach einem Bett ohne Autokolonnen, die Morgen für Morgen an unserem Schlaf vorbei kriechen.
Traum von Georgs neuem Zimmer und Clara, die ihm beim Einrichten hilft. Auch ich packe mich mit an, trage Bretter raus, arrangiere eine Sammlung an Stehpulten und gebe zu bedenken, dass niemand, nicht mal Georg, so viele Vorträge hält, dass er zu jedem einen anderen Tisch mitbringen muss. Das meiste wird dann doch behalten, das Ausmisten auf später verschoben, denn Georgs Verwandtschaft steht vor der Tür und will bewirtet werden.
Nicht mehr geschrieben, seit die Treppen pausieren, nichts mehr festgehalten, seit alle Fragen von außen wichtiger wurden als meine innere Welt. Geträumt, aber verlernt, die Erlebnisse festzuhalten, bis Papier und Stift zur Hand sind. Gegrübelt und formuliert, doch nur im Kopf. Immer nur im Kopf. ›Immer‹ und ›nur‹ aus den Texten streichen, und ›noch‹ auch.
Wieviele Liter sind das?
Durchschnittlich:
70 Milliliter im Monat
840 Milliliter im Jahr
16,8 Liter in 20 Jahren
Niemand hat sich dieses Datum gemerkt und mit mir den Abschied der Kindheit gefeiert. Keiner sprach darüber, wie schmerzhaft es ist, das Mädchen zurückzulassen und es erst viel später wieder in sich zu entdecken. Das Baby im Kind im Mädchen in der Frau in der Mutter in der Großmutter. Alle da. Alle bin ich.
Es gab auch keine Willkommensfeier für meine Fruchtbarkeit, die erst jetzt interessant wird. Erst zwanzig Jahre später fand ich einen Kompass und einen Reiseführer (nicht schön, doch hilfreich) als Weggefährten für meine monatliche Reise durch das innere Jahr. Jeden Morgen ein neuer Cocktail. Zyklisch leben, das wär doch was. Wer bin ich heute?
»Die Zeit verläuft nicht linear, ebenso wenig die Erinnerungen. Man erinnert sich immer stärker an das, was einem gerade emotional nahe ist. An Weihnachten denkt man immer, das vergangene Weihnachten wäre erst vor kurzem gewesen, obwohl es zwölf Monate zurückliegt. Der eigentlich nähere Sommer von vor sechs Monaten liegt dagegen gefühlt viel ferner. Die Erinnerungen an Dinge, die emotional der Gegenwart ähnlich sind, nehmen quasi eine Abkürzung.«
Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit
»Vielleicht schreibst du nicht auf Papier, doch in deinem Kopf tust du es. Das hast du schon immer getan. Du bist ein Erinnerer und Bewahrer, und du weißt es.«
Benedict Wells: Vom Ende der Einsamkeit
Mit Socken zu Weihnachten kann man der Generation Knöchelfrei wohl eher keine Freude machen.
Wer morgens zerknittert aufsteht, hat den ganzen Tag, um sich zu entfalten.
»Für mich hatte diese Korrespondenz die ursprüngliche Qualität von etwas, das seinen Zweck nur in sich selber findet.«
Eulàlia Bosch in: I send you this Cadmium Red ...
Kennst du eine Abkürzung zum Eigentlichen?
Von wegen viel Gepäck: In Leipzig drängt sich eine dreiköpfige Familie mit sechs Koffern zu mir ins Abteil, bis der Vater merkt, dass sie in die zweite Klasse müssen. Die Tochter bleibt erst mal bei mir sitzen und bewacht das Gepäck, während die Eltern nach einem Sitzplatz suchen. Ihr habt aber viele Koffer, sage ich. Zwei pro Person für eine Woche Dubai, erklärt sie mir. Sie war auch schon zweimal in dem Land mit den Pyramiden. Sie fragt mich, wo ich herkomme. Ich sage, ich war in Berlin, da habe ich einen Freund getroffen, den ich acht Jahre nicht gesehen habe. Das ist aber traurig, sagt sie. Acht Jahre, so alt ist sie. Sie muss weiter, klemmt sich das rosa Einhornkissen unter den Arm, der Vater kümmert sich ums restliche Gepäck.
Linie 9570 – meine letzte Linie an einem der letzten Tage des Sommers. Die Hitzewelle schien endlos, heute dann Kälteeinbruch und Ratlosigkeit vor dem Kleiderschrank. Was trägt man außer Sommerkleider und Sandalen? Wer bin ich, wenn es kühler ist? In den Schaufenstern schon Herbstfarben, dazwischen demonstratives Gelb. Vielleicht ein gelber Regenmantel oder gelbe Gummistiefel? Lieber sonnengelbe Sandalen, ich bin noch nicht so weit.
Nun sitze ich also im Zug zu dir nach Straßburg. Noch steht er. Gegenüber fragt ein Vater seine Tochter: Bist du traurig? Draußen winken die sehr kleine Mutter und der sehr große Bruder, bis der Zug losrollt. Sie verdrückt ein paar Tränen, kramt nach ihrem Pass und zählt die Namen ihrer Freundinnen auf, die sie in Israel besuchen wollen.
Der Zug beschleunigt auf 274 Kilometer pro Stunde, er könnte mehr als doppelt so schnell.
Hunderte Kilometer habe ich in den letzten Monaten im öffentlichen Linienverkehr zurückgelegt, meist sitzend, selten stehend, einmal kauernd (das war nett). Im Dazwischen finde ich plötzlich Zeit, um hinzuschauen und zuzuhören. Man kommt Fremden recht nah, wenn man so unterwegs ist. Manche reisen in ihrem Kokon aus Musik, Film, Arbeit und Lesestoff. Andere blenden völlig aus, dass sie nicht unter sich sind und erzählen offen und laut aus ihrem Leben, manchmal schreibe ich mit.
Sie sieht so traurig aus mit ihren glänzenden dunklen Augen. Der Vater telefoniert leise auf Hebräisch. Auswandern, wie das wohl ist? Eine Linie unterbrechen, um woanders neu anzusetzen.
Plötzlich kommt Wind auf und zerrt am Laub der Bäume, vertrocknete Blätter wirbeln durch die Luft. Nebenan wird ein Fensterladen aufgeklappt, er knallt gegen die Wand. Eine Hand mit pink lackierten Nägeln rangelt mit dem zweiten, der Wind hält minutenlang dagegen. Welch ein Bild, pink auf grün, passend zu den Blüten auf dem Fensterbrett.
»Er wollte noch an etwas denken, doch dann rutschte er im weichen Nebel aus, landete sanft und sank in einen Schlaf.«
»Wenn unsere Augen doch fortgehen könnten, während wir schuften, denkt er. Wir würden arbeiten und sie würden solange über Berg und Tal ziehen.«
Andor Endre Gelléri: Die Großwäscherei
Freitagnachmittag, auch den Linien ist es zu heiß – allen, darum erwische ich noch eine, die eigentlich längst weg wäre und noch eine, die ebenfalls verspätet eintrifft. Draußen steht wartend ein Flamingo im weißrosa Kleid mit beeindruckend hohen Stöckelschuhen. Drinnen gibt es nur noch Stehplätze im Gang. Ich finde einen Sitzplatz auf dem Boden, in der Gepäckablage zwischen zwei Rückenlehnen. Als Kind hätte ich diese Höhle geliebt! Meine Aussicht ist begrenzt auf behaarte Männerbeine mit nackten Füßen in Flip-Flops und Nadelstreifen zu Lackschuhen. Dafür sitze ich ungestört und störe auch nicht das Geschiebe der Passagiere, die samt Koffer, Rucksack und Reisetasche unbedingt weiter müssen, von hinten nach vorne oder von vorne nach hinten. Bis jeder feststeckt und zwangsläufig bleibt, wo er ist.
Gegenüber sitzt einer in kurzen Hosen dermaßen breitbeinig, dass die Frau an seiner Seite kaum Platz hat. Sie, unscheinbar, fast unsichtbar. Er, braungebrannt von Kopf bis Fuß, die Beine voller Zeichnungen, die Haare blondiert, Kopfhörer auf den Ohren, die Hände trommelnd, die Lippen zum Kuss geschürzt. Nicht für sie – für alle, die ihn sehen sollen. Höhnisch schaut er mich an. Ich muss lachen und bin schnell weg.
Und immer wieder Linie 1. Als würde ich Fahrt um Fahrt von vorne beginnen – stets die gleichen Wege. Im Vierersitz nebenan ein Gespräch über die bevorstehende Hallenhochzeit bei 32 Grad. Der Mann in Anzug und Fliege konzentriert sich darauf, sich möglichst wenig zu bewegen, um nicht zu zerfließen. Die Freundin hält ihre Hand über seine glänzende Frisur, um zu spüren, ob er dampft. Die drei Damen tragen luftige Blumenkleider zu knallroten Lippen, lange Ohrhänger und Glitzer-Pömps. Nur die großen Rucksäcke passen nicht dazu. Eine der drei soll fotografieren, dabei kann sie das doch gar nicht professionell. Ein Hund ist auch eingeladen – Empörung über mangelndes Feingefühl – zu wenig Auslauf und die armen Allergiker. Selbst Harriet hat ihr Baby abgegeben, wäre ja auch zu anstrengend. Und dann noch die zerstrittenen Familien, das kann ja heiter werden.
Zwei neue Nebensitzerinnen, die atemlosen Sorgen einer Mutter über ihren Sohn: Er möchte sich ihrem Tempo anpassen nur wie soll das gehen er hat einfach noch nicht die Richtige gefunden sie ist Jahre jünger und hat ihm spontan erklärt dass sie ihn mag weil er so anders ist er mag sie auch wenn nur die Schulfrage geklärt wäre er macht drei Kreuze dass er die Mathelehrerin los ist aber wie soll es weitergehen. Die Mitreisende nickt nur, der Sitznachbar drückt die Stöpsel tiefer ins Ohr. Nächster Halt: Goldberg.
Bis Böblingen starre ich auf die Gleise. Faszinierend, wie schnell die Augen von einem Fixpunkt zum nächsten springen.
In einer Tasche ein Kläffen. Nein. Wuff. Nein. Wuff. Nein. Daneben drei Oberstufenschüler mit kurzgeschorenen Haaren und Zeugnissen in der Hand. Sie zeigen sich gegenseitig ihre Beurteilungen, einer liest vor: Stets pünktlich, zuverlässig, vorbildlich. Gelächter, ein Gemisch aus Häme, Neid und Anerkennung.
Regentropfen malen Linienmuster auf die Scheibe. Vertikal und diagonal nach links unten. Einer steigt ein, dem fehlt die Nase, stattdessen ein flaches Pflaster über dem Schnurrbart. Und um die Ecke plötzlich ein neues Gebäude, Linienstruktur aus Stahlstreben.
Und wieder Linie 2. Die Hitze steht zwischen Anzügen und neben nackten Armen und Füßen, die auf Koffern liegen. Einer sagt: Vier Jahre keinen Urlaub, dann drei Wochen Stuttgart.
Ich trage einen überdimensional großen silbernen Teller unter dem Arm. Von vorne und hinten gesehen eine Linie, von links und rechts ein Kreis.
Nebenan geht es um Kosenamen: Eine Beziehung, in der dir nach ein paar Wochen immer noch nichts einfällt – ein schlechtes Zeichen. Nie im Leben wäre sie auf ›Augenweide‹ gekommen, jetzt findet sie es übelst lustig. Aber nicht in der Öffentlichkeit! Fünfzig Mal ›Schatz‹ an einem Abend, das nervt doch.
Beim Anfahren verselbständigt sich mein auf dem Boden abgestellter Kreis, klappernd rollt er rückwärts, dann wieder vorwärts, bis mein Fuß ihn bremst und gegen die Wand drückt, bis wiederum der Fuß kribbelt und krampft.
Den da in der weißer Latzhose kenne ich doch irgendwoher. Gedanklich gehe ich alle Läden des Viertels durch und werde fündig: Dem gehört das Farbengeschäft. Immer wieder verwirrend, Ladeninhaber außerhalb ihres Ladens zu sehen. Daneben eine elegante ältere Dame mit goldenem Armreif, der den halben Unterarm umfasst.
Meinen silbernen Kreis gebe ich ab, der war nur ausgeliehen.
Ohne einen Blick für die vorbeiziehenden Felsen, Wälder und Kornfelder betrachten sich zwei in der Spiegelung der Scheibe: Zahnspangen und künstliche Wimpern, im Nacken ein Pickel und etwas Sonnenbrand. Sie lümmeln auf den Sitzen, drücken ihre Schuhe aufs Polster, lösen sich gegenseitig die Schnürsenkel und besprühen sich von Kopf bis Fuß mit Himbeerduft. Die Wolke umhüllt sie wie ein Privatabteil. Sie sehen uns nicht oder durch uns hindurch auf sich im nächsten Spiegel.
Im Traum treffe ich eine Frau in hellgrauer Kutte mit wunderschönem Gesicht, alterslos. Ich setze mich zu ihr und weiche nicht mehr von ihrer Seite. Selbst als Schüler die Hallen fluten und klar wird, die Lehrer müssen raus – Schüler an die Macht, zumindest für einen Tag Schülerstreich. Vor der ruhigen Aura ihrer Rektorin haben sie Respekt, auch vor mir, die ich so entschlossen neben ihr sitze und lausche. Ich begleite die Nonne nach draußen. Sie spricht vom Ende der Sechzigerjahre, als sie nach Indien in ein Kloster ging, dabei lächelt sie in die Ferne der österreichischen Landschaft.
Wir feiern hier in einer Scheune eines der vielen Feste, die ein großes ersetzen sollen. Zu Gast sind auch zwei Frauen mit seltsamen Auswüchsen am Hals, wie fleischige Bärte, mit Haut. Das bringe das Kinderkriegen mit sich, zumindest bei Mädchen, erst nach Jahren bilde es sich zurück. Sie zeigen mir ihre Tricks, wie sie es in der Kleidung verstecken. Das funktioniert gut, daher hatte ich so etwas vorher noch nie gesehen. Da spricht auch keine drüber, sagen die Frauen und schütteln sich lachend. Sie tanzen, verstecken nichts mehr.
Nun feiern schon die Nächsten mit großer Tafel, an der noch Platz für uns ist. Du setzt dich ans andere Ende, möchtest nicht stören. Ich winke dich zu mir und du kletterst umständlich über den fein gedeckten Tisch und die Beine der tafelnden Gäste.
In der Nähe steht ein Baum, darunter eine Picknickdecke, auf der ich Anja zu erkennen glaube. Ich gehe hin, sie ist es und begrüßt mich, als hätten wir uns nicht vor Jahren sondern gestern erst gesehen. In ihrem Nacken erscheint ein Baby und noch eines, sie winden sich um sie wie Würmchen um ein Turngerät. Anja beachtet sie kaum und spricht lässig weiter über ihre Zeit in Schweden und München.
Im Traum sehe ich von Weitem Dennis, er will gerade gehen. Am Ausgang fange ich ihn ab und wir verabreden uns, wir haben uns Jahre nicht gesehen. Zum Abschied küsse ich ihn, wir lachen, er geht zu seinem Date und ich gehe wieder rein. Drei Tage Feiern haben ihre Spuren hinterlassen. Jemand baut verschiedene Bionade-Sorten zu einer Flasche zusammen, unter Gejohle wird versucht daraus zu trinken. Der Boden klebt. In einer ruhigen Ecke spreche ich mit Bettina, dann verschwindet sie in einem Zelt, in dem ihr neugeborenes Baby weint. Nach unserem Fest lassen wir alles stehen und liegen und gehen einfach los. Jedes Mal wenn wir kurz nach Hause kommen, sind wir überrascht, dass es noch immer so aussieht, als wäre die Party gerade erst vorbei. Dann gehen wir wieder.
Schwarz die Kleidung, die Schirme und auch die dicke Regenwolke über uns. Der erste Regen nach einer langen Reihe an Sonnentagen. Der Himmel weint mit.
Als Kurt uns vor dem Jahreswechsel das letzte Mal sah, weinte er beim Abschied. Dann wischte er sich die Tränen ab und winkte uns lachend auf seinen Stock gestützt mit einem weißen Taschentuch hinterher. Wie früher in Metzingen, als mein Vater noch klein war. Damals hatte Onkel Kurt immer ein Tischtuch geholt und gewunken, bis das Auto mit seinen Neffen um die Kurve bog.
Wie sie dann einfach endet, so eine Lebenslinie. Und was für eine: All die tragischen Umbrüche und mutigen Neuanfänge hätten für drei Leben gereicht. Ich lausche den Geschichten über den Lausbub, dessen Schabernack die DDR veranlasste, ihn mit 18 Jahren des Landes zu verweisen. Ein Dandy mit Stil, stets in Anzug und Krawatte, voller Frohsinn, Optimismus und Hilfsbereitschaft. Sein Vermächtnis: Denkt an mich, wenn ihr einem hilfsbedürftigen Menschen begegnet.
Der Friedwald, in dem wir Abschied nehmen, hängt voller Tropfen. Einzelne Sonnenstrahlen fallen durch das grüne Blätterdach. An den Buchen hängen Schilder mit Namen, bis zu zehn pro Baum.
Später im Waldhorn steht ein guter Freund aus Jugendzeiten auf und sagt: Wäre er hier, unser Hardy und euer Kurt, er wäre verwundert, wenn ich nichts sagen würde, darum sage ich jetzt was. Er würde nicht wollen, dass wir um ihn weinen. Statt Schwarz sollten wir Weiß tragen, die Farbe der Hoffnung und der Freude. Wir sollten gemeinsam feiern und uns freuen, dass er da war, und dass er war, wer er war.
Die sieben Minuten Fußweg schaffe ich in vier, wenn ich renne – was ich immer muss, weil mir, egal wieviel Zeit ich habe, kurz vor dem Losgehen noch etwas so Wichtiges einfällt, wie die Spülmaschine auszuräumen (das reicht noch gut), die Blumen zu gießen (ach, immernoch genug Zeit), die Fensterläden zu schließen (jetzt sollte ich aber los) und dann doch noch die Zähne zu putzen (oh, jetzt aber wirklich). Die Schuhe binde ich im Aufzug, während ich mit wenigen Klicks meine Fahrkarte kaufe und hoffe, dass unser WLAN bis ins Erdgeschoss reicht oder dass das mobile Netz diesmal rechtzeitig übernimmt. Die Fahrkarte konnte nicht heruntergeladen werden. Also renne ich, schwer bepackt, den Blick und die Finger auf dem Smartphone, die klackernden Schuhe verfluchend (dass sie so unbequem sind, hatte ich vergessen) den Berg hinab, bis mich ein weißwolliger Hund begeistert oder verstört, aber vor allem laut anbellt und bremst. Jetzt bin ich so richtig wach. Noch zwei Rolltreppen voller müder Menschen (Entschuldigung, darf ich bitte durch), dann unten, gerade noch rechtzeitig, Linie 1, die Türen noch offen, geschafft. Wie immer.
Vier Minuten Umsteigezeit von Gleis drei auf Gleis acht. Treppab, Treppauf, Warten.
Zwei Linienscharen aus Hochspannungsleitungen. Die einen parallel, die anderen diagonal zu uns. In Wellen, von Mast zu Mast.
Die Umgebungskarte empfiehlt mir Luftlinie und behauptet zwei Minuten Fußweg – von Treppen, Gedränge, dem Umweg um die Baustelle und einer roten Ampel weiß sie nichts. Ich renne durch Pfützen, das Wasser spritzt in alle Richtungen, die Uhr ging vor, Linie 4 steht noch da und nimmt mich mit.
Einer mit Sicherheitsnadel am Hut und Ringen an Nase und Ohr fischt nach Fahrgeld in seinem überweiten Hosenbein und in den überhohen Schnürstiefeln. Ein Loch in der Hosentasche, schnieft er entschuldigend. Er rüttelt am Stoff und braucht drei Haltestellen, bis die Münzen über den Boden nach hinten kullern.
Als wollte mir das rote Lämpchen des Rauchmelders sagen: Ich sehe genau, dass du blinzelst und nicht schläfst.
Telenovela zu halb geschenkten Johannisbeeren.
Jetzt musst du Bier gucken und Fußball trinken.
Jaja.
Nanu?
Aha.
Soso.
Naja.
Nö.
In Linie 6 hält einer ein Brett, Fabian R. steht da drauf, geometrische Buchstaben, sorgfältig ins Holz gefräst. Ein übergroßes Namensschild für einen übergroßen kleinen Jungen in Schreinerhose. Seine Hände halten sich am Brett, während er einschläft. Sein Kopf kippt immer wieder ruckartig nach vorn, bald auch das Brett und mit ihm der junge Mann und vielleicht auch sein Sitz und bergauf dann auch die ganze Linie 6.
Und so verharrt sie in der Rolle des Mädchens, das nicht erwachsen werden will. Flachbrüstig, in Röcken und klobigen Schuhen, unfrisiert, trotzig, gelangweilt.
Linie 2, wie immer zu spät. Ein ›Immer‹ dürfte ich mir gar nicht erlauben, gehöre ich doch nur für zwei mal drei Tage zur pendelnden Arbeiterschaft, die ich von außen als eingeschworene Gemeinschaft sehe – ein leicht spürbares Wir im morgendlichen Schweigen und Blickeausweichen. Ich gehöre nicht dazu, bin Touristin im Linienverkehr. Linie 2 zuckelt also gemächlich durchs fette Maigrün, meine Augen trinken gierig davon, welche Pracht! Für einen Moment ist der Weg das Ziel. Dann, im Tunnel, kurz vor ihrem Ziel, wird sie noch langsamer. Und immer noch laangsaaaammeeeerrrrr. Ich versuche sie gedanklich anzuschieben und rede ihr gut zu: Komm schon, nicht stehenbleiben, es ist nicht mehr weit, gleich sind wir da, nur beeile dich, bitte beeile dich, wenigstens ein bisschen. Sie lässt sich nicht aus der Ruhe bringen, rollt langsam aus und bleibt erst stehen, als aller Schwung weg ist und auch Linie 74. Ich sitze fest, im sonnenwarmen Nirgendwo.
Der Reiz des Verspeisens von Nasenpopeln hat sich mir schon als Kind nicht erschlossen. Tatsächlich soeben gesehen, schräg gegenüber in der Linie 74. Immerhin sind sie dann aufgeräumt.
In Erwartung einer längeren Strecke habe ich es mir lesend und schreibend in der Linie 3 bequem gemacht. Fast so bequem wie heute früh im Bett (bis ich bemerkte, dass der Mann neben mir fehlt, er hat die Nacht im Büro verbracht, daher die außerordentliche Ruhe). Und fast so bequem wie wenig später der Zahnarztstuhl – wirklich sehr bequem, in allen Positionen (wäre da nur nicht das helle Licht und die meine Stirn kitzelnden langen Haare der professionellen Zahnreinigungskraft). Danach etwas unbequem: Ein schwarzer Badeanzug in der Umkleide, zu eng am Po, größer nur in grün, dann lieber nicht. Sehr bequem: Das Mittagessen steht schon auf dem Tisch, als ich zu spät komme. Nachsicht. Und dann Nachlässigkeit: Die Handtasche im Lokal vergessen, samt ungelesener Nachrichten. Zumindest deine hätte mich durchaus interessiert. Mein Glück: Die Tasche wurde gleich entdeckt und verwahrt, deine Nachrichten warten bis morgen auf mich. Vielleicht ist es, nach all der Aufregung, nun gerade deshalb so bequem. Keine Nachrichten, keine Aufregung. Huch, schon da!
Von wegen, keine Aufregung: Überstürzter Aufbruch (äußerst unbequem), meine Sachen geschnappt, raus aus Linie 3 und gerade noch rechtzeitig zur Linie 826 geschafft. Die holpert und verunmöglicht mir mein Schreiben. Sie zittert, wackelt und kurvt, so auch mein Stift.
Am Anfang war die Linie. Linie 1. In der sitze ich nun und versuche mich in deinem französischen Text zurechtzufinden. Linie 1 um kurz nach eins, voller Schülerinnen und deren Blicke auf mein Schreiben, das nicht weiß, welchem Gedanken es zuerst folgen will. Mein Kopf – ein Knäuel aus Linien, die sich entwirren, die straff gezogen werden, je länger die Reise geht. Linie 1 ist zu kurz dafür, gleich muss ich raus und weiter. Vielleicht sind es gerade zu viele Linien, denen ich folge. Die Punkte sind gesetzt, Anfang und Ziel, vielleicht ein paar Zwischenstopps. Manchmal dauert es Wochen, bis ich die eine oder andere Linie wieder aufnehme, sie in Punkten oder Strichen wie Trippelschritten dem nächsten Etappenziel näherbringe. Ob gepunktet, gestrichelt oder durchgezogen – gerade ist keine dieser Linien. Sie winden sich, schlagen Wellen, zeichnen Umwege in Richtungen, die nie geplant waren. Am Ende ziehen sie sich straff und behaupten, stets zielstrebig gewesen zu sein. Dem traue ich nicht, niemals. So sehr ich es mir manchmal wünsche – wie eintönig wäre doch diese Geradlinigkeit: Nie würden zwei Linien sich kreuzen oder ablenken und in neue Richtungen locken. Eine jede strebte stur ihrem Ziel entgegen, ohne nach links und rechts zu schauen, rücksichtslos und unbeirrbar. Magisch wird es, wenn zwei sich treffen, einander stupsen, sich gegenseitig schieben und ziehen, umeinander winden, eins werden. Linie 1.
Ein Blick aus meinem Küchenfenster: Blauer Himmel mit weißen Wolken, Wind rauscht durch die Bäume im Hinterhof, Vogelgezwitscher, ein weinendes Baby auf dem Balkon nebenan, den ich nicht sehe. Wir kennen uns vom Hören, wohnen Wand an Wand. Wir leben hier auf engstem Raum nebeneinander her, Schuhkarton auf Schuhkarton, Küche, Bad, Wohn- und Schlafzimmer, jeder Grundriss ungefähr gleich.
Die Sonne beleuchtet die Balkone des Nachbarhauses, noch ist niemand draußen. Ein ruhiger Montagmorgen, Brückentag. Beim genaueren Hinsehen etwas Leben hinter den Fenstern: Eine rundliche Frau mit Schürze (4. Etage links), ein nackter Männerrücken (6. Etage rechts), ein Laufstall direkt am Fenster (3. Etage links).
Eine Frau im lila Bademantel mit blondem Dutt und Sonnenbrille betritt den Balkon (3. Etage rechts). Links darüber beinahe gleichzeitig für einen kurzen Moment eine junge Frau mit kurzem Haar und weißer Hose – und wieder drin, beide. Der lila Bademantel geht mehrmals rein und raus, deckt naschend einen Tisch für zwei.
Sieht mich jemand? Zu viele Fenster, aus denen zurückgeschaut werden könnte. Ich fühle mich beobachtet beim Beobachten, schließe vorsichtshalber das Fenster und hoffe, das Glas verspiegelt meinen Ausguck. Ich könnte den ganzen Morgen hier sitzen und das Treiben meiner Nachbarn protokollieren. Testweise mal frech mit dem Fernglas einen Zoom auf den Frühstückstisch: Honig, Nutella, aha.
Sie setzt sich, die Sonne scheint ihr ins Gesicht, ihr wird warm. Sie schält sich aus dem lila Frottee, darunter ein übergroßes weißes T-Shirt. Ein Mann in verwaschenem Rot betritt den Balkon, geht wieder rein und kommt wieder raus, setzt sich ihr gegenüber, jetzt mit Sonnenbrille und Smartphone. Sie trinkt, er tippt. Schlaffe Schultern, noch müde, schweigendes Wachwerden.
Der Balkon hängt voller weißer Lampions. Außerdem: eine gelbe und eine rote Laterne, Teelichter in Metallbechern mit Lochmustern, ein grauer Emailletopf mit blühenden Zweigen, eine Blumenampel mit Pfingstrosen, ein eingeklappter weißer Sonnenschirm, eine blaue Mülltüte, ein Bastkorb voller Altpapier, eine Holzkiste mit Altglas und ein futuristischer Gasgrill auf einem Holzschränkchen. Vor dem Balkon zwei Wäscheleinen mit bunten Klammern. Ihre Schatten fallen auf die Balkonverkleidung, sie doppeln sich.
Der Mann legt sein Smartphone zur Seite, sie werden munter, sprechen, trinken, löffeln Joghurt aus einem Becher. Sie rücken ihre Stühle nebeneinander, legen die Füße auf dem Balkongeländer ab, räkeln sich in der Sonne. Dann beide an ihren Smartphones, diese Fenster zur Welt.
Balkone sind Bühnen. Eine Vielzahl an Dingen wird hier ausgestellt. Sonnenschirme und bunte Wimpel, trocknende Unterhosen, wuchernde und vertrocknete Pflanzen, ein rotweißer Rettungsring im sechsten Stock. Eine Inventarliste meines Hinterhofs, Balkonporträts, Voyeurismus vom Küchenfenster aus, Ausschnitte aus dem Draußen-Wohnen meiner Nachbarn. Wir leben städtische Anonymität und ignorieren meist, wie dicht wir aufeinander sitzen, wie nah wir uns sind. Und wie ähnlich.
Traum von einem Jungen, der zwar nicht ganz helle ist, aber seinem Onkel in der Werkstatt zur Hand geht. Er kommt klar mit dem wenigen, was ihm zugesteckt wird. In seiner Freizeit baut er Objekte aus Lappen, Schicht für Schicht, blau lackiert. Eines Tages kommt ein Künstlerfreund des Onkels und fragt nach seinen Farben, die er vor Jahren dem Jungen anvertraut hat – da sieht er die Werke und plant eine Ausstellung. Eines der Werke besteht aus Schokolade und ist bereits angeknabbert, das muss eh neu gemacht werden, also vernaschen wir es und springen vergnügt vom Boot aus in den See. Später schmolle ich, da ihn keiner ernst nimmt, dabei geht es diesmal einzig und allein um ihn und seine Kunst!
Meine Tage sind da, wieder nicht geklappt. So ist das. Bleiben wir halt selbst Kinder und werden nicht erwachsen. Ein Kind bei uns haben, seine Wärme spüren, seine Haut streicheln, ihm beim Schlafen zusehen. Wie es erst gar nichts kann und dann irgendwann krabbeln, babbeln, laufen, sprechen und später dann alles und besser oder anders als wir.
Traum von einer Reise durch Südafrika. Ein Bus schlängelt sich auf engen Straßen durch die Berge, bis er in einer Kurve neben einem großen Haus stehen bleibt. Wir beschließen dort zu übernachten. Es gibt einen Grusel-Parcours, den ein Großteil unserer Gruppe gleich ausprobiert, ich erst später. Kurz bevor er schließt, gehe ich zur Kasse und krame in meinem Geldbeutel nach Kleingeld, es reicht nicht ganz, also gibt mir eine Frau eine Münze dazu, dann kann es losgehen. Ich soll unbedingt die Tür hinter mir schließen, sagt mir die Kassiererin zum Abschied. Ich stehe im ersten Raum vor zwei Türen, entscheide mich für die rechte und finde mich in einem Sitzungssaal wieder, der Tisch steht voller Torten. Als ich am nächsten Tag wiederkomme, merke ich, dass ich die Tür nicht geschlossen habe. Jetzt geht sie nicht mehr zu, der Raum dahinter hat sich ausgedehnt.
Gespräch mit Gabi und Hexe über die Rolle der Frau, wenn sie keine Kinder hat. Über die Sprüche, die da kommen, wenn man dann doch noch heiratet mit 46. Über das Abgemeldet sein in der Familie, wenn die Schwester mit 42 doch noch ein Kind bekommt. Und über den Druck, der jetzt da ist – gebärfähiges Alter, verheiratet, jetzt aber los und da kann man doch nachhelfen. Und wenn nicht? Längst überstanden geglaubte Rollenbilder, unfreie Zeiten, ein Leben ohne Kinder ist nicht vorgesehen.
Richards runder Geburtstag, nur wenige Häuser entfernt, eine andere Welt. Da steht er wieder, dieser Typ von vor acht Jahren, und schaut mich an, als würden wir uns kennen, als wüsste er, was hätte sein können, wer ich hätte sein können. Als ich ihn neben Richard sehe, weiß ich, dass er seinen Sohn ist. Ich kann nicht aufhören ihn anzuschauen und den Gesprächen kaum folgen. Ein kleiner Schmetterling flattert durch meinen Bauch. Ich sage ihm: Wir haben getanzt, vor acht Jahren, ich habe dich geküsst und bin dann weg, eigentlich nur kurz und dann doch heim, mit einem Anderen. Das ist mir öfter passiert, meint er lachend. Und Richard später: Er hat lange geschaut. Und ich? Suchversuche, Chaosjahre. Wenn Erinnerungen an diese Zeit wach werden, treffe ich eine andere Version von mir. So viele Möglichkeiten, mögliche Leben. Und nun also verheiratet.
Wieviel Offenheit ist mit dir wirklich möglich? Im Traum fühle ich mich von dir beobachtet. Ich empfinde deinen Blick als einengend, sobald ich nicht in dein Bild von mir passen will oder wenn ich mich erzählend neu erfinde. Wenn ich dieses Leuchten in meinen Augen habe und dieses offene neugierige Lachen im Gesicht, wenn mein Körper durch die Räume schwebt und ich wahrgenommen werde, von dir gehalten und doch frei.
Ich möchte ihn wiedersehen. Meine Gedanken wollen das. Vielleicht reicht auch das. Wieso habe ich seiner Freundin meine Karte gegeben und nicht ihm? Der Abend verging zu schnell, vor lauter Familie trauten wir uns nicht. Lass sie uns zusammen kennenlernen, vielleicht melden sie sich.
Im Traum habe ich dann doch Tobi geheiratet, um nicht zu viel Druck in die Beziehung zu dir zu bringen. Die Steuerersparnis dient Tobi und mir als Stipendium. Du und ich feiern trotzdem, als Hochzeitsgeschenk bekommen wir Hüte. Ich trage ein dunkelrotes Kleid mit Glitzer und einer passenden Schürze. Du bestellst Brot und bekommst jedes Mal einen kleinen Hefezopf in die Hand gedrückt. Du drehst und wendest ihn, betrachtest ihn von allen Seiten, um dann doch nach einem großen Laib Bauernbrot zu verlangen. Das wiederholt sich täglich. Die beiden Verkäuferinnen scheinen es nicht zu merken und versuchen es immer wieder mit dem Hefezopf. Ich liege neben Tobi, wir schauen uns an und wissen nicht so recht, was wir davon halten sollen, dass wir jetzt also verheiratet sind.
Traum von einem Gespräch an einem langen Tisch, am anderen Ende sitzt Demian, er lässt mich an seinen Drink nippen. Als ich mich über Stuttgart beschwere, meint Simon pragmatisch: Konzentriere dich auf deine Projekte und auf das, was dir wirklich wichtig ist, dann ist der Ort zweitrangig.
Zuvor in New York ein Treffen mit Mehmet, den ich kaum wiedererkenne. Er wirkt mager und verwahrlost, als hätte er zu viele Stunden allein am Computer verbracht. Wir sitzen im Kreis im Matratzenlager einer WG, die sich gerade auflöst. Sie sagen, hier gibt es zu wenig Privatsphäre, da ist es egal, wie gern man sich hat und wie sehr man sich nach Nähe und Wärme sehnt.
Ich: Küchen und Schlafzimmer
Julia: Reisen und Essen
Mama: Sprüche und Schnörkel
Papa: Immobilien und Stereoanlagen
Im Traum setzt sich ein Afrikaner neben mich, er erzählt mir von seiner Flucht nach Deutschland und von seinen Plänen. Ich will ihm meine Telefonnummer geben, da kommt eine Schulklasse angelärmt und lässt sich um uns nieder. Die Lehrer beschweren sich über die Verhältnisse und Umgangsformen, die Kinder schauen in alle Richtungen und fühlen sich nicht angesprochen. Ein Schüler will mich unbedingt etwas fragen. Als wir alle gleichzeitig den Saal verlassen, verliere ich im Gedränge die Orientierung. Ich finde mich in der Gondel einer Seilbahn wieder, auf dem Weg zur Talstation, wo mich ein Mädchen über Design ausfragt. Ich habe ihn verloren und weiß nicht mal seinen Namen, murmle ich nur. Ach, vergiss Milo, sagt das Mädchen, meint aber ihren Mitschüler und nicht meinen neuen Freund.
Am Abend radle ich zu Andrea, um ihr beim Kistenpacken zu helfen. Wir trinken Tee, kochen, plaudern und räumen zumindest die Küchenschränke aus. Wir machen drei Haufen: Einen für ihr Frühstück (mit so vielen Gewürzresten, dass wir herzlich lachen müssen), einen für Berlin und einen für mich: Schimmernde Liebesperlen, rosa Zucker, graues Salz und schwarzer Sesam.
Meine kalte Nasenspitze hält mich mal wieder vom Einschlafen ab.
Im Traum wehen lange schwere Samtvorhänge in blau und dunkelrot oder pink aus deinem Fenster nach draußen. Dahinter schläfst du bis in den Mittag hinein. Ich bin schon unterwegs, habe allerdings vergessen zu packen und sage dir am Telefon, was wir für unsere Wanderung alles brauchen. Wir verschieben die Abfahrt immer weiter, bis es dunkel ist. Im Salon klebt einer eine Zeichnung an die Wand, sie zeigt ihn selbst als stolzen Absolventen mit dicken grinsenden Büchern im Arm. Darunter steht: Morgen bitte keine Bücher binden, sofern es keine Abschlussarbeiten sind. Florina schaut vorbei, wir sind sprachlos.
Jeden Morgen ein neuer Gast.
Eine Freude, ein Kummer, eine Gemeinheit,
ein kurzer Moment der Achtsamkeit kommt
als ein unerwarteter Besucher.
Heiße sie alle willkommen und bewirte sie!
Selbst wenn sie eine Schar von Sorgen sind,
die mit Gewalt aus deinem Haus
die Möbel fegt,
auch dann, behandle jeden Gast würdig.
Es mag sein, dass er dich ausräumt
für ganz neue Wonnen.
Dem dunklen Gedanken, der Scham, der Bosheit –
begegne ihnen lächelnd an der Tür
und lade sie ein.
Sei dankbar für jeden, wer es auch sei,
denn ein jeder ist geschickt
als ein Führer aus einer anderen Welt.
Rumi
Sie war mein Vorbild: Offen für jeden, interessiert, zugewandt und so voller Wärme und Gastfreundschaft. Braucht man ein Schloss, um Menschen so einladen zu können? Du sagst, das ist eine Haltung, kein Ort und keine Wohnform.
So vergnügt und gut gelaunt wie du bist, könntest du jeden Moment einschlafen.
»Ich schreibe, weil es mich in Bewegung setzt zu Orten, die ich vorher noch nicht kannte. Und weil es mich Orte sehen lässt, die ich vorher so nicht kannte. Interessen: kleine Inseln glücklicher Zufälle. Verlassene Orte. Die letzte in der Telefonliste sein. Bahnen ziehen. Das Unglück in den Familien. Der Trost der Dinge.«
Jessica Sabasch
Nichts aufschieben, das dir wichtig ist.
Alles ist plötzlich unwichtig. Mit gelben Tulpen zu Jutta ins Krankenhaus. Die Sonne scheint durch die Jalousien, ein gelber Vorhang, gelbe Wände – und sie, ganz klein, mit gelben Augen und vertrocknetem Mund, die Hände an Schläuchen. So ein feiner Mensch, es geht viel zu schnell. Wir bringen Leben in ihr Zimmer, das Lachen der kleinen Carla, die über ihre Beine klettert. Wir schwelgen in Erinnerungen an gemeinsame Tage in Falmenta. Im Mai wird Jennifer heiraten, den Verlobten kennen sie noch nicht. Ich erzähle von unserer kleinen Hochzeit und schaue auf ihre Ringe, Bernd hält ihre Hand. Ich denke an dich, wie du meine Hand gehalten hast auf dem Standesamt. Alles ist besser, wenn du meine Hand hältst.
Das brauchen die Dinge, wenn sie gut werden sollen: Liebe, Zuwendung, Aufmerksamkeit.
Ich halte die Fäden achtlos in meinen Händen, so passiert gar nichts. Manchmal ziehe ich sanft an einem, dann geht es ein Stück voran. Doch wenn das Leben mich einholt, dann lasse ich die Fäden fallen und weiß plötzlich wieder, dass ich mehr bin als eine Marionette: Ich halte hier die Fäden in der Hand und wenn mich einer nicht mehr interessiert, schneide ich ihn ab.
Im Traum ziehe ich mit Tobi los, um die Stadt zu erkunden. Wir entdecken einen Laden mit Badewannen zum Testen. Wir beschließen, dort eine Pause einzulegen. Wir sitzen in zwei Bottichen, die sich beide plötzlich umdrehen und den Raum fluten. Unsere seitlich abgelegten Kleider sind völlig durchnässt, also nochmal zurück ins Hotel. Dort wird gerade mein Zimmer geputzt, ich überrede den jungen Mann, dass ich kurz rein darf. Im Park komme ich an einer riesigen Muschel vorbei, sie dient einem beachtlichen Teil unserer Reisegruppe als Wind- und Sonnenschutz. Ich frage in die Runde, ob jemand mitkommen mag. Tobi kann ich nicht mehr finden und Hexe verbringt die Zeit lieber hier im Garten, sie hat keine Lust auf Stadt. Die Jungs schließen sich mir an. Wir besuchen einen Bunker und entdecken Geheimtüren, hinter denen Arbeiter in gelben Anzügen Wände verschieben. Da dürfen wir nicht rein, tun’s aber trotzdem und versuchen zu verstehen, wozu diese Räume dienen. Dann ertönt eine Sirene, die Türen schließen sich, wir schaffen es gerade noch nach draußen, wo die Arbeiter uns ausschimpfen.
Kurz vor dem Einschlafen, das Licht brennt gerade noch so, bin ich ganz verliebt. Ich lache dich an, du liegst neben mir, die Decke bis zur Nase hochgezogen. Ich bin glücklich in diesem Moment. Warum gerade jetzt? Weil ich dann nichts mehr will vom Tag und von mir. Dann werde ich ruhig und entspannt, dann bin ich da.
Ich wusste es, als ich seinen Blick bemerkte. So da war noch nie jemand und so da war auch ich noch nie. Dass es das wirklich gibt, hatte ich nie geglaubt. Er schaute abwechselnd zu mir und in sein Skizzenbuch, er zeichnete, wie ich so dastand: Meine Hände, die nichts Besseres mit sich anzufangen wussten, als sich am Gurt meiner Umhängetasche festzuklammern. Ein kurzer blaue Rock, ein Streifen Rot unter dem schwarzen T-Shirt, rote Kugeln an den Ohren. Weiter kam er nicht, die Zeichnung ist nie fertig geworden. Für den Rest der Exkursion blieb ich in seiner Nähe. Es war mir egal, dass es alle bemerkten. Ich wusste: Da will ich näher ran. Das war in Berlin, vor bald sieben Jahren.
Traum von einem Ausflug zu einer Waldhütte mit drei Brüdern, ihrer kleinen Schwester und mir. Ich lenke ein Wohnmobil, das so hoch ist, dass es kaum unter den Ampeln durch passt. Gruselige Monster tauchen auf, erschaffen von den Brüdern, die ein Jahr in der Hütte verbracht hatten und sich dort gegenseitig mit diesen Kreaturen »beschenkten«. Ein spaßiger Krieg, der zur Routine wurde und sich nicht mehr bändigen lässt. Eines der Monster ist ein riesiges Auge, das nur besänftigt werden kann, wenn es Happy Birthday vorgesungen bekommt.
»Wasser ist elementar, es ist das, woraus wir gemacht sind, wir können weder im noch ohne Wasser leben. Der Versuch, zu definieren, was mir Schwimmen bedeutet, ist, wie eine Muschel zu betrachten, die in einem Meter Tiefe in klarem stillem Wasser liegt. Da ist sie, scharf und konturiert, doch sobald ich nach ihr greife, die Oberfläche durchdringe, wird sie vom Kräuseln fragmentiert. Aus einer Muschel werden fünf, fünfundzwanzig Muscheln, kleinere und größere, und ich taste mich blind vor nach dem, was ich ganz klar gesehen hatte, bevor ich versuchte, danach zu greifen.«
Leanne Shapton: Bahnen ziehen
Endlich mal nicht am Schreibtisch, wenn nebenan der Gong zur Tagesschau ertönt und mittags, pünktlich um halb 12 Uhr, das Geklapper des Bestecks auf Tellern. Wir sind uns so nah und sehen uns doch nur alle paar Wochen mal im Treppenhaus.
Maximale Freiheit, minimaler Radius.
Im Traum ein Termin beim Notar mit der Familie, davor Kaffee und Kuchen mit allen. Kurz vor Aufbruch fragt mich meine Oma, ob ich mein Gepäck gleich mitnehmen will. Gute Idee, denke ich und renne in mein Zimmer. Dort sieht es aus, als hätte ich wochenlang nicht aufgeräumt, keine Chance hier schnell zu packen, die anderen warten. Also bleibe ich wohl noch ein paar Tage und sage Basel ab. Vor dem Haus die wartenden Autos und Diskussionen, wer wo mitfährt. Beim Notar dann ein großes Hallo mit noch mehr Familie, alle wollen ihren Anteil und sind neugierig auf die Nachricht aus dem Jenseits. Als ich meinen Mantel ausziehe, stelle ich erschreckt fest, dass ich dein gelbes Comic-T-Shirt trage, das mit den Flecken. Neben mir sitzt Verwandtschaft, die ich kaum kenne, sie kennen zumindest mein Buch. Dann geht es los. Der Notar hustet und witzelt und ich verstehe nicht, wie viel ich nun bekommen soll.
Traum von einer Fotografie an der Wand: In einer Kirche werden alle Gärtner geehrt. Dort stehen meine Eltern und meine Omas – außer Ihnen gärtnert niemand mehr. Sie wohnen in einer überdimensionierten Villa mit allerlei Zwischengeschossen und Geländern. Gerade zurück von einer Weltreise will ich gleich wieder weg.
Im Traum eine Verfolgungsjagd auf drei kleinen Schlitten, wir sind Mäuse oder sowas, jedenfalls klein und schlau und schnell – nur nicht ganz so schnell wie unser Verfolger auf seinem motorisierten Gefährt. Am Ende siegt die Schläue: Wir nehmen eine Route durch den Wald. Er bemerkt nicht, wie ihm von unten ein Auto entgegenkommt, aus der Ferne hören wir es krachen.
Zum Busfahrer:
»Werden Sie am Bahnhof zur 76?«
Im Traum vermisse ich meine Kamera und sehe sie zufällig in einem Film über Haie unter Wasser. Jochen hat den Film gedreht. Am Telefon ist er kurz angebunden, er muss los. Am nächsten Tag wieder. Ich gehe trotzdem zu seinem Atelier unterm Dach einer alten Fabrik, das nur über eine Außentreppe erreichbar ist. Dort arbeiten auch andere Künstler, am Eingang stolpere ich fast über frisch glasierte Tonschalen. Jochen muss wieder los und wimmelt mich ab, dafür treffe ich Britta, die nicht weiß, wie es weitergehen soll. Ständig erhält sie Briefe von jüngeren Versionen ihrer selbst. Der neuste fordert sie auf, einem Abendessen in ihrem alten Kinderzimmer beizuwohnen. Sie war seit Jahren nicht dort und hat etwas Angst, also begleite ich sie. Auf dem Weg dorthin treffen wir die kleine Britta und weitere – alle plappern durcheinander. Die zwölfjährige beste Freundin sitzt apathisch am Tisch, als wüsste sie schon vom Streit, der viele Jahre später zur Auflösung des gemeinsamen Unternehmens führt. Alle reden auf die ältere Britta ein, stellen bohrende Fragen, wollen verstehen, wo das alles hinführen soll. Sie fragt zurück, wie es überhaupt soweit kommen konnte. Vergessen wäre besser.
Mit jedem Geräusch reißt du Fetzen aus dem Traum, der mich noch nicht gehen lassen will. Meine Kamera ist noch immer dort und ich kann doch Britta nicht alleine lassen zwischen all den Blondinen. Schlimmer als Schwestern, man selbst. Anklagend, vorwurfsvoll, verständnislos, ungeduldig. Netter zu sich selbst sein, das wär doch mal gut.
Im Traum schenke ich Papa einen Ausflug nach Passau zu einer Ausstellung mit Übernachtung – allerdings nur für eine Person. Als ich nachfrage, wie es ihm gefallen hat, ist er erst freundlich und nickt, besinnt sich dann und sagt ganz ehrlich, dass er das Geschenk nicht verstanden hat und auch so schon genug alleine unterwegs ist. Recht hat er. Ich zahle ihm die Rechnung plus Schmerzensgeld.
In der Begrüßungsrede an ihre Gäste gibt das Geburtstagskind den Horror der letzten Wochen eins zu eins wieder. Ich bin versucht, es in ein anderes Licht zu zerren, Dinge positiv zu sehen scheint mir eine Pflicht. Wie das Aramsamsam für meine kleine Schwester, wenn sie eigentlich weinen wollte. Nein, jetzt nicht.
Nach der Chorprobe sitze ich neben Rudolf, der nichts sieht. Wie lernt er mich kennen, wenn ich mich nie richtig vorstelle? Wir sprechen übers Blindsein. Ich erzähle von einem Ausstellungsbesuch mit verbundenen Augen, als Methode, um Kunstvermittlung zu üben. Ich frage ihn, ob er auch in Ausstellungen geht. Manchmal, auf Reisen mit der Familie. Aber was erzeugt die Fantasie für Bilder, wenn man nie welche gesehen hat? Ich spreche über Kunst, er über Physik. Auch er weiß nicht, worin seine Kollegen vertieft sind, ein Leben lang. Ich beschreibe ihm den Nebentisch: Drei Männer, vielleicht Italiener, alle drei in Schwarz gekleidet, jeder in sein Smartphone vertieft. Vor ihnen stehen drei Teller Spaghetti aus dem Parmesan-Rad mit Trüffel, schweigend fangen sie an zu essen. Überhaupt scheint heute Parmesan-Spaghetti-Tag zu sein, an allen Tischen, auch bei uns.
Im Traum probiere ich mich durch einen Markt voller Kulinaritäten. An einem Stand mit zig Sorten Salz in weiß, grau, rosa und gelb kaufe ich Steinsalz und lasse es schon am nächsten Stand stehen. Du bist schon länger da, dir ist schlecht. Wir treffen Christian, er lehnt an einem Brückengeländer mit Blick auf den Fluss, um kurz darauf vertrieben zu werden von einem Filmteam, das einen Sänger für arte interviewt. Christian erzähle ich von den vielen Träumen, in denen er in den letzten Jahren aufgetaucht ist. Ich rede zu viel. Er hört zu und sieht noch immer aus wie mit zwanzig.
Im Traum erwache am Strand, die Sonne im Gesicht. Über mir eine weiße Brücke, die im Nichts endet, erst wenn ich den Kopf bewege, verlängert sie sich. Eine optische Täuschung? Könnte auch mit meiner Brille zu tun haben. Ich liege zu nah am Wasser, langsam kommt die Flut. Ich klemme mir meine Decke und Tasche unter die Arme, nur die Schuhe kann ich nicht mehr tragen, ich komme gleich zurück, um sie zu holen. Bei den Häusern lehnt mein Fahrrad, dessen riesigen Korb ich belade, während ich meine einsamen Schuhen am Strand nicht aus den Augen lasse. Neben ihnen liegt nun auch mein Schlauchboot, das ich ja auch noch unterbringen muss. Mama schlägt vor, das Boot hier anzuschließen und es später abzuholen. Wenn sie wüsste, was hier nachts mit den Banden los ist – das Boot würde zerstochen werden. Sie zuckt mit den Schultern und radelt schon mal vor. Durch ein Fenster sehe ich eine Frau träge auf dem Sofa lümmeln. So ist das hier, man steht erst auf, wenn die Sonne nicht mehr brennt. Nachts hatte ich versucht, in einem leeren Eckhaus unterzukommen, doch die Bruchbude war nichts für mich, darum der Strand. Der entfernt sich immer weiter, je näher ich ihm komme.
Die Macke in der Wand fasziniert mich: Ein Mond, er schaut nach rechts, daneben abgeblätterte Farbe und Tapete, darunter ein halbdiagonaler Strich, als würde der Mond einen Satz nach oben machen, Hochsprung. So viel Kraft und Wut, mit der du meine Tastatur gegen die Wand gepfeffert hast.
»Diese jungen Menschen […] agierten als Repräsentanten eines neuen Jahrhunderts. Sie arbeiteten nicht mehr für Vorgesetzte. Sie kannten keine überheizten Büros, keine grauhaarigen Sekretärinnen und keine Telefone, die über Kabel mit der Wand verbunden waren. Sie kannten keine Abteilungen und deren Abteilungsleiter, keine kurzen und langen Dienstwege und auch nicht den Geruch von frisch gesaugten Teppichböden, der die Arme schwer, den Rücken krumm und die Schritte langsam machte. Sie waren selbstständig, selbstsicher, selbstsüchtig, wandelnde Selfies, zwei dauerbewegte Selbstporträts.«
Juli Zeh: Unterleuten
Traum von einem Urlaub in Albanien mit einer Aussicht, die das Auge kaum fassen kann. Eine Panoramaaufnahme zeigt Natur, Stadt, Meer, Felsen, Grün und Schnee. Tatsächlich beginnt es zu schneien, während meine Schwester und ich auf Liegestühlen schlafen. Die Flocken sind nicht kalt, eher neutral. Wir fahren nach Süden, die Pfeile auf den Straßen wechseln ständig zwischen Links- und Rechtsverkehr hin und her. An der Südspitze erwartet uns ein Schiff mit schmalen Kabinen – Julias Unterkunft von vor zwei Tagen. Sie hat noch Proviant, wir picknicken zwischen Dusche und Bett.
Seit du über die Tasten wischst:
Als für also.
Passieren ist zu weit.
Für mir leid.
So ist das also nochmal genau?
Vertrauen ruhig die Sachen.
Denke auch, dass der gelb gut wird.
Muss von dir zu mir!
Dann wirst du ja jetzt wie ich ohne Bär aussehe.
Frei mich!
Traum von einem Fest mit Raketen, ein historisches Gebäude brennt ab. Mama möchte los, Micha und ich bleiben noch auf ein Klogespräch zum Thema ›Wie arbeiten?‹. Derweil fährt mein Rucksack samt Laptop versehentlich im Auto meiner Eltern weg. Eine Lampe wird mithilfe eines Flaschenzugs an der Decke installiert, darunter tanzt die Festgesellschaft, die mir plötzlich völlig fremd ist. Ich bekomme eine Rechnung serviert, soll mein Essen bezahlen und verschwinden. Nur kurz setze ich mich zu Martin und frage ihn, ob er bei unserem Fest auch alleine kochen würde für hundert Gäste. Er nickt und schüttelt den Kopf.
»Dieses Aufräumen ordnet etwas auf allen Ebenen und irgendwann weiß ich, ich kann wieder aufhören. Dann hat es sich auch in mir geordnet oder die Antwort darauf, wie der nächste Schritt aussehen kann, ist da.«
Ein morgendlicher Kuss auf die eigenen Schultern. Jeden Tag eine Kerze für sich selbst anzünden. Spiegelnotiz: Ich bin die Heldin meines Alltags. Tanzend mit dem Besen auf dem Dach. Und Putzen nur im schönsten Kleid. Denn entweder ist alles heilig oder nichts.
Anregungen von Cambra Skadé, ›Auf dem Herzensweg‹ von Sabrina Gundert
Du bügelst meine Stirn mit deinen Fingern, die Falten verschieben sich auf die Backe zu Grübchen. Wir strahlen uns gegenseitig an – ein Perpetuum mobile des Glücks.
»Wie sollte sich ein intelligenter Mensch überhaupt zum Handeln entschließen, wenn doch die Hauptaufgabe des Verstandes darin bestand, zu jedem ›Für‹ ein ›Wieder‹ zu präsentieren? […] Lieber ein kluger Zauderer als ein dummer Draufgänger.«
Juli Zeh: Unterleuten
Im Traum treffe ich Christian, nach Jahren zum ersten Mal. Er tippt mir auf die Schulter und wir gehen ein Stück zusammen über den Campus seiner neuen Uni. Er sieht aus wie damals, halblange rote Haare, kein Bart. An einer Ecke bleibt er stehen, um sein Rad aufzuschließen, daneben hängt ein Plakat mit seinem Kopf und eine Einladung, die direkt auf sein Gesicht geheftet ist. Ich erinnere mich: Von hier aus hat er mir ein Foto geschickt, das ist sein Platz. Er steigt auf sein Rad, fährt einen kunstvollen Bogen nach unten, ich sehe ihm von einer Art Balkon aus zu. Er deutet auf einen Treppenturm, den ich nehmen soll, wir treffen uns wohl unten. Der Turm ist höher als gedacht, und es gibt zwar Stufen, doch die sind so steil, dass ich schon beim Hinschauen Höhenangst bekomme. Eine Frau, von ihren Freunden angefeuert, klettert vorsichtig hinunter und flucht leise vor sich hin. Ich sehe eine blaue Rutsche, die auch nach unten führt. Allerdings gibt es so viele Kurven und Abzweigungen, dass ich nicht weiß, ob ich noch richtig bin. Ich lande auf einer Zwischenebene und krabble weiter auf ein Förderband. Das war falsch: Hinter mir hupen zwei Kinder in Einsitzern, kurz darauf die Eltern in einem Zweisitzer. Wohl auch Touristen aus Deutschland, sie sind ebenso ratlos wie ich, wohin dieses Band führt und wo ich aussteigen könnte. Es befördert mich immer weiter weg von Christian. Dabei wollte ich das bunte Treppen- und Rutschengeflecht doch unbedingt noch für dich fotografieren! Sicher gibt es davon schon tausend Bilder im Internet, hatte ich vorhin gedacht. Jetzt da ich wach bin, bedaure ich, dass ich im Traum nicht fotografieren kann.
Kosmetik, wo es einen Pflug bräuchte.
Adlerauge sei wachsam.
Er muss die Wassertaufe bestehen.
Aus den Ärmeln gesaugt.
Weg gegangen, Schnaps vergangen.
Sie hält uns zum Affen.
Traum von Hochzeitsvorbereitungen, Glitzerkleidsuche und einer WG-Besprechung für eine Demo. Später stehe ich nackt und selbstbewusst in einer Gemeinschaftsdusche voller exotischer Grünpflanzen, wo ich meinen Sandkastenfreund Thomas treffe. Und wie schon mit 13 muss ich ihm sagen, dass das mit uns nichts wird, obwohl wir schon im Kindergarten geplant hatten, dass wir mal heiraten und einen Bauernhof haben werden.
Warum stehst du morgens auf?
Wie viele Rollenbilder sind gesund?
Gibst du auch mal nach?
»… die Menschen werden Tag für Tag neu geboren, an ihnen liegt es, ob sie den gestrigen Tag weiterleben oder den neuen Tag, das Heute, von Grund und Wiege auf beginnen. Doch da ist die Erfahrung, alles was wir im Laufe der Zeit gelernt haben, […] doch wir leben das Leben in der Regel so, als hätten wir keine Erfahrung von früher, oder wir bedienen uns nur jenen Teiles, der es uns gestattet, bei den Irrtümern zu bleiben, wobei wir uns auf Erklärungen und Lektionen der Erfahrung berufen, und nun kommt mir ein Gedanke, der euch absurd scheinen mag, ein Widersinn, dass nämlich die Erfahrung sich weitaus mehr in der Ganzheit der Gesellschaft auswirkt als in jedem einzelnen ihrer Glieder, die Gesellschaft nutzt die Erfahrung aller, aber kein Einzelner will oder kann in Gänze die eigene Erfahrung ausschöpfen.«
José Saramago: Das steinerne Floß
»Die Essenz dessen, was wir wissen, aus dem Halbschatten hervorziehen.«
Karl Ove Knausgård
Mottenfallen, Duschgel, Zahnpasta, Rasierklingen, English Breakfast Tea, Macadamia Creme und Kreuzkümmelsamen wären noch gut.
Beim Wahlsonntagsspaziergang kommt mir eine grinsende Familie entgegen. Der Kurze hat wohl gerade eine Frage gestellt, daraufhin der Vater: »Ja nee, man kann tatsächlich auch CDU wählen.«
Ankunft in der steilen Gasse zu unserer Unterkunft bei Rui, eine kurze Führung durch die blitzsaubere Wohnung und Küche mit Ausblick und Rührmaschine – er betreibt einen Lieferservice für Kuchen. Mittagspause im gemütlichen Zimmer, dann raus ins nahe gelegene Zentrum Lissabons und weiter Richtung Castelo. Wunderbarer Blick über die hügelige Stadt mit Abendsonne und windzerzausten Haaren.
Wieviel Portugal passt in zwölf Tage?
Im Traum gehe ich zur Aufführung meines Chores und werde spontan für die Inszenierung eingeteilt. Sie brauchen drei Leute, die während des gesamten Konzerts schaukeln. Was sie mir nicht verraten: Meine Schaukel schnellt nach oben, wenn ich nicht beide Seile festhalte. Eigentlich vorgesehen für den Höhepunkt passiert mir das schon während des Auftakts. Ich schnelle nach oben in die Spitze des Zirkuszelts – und das mit meiner Höhenangst! Als es dann wirklich soweit sein soll, verheddern sich die Seile in der Kulisse, ich hänge auf halber Höhe über der Entwirrung, die von Veronika dirigiert und von den Darstellern improvisiert wird. Noch nie habe ich schaukelnd solch ein Durcheinander verursacht und dabei so viele Blicke auf mich gezogen. Geblendet vom Licht versuche ich Haltung zu bewahren und bin froh, ausnahmsweise mal keinen Rock zu tragen.
Zwei symmetrische Türen, etwa einen Meter auseinander, hellgrau, wie die Wand, die Rahmen etwas dunkler. Die Scharniere jeweils solidarisch: oben hell, unten dunkel. Zwischen den Türen an der Wand eine Lampe, halbrund, oben offen – fast passend zum orange-beige melierten Linoleumfußboden. Knallblaue Sockelleisten, oben parallel dazu orangene Zierleisten auf Türrahmenhöhe (aber nur zwischen den Türen) sowie kurz unter der Decke. Fehler in der Symmetrie: Der Lichtschalter links ist weiter vom Türrahmen entfernt als der rechts. Die linke Tür ist unten auf beiden Seiten leicht engekerbt. Das Schlüsselloch links ist klassisch, rechts ist es rund. Beide Türen öffnen sich fast gleichzeitig. Frau und Herr Doktor, Tür an Tür. Der nächste, bitte.
Im Traum ein Arztbesuch, ich möchte wissen ob ich schwanger bin. Die Frau tastet mich ab, wühlt in mir herum und macht es kaputt. Ich bin stinksauer, sie versteht die Aufregung nicht und zuckt mit den Schultern. Sollen wir halt ein neues machen. Ob das nochmal klappt?
Traum von einer Atelierausstellung in einer Kunstakademie. Ich bespiele einen Container, in dem ich Essen immer wieder neu komponiere. Dazwischen liegen gesammelte Drucksachen, ausrangierte Inspiration meiner Grafikerfreunde. Rund um den Container steht Schrott und ein Klettergerüst, auf dem Fabian Kunststücke macht. Das Essen kommt gut an, die Tische werden immer chaotischer, ich sortiere und ordne neu, bis ich erschöpft auf einen Hocker sinke. Zwei Erstsemester stellen sich neben mich und fragen mich über das Studium aus. Der Kleine rechts von mir streichelt mich am Arm, an der Schulter, am Hals. Er ist wirklich sehr klein, aber interessant. Sein Kommilitone tut es ihm gleich und streichelt mein linken Arm, recht unbeholfen. Wie schütteln wir ihn ab und wo gehen wir hin, um in Ruhe weiterzumachen? Ich springe auf, bitte die beiden, dies und jenes umzuräumen und schicke sie in verschiedene Richtungen. Dem Kleinen gehe ich nach, zeige ihm den Weg zur Außentreppe, die nach oben in mein Zimmer führt. Wir fallen auf das Sofa, umgeben von einem Berg aus Kuscheltieren – die nächste Kunstaktion, erkläre ich knapp und vergrabe mich im knallbunten Plüsch.
»Weißt du eigentlich, welches Glück du hast, dass du so leben und arbeiten kannst? Nimm es an.
Es geht um Kraft, Kraft für den eigenen Weg, für die eigene Arbeit, nach der niemand fragt. Du musst dich selbst feiern, dich toll finden.
Du strebst nach dem scheinbar Unerreichbaren. Am Anfang machst du riesige Schritte darauf zu, dann werden die Schritte kleiner und schwieriger – feiere jeden kleinen Schritt, auch die Skizzen und Zwischenstände.
Kinder, klar, die kosten 20 Jahre. Aber sie stärken dich, diese 20 Jahre.
Was ist das für Kunst, die du machst? Was daran ist Kunst? Was macht dich zur Künstlerin? Was brauchst du noch, um Kunst zu machen und darin zu wachsen? Ausstellungen, Veröffentlichungen, Wahrnehmung, Diskussion und stärkende Ateliergespräche, wie dieses hier.
Lass den Eltern ihre Sorgen, es sind ihre, nicht deine. Du existierst unabhängig von Ihnen, dein Leben hat einen höheren Sinn, wie jedes Leben.
Da ist etwas, dass nur dir gegeben wurde und das solltest du nutzen, annehmen, weiterentwickeln. Das war schon im Kindergarten da. Du bist Künstlerin. Und die wird jetzt wach und groß. Geh los. Vergleiche dich nicht. Geh deinen Weg.«
Im Traum eine Wanderung in schwerem Geschmeide, danach ein Empfang und Oper. Wer kam denn auf diese Kombination? Die Nachbarn. Und doch meldet sich ein Großteil der Belegschaft für diesen Ausflug an. Die Tafel, an der gespeist werden soll, besteht aus einem Holztisch und in den Boden eingelassenen Holzpflöcken als Hocker, alles steht schief auf der freien Wiese am Hang, unbrauchbar für Sekt in Gläsern. Im Wirtshaus nebenan ist noch ein schlauchiges Nebenzimmer frei, wir ordnen die Tische neu an und dann doch wieder zurück. Die Nachbarn tragen elegante Kleider mit zartem Halschmuck, der sich optisch von einem Hals zum nächsten fortsetzt, wie Spiralen, die sich um Häuser winden und in den Kleidern wiederfinden. Meine Schwester bestellt Kir Royal für alle, obwohl wir noch verkatert sind. Deine Kollegen stoßen dazu, Daniel und Ferdi in glitzernden Radlerhosen, für die Demo, die gleich beginnt. Eine Choreografie langsamer Schritte, alle stehen im gleichen Abstand zueinander und staksen so uniformiert den Berg hinab. Ich schaue zu und kenne den Zweck der Demo nicht. Ich frage eine der Veranstalterinnen, die mich fassungslos zurückfragt, ob ich das wirklich nicht gehört hätte – in den Medien sei seit Wochen nichts anderes. Ich gestehe, dass mich Nachrichten zu sehr mitnehmen und ich sie daher meide. Sie holt aus und gib mir eine Zusammenfassung der Geschehnisse, ich nicke betroffen. Dann müssen wir schnell los zur Oper. Eigentlich wissen wir schon jetzt, dass zehn Minuten für den Weg nicht reichen, wir werden den Anfang verpassen und bis zur Pause vor verschlossenen Türen warten müssen. Die Treppe ist so überfüllt, dass wir über die Geländer steigen und in unseren langen Kleidern außen weiterklettern. Noch fünf Minuten, einmal durch die ganze Stadt.
Aber die Freiheit!
Aber die Einsamkeit?
Die Familienchronik als Vorwort zu mir selbst?
Ich. Wo fängt das an? Hier und Jetzt oder bei meiner Geburt oder Zeugung oder der Begegnung meiner Eltern, Großeltern, Urgroßeltern? Oder bei meiner ersten Erinnerung? Oder mit meinem ersten Tagebuch, in dem ich mich schreibend an mich selbst richtete?
Ich. 31 Jahre, 163 cm, 55 kg, dünner als ich mich fühle. Ich habe studiert, aber nicht so richtig. Ich arbeite, aber nicht so richtig. Weil allein, daheim und ohne Ziel, von Auftrag zu Auftrag, der mir zufliegt, mich einnimmt, verschlingt und dann wieder ausspuckt. Jedes Mal denke ich, das mache ich noch, danach wird alles anders. Es muss sich etwas ändern, nein – nicht etwas, alles muss sich ändern. Arbeit, Ort, Familiensituation. Entweder ich werde schwanger oder. Oder was?
Ich. Dehydriert. Ich empfange zu viele Signale, Radiowellen, welcher ist mein Sender? Die Antennen sind aufgestellt, der Empfang gestört durch den Matsch in meinem Kopf, wohltuender Nebel, Regenwolken über uns, Stimmen von drüben, Plätschern vom Teich, Tropfen von oben, Schritte im Kies, Wind in den Bäumen, Vogelgezwitscher, klackernde Boule-Kugeln. »Oh la la Monsieur«, ruft einer, der so viel schöner gealtert ist als seine Frau. Ich sehe, wie sie an sich arbeiten, seit Jahren ihre Zweisamkeit verteidigen, gegen sich selbst, das Alter, die Zeit. Ich habe Durst.
Gestern am Fluss, da lag er und ich wollte, dass er mich sieht. Seit ich denken kann, will ich gesehen werden. Von Männern. Papa, Opa, die Jungs aus der Nachbarschaft, aus der Parallelklasse, aus dem Dorf, der Clique, im Delta, im Urlaub am Strand mit 13 in diesem Bikini mit Reißverschluss zwischen den noch nicht vorhandenen Brüsten. Ich öffnete ihn dennoch so weit wie möglich. Schaut mich an! Was seht ihr? Sehe ich mich erst durch euren Blick? Ein unscheinbares komisches Mädchen, vielleicht interessant. Was sie wohl denkt? Wie sie wohl nackt aussieht? Wie sie im Bett ist? Und wenn sie erst loslässt und aufblüht, dann wird sie groß und schön und berühmt mit ihrem schiefen Blick auf die Welt. Ganz genau beschreibt, seziert, durchbohrt sie die Menschen um sich herum. Projektionsfläche, ich und ihr. Warum interessiert mich der Blick der Männer? Derjenigen, die stark scheinen und schonungslos in ihrem Urteil. Sein Blick. Weil er schreibt? Weil ich schon immer eine Romanfigur sein wollte? Wenn sich mein Handeln durch seine Feder fügt, wenn meinen Weg nicht mehr ich bestimme, sondern sein Schreiben. Und warum nicht mein Schreiben? Ein Leben, erschrieben statt erlebt? Kann ich nur beschreiben, was ich auch erlebt habe? Als ob ich schon so viel erlebt hätte. Genug, um mich den Rest meines Lebens mit dem Bisherigen zu befassen. Am liebsten möchte ich doch Bücher lesen, in denen ich selbst vorkomme, wahrhaftig, mein Innerstes erfasst. Und warum sollte er das besser können als ich? Zumal noch ein Mann, irgendein schreibender Mann.
Hier komme ich sofort an. Alles ist mir vertraut, das Haus und der Garten, die Abläufe und Rituale, die Offenheit der Leute, die Leichtigkeit. Als würden wir dort ansetzen, wo wir vor einem Jahr aufgehört haben. Ein unendlicher Aufenthalt auf dem Schloss, nur kurz unterbrochen durch ein Jahr woanders. Wie die Träume, nur kurz unterbrochen durch den Tag. Alles fällt von mir ab, ich möchte auch nicht darüber sprechen, was war, wie es mir ging im letzten Jahr, was ich so mache und was ich noch alles tun könnte. Oder doch – das geht ganz gut aus der Distanz, der Konjunktiv.
Etappe drei oder sechs unserer Reise: Schloss Vellexon! Ich sitze im Tanzsaal, der jetzt Yogaraum ist – das Schloss hat neue Besitzer. Mein Blick streift über die Landschaft vor dem Fenster, kühle Morgenluft strömt herein und ein Lachen von unten – ich weiß, wem es gehört, ich weiß nur nicht mehr, was ich mit ihm reden soll. Alles gesagt. Neuen Leuten von neuen Ideen zu erzählen, fällt mir so viel leichter, als Freunden, die mich kennen und meine Pläne womöglich gleich in die Schublade einordnen, in der sie mich gut aufgehoben wissen.
Im Traum besuche ich Kasia in ihrer Hütte auf dem Berg. Statt ihrer Kunst nachzugehen, kümmert sie sich dort um drei Puppen. Du holst mich ab und setzt mich auf deinen Rücken, du rennst mit mir den Berg hinauf, so schnell, dass wir zwei Radfahrer überholen und fast abheben. Du lässt mich los und rennst weiter, ich rudere mit den Armen, mache Schwimmbewegungen und schwebe dir langsam hinterher. Da steht Paul in einem roten Overall und spritzt eine Fassade ab. Ich frage ihn, was er da macht. Er sagt, er habe seinen Job verloren, ihm ist ein großer Fehler unterlaufen, er möchte nicht darüber reden. Ich warte an der Straßenkreuzung, bis er fertig ist. Ich will ihn fragen, wohin er jetzt geht. Er schiebt einen Einkaufswagen vor sich her, biegt um eine Ecke und ist plötzlich weg – wie vom Erdboden verschluckt. Ich renne hin und her und rufe: Paul! Paul! Paul? Wo bist du?
Im Traum packe ich einen weißen Transporter voll mit meinen Sachen, die sich in den letzten Wochen angehäuft haben. Als ich fertig bin, stelle ich ihn in die Garage. Wir fahren erst nach dem Abschlussfest am Samstag los. Aus den Augenwinkeln sehe ich, wie sich jemand daran zu schaffen macht, das Gefährt rollt langsam los, ich springe auf und versuche, die Fahrerin aufzuhalten. Hinten drin sitzt eine Gruppe junger Frauen – Sozialarbeiterinnen, wird mir gesagt, als würde dies das »Ausleihen« meines Mietwagens entschuldigen. Ich erzähle von meinem ehrenamtlichen Engagement der letzten Wochen, alle sind unbeeindruckt. Beim Besuch der Lebenshilfe werde ich still und bewundere, wie aufopferungsvoll die Frauen hier täglich für die Menschen da sind. Sie lachen und trinken Schnaps. Die Fahrerin erzählt mir von ihrem familiären Schicksal: Als die Tochter verkündete, sie wolle weg und Kunst studieren, habe sich der Vater ins Eiswasser gelegt. Er hätte gerettet werden können, doch er sagte nur danke und tauchte ab.
Hüttenschlaf mit verzerrten Fratzen, Symbolen, Fischgräten im Schutzhelm, von einer Form in die andere fließend. Kein Zeichner kommt mit bei der Geschwindigkeit, in der sich alles ändert – Themen, Farben, Kulissen.
Clara und Philipp packen ihre Sachen. Aus dem Fenster des Frühstücksraums schaut ein Kind, in der Nähe Kuhglockengeläut, vor mir die aufgehende Sonne und schattige Berge. Ich hänge noch zwischen Traum und Tag, im Wissen, dass der Traum das eigentliche Leben ist, aufregend und wirr.
Jetzt haben wir Urlaub! Seltsam, dass ich dermaßen strahle, wenn ich das verkünde. Die Bildschirmabhängigkeit und Lethargie in unserer Wohnung ertrage ich keinen Tag länger – raus hier, raus! Augen auf für die Welt und füreinander. Dabei ist Urlaub nur eine Idee, ein Konzept. Wenn man das braucht. Brauchen wir. Jetzt.
Patrick überredet mich, bei der Critical Mass mitzuradeln. Meine erste Demo (wie peinlich). Ich entdecke neue Ecken, Freunde, Bekannte und das starke Gefühl, auf dem Rad durch den Wagenburgtunnel abwärts zu sausen. Am Ende des Tunnels blendet uns goldenes Abendlicht, kurz bevor die Sonne hinter dem Berg verschwindet.
Im Traum muss mein Uropa raus aus seinem Haus. Sein ganzes Leben hat er dort gewohnt, jetzt wird es abgerissen. Nana plant einen Sitzstreik, denn das dürfen wir uns nicht bieten lassen – zumal wir nicht wissen, wohin mit ihm. Wir selbst haben testweise ein Haus geplant und bauen lassen: Ein riesiger Lichtschacht in der Mitte sorgt für Tageslicht in allen Etagen. Es gibt kleine Wohnungen, Einzelzimmer, Gemeinschaftsräume und Arbeitsplätze. Alles aus Holz, nur unter der Treppe liegt Teppich – du schüttelst den Kopf darüber. Sonst ist es ein gutes Haus, aber wer weiß, ob wir es uns jemals leisten können. Im Garten steht ein großer Baum, zwischen den Ästen sitzt mein Papa mit Säge. Die Leiter steht zu weit entfernt, ich bin nicht schnell genug, also springt er und lässt sich auf alle Viere ins Gras plumpsen. Sylvia lädt uns ein zu einer alternativen Stadtführung in Feuerbach. Ich bin zu spät dran, auf dem Weg zur Bahn hält jemand mein Rad fest – es ist Sylvia, die ihre eigene Veranstaltung schwänzt. Stattdessen gehen wir zurück zu unserem Haus, das jetzt von Festivalbesuchern besetzt ist. Heute tanzt jeder auf einer anderen Party.
Traumversatzstücke: Ein rotes Silberpapier auf dem großen Zeh, bewundert von den Damen aus der Nachbarschaft. Eine Wiese, regennass und voller Picknickdecken. Vortanzen, Abwarten, krabbelnde Kinder. Ein Erdrutsch im Schlamm. Ein riesiger Saal mit gigantischem Kronleuchter, einstürzende Decke, die den Blick auf die Sterne freigibt. Ich falle nach oben in die Nacht.
In der Abenddämmerung mit der Familie am Strand, wir liegen im seichten Wasser und diskutieren, ob das Wasser wärmer ist als der Wind. Kirchenglocken scheuchen uns auf, wir müssen uns beeilen, um rechtzeitig vor dem Gottesdienst unsere auf dem Steinboden verstreuten Dinge zu sortieren und einzupacken – es ist unser letzter Abend in Russland. Lena und Jana sitzen wartend auf ihren gepackten Koffern und kommentieren den Kram, den wir im Laufe der Reise gekauft haben, vorwiegend Bücher. Lena sieht die Preise und ist schockiert, wie viel Geld wir ausgegeben haben. Ich sage ihr, was sie in Schuhwerk, Jacken und Gewehre investiere, fließe bei uns eben in Bücher. Sie zuckt mit den Schultern und geht schon mal vor. Das Glockengeläut wird drängender, wir sind zu langsam. Gudrun zeigt uns einen Stein, der aussieht, als habe darauf der faltige Hinterkopf eines Säuglings seinen Abdruck hinterlassen. Sie streicht liebevoll darüber und ist glücklich über ihren Fund. Während wir noch packen, erzählt sie uns alles, was sie im Internet über diese Kirche gelesen hat: Die Bodenplatte sei vom Eingang bis zum Altar unterteilt in sieben Abschnitte, wie die Teile eines Briefes. Und Briefe schreibe man hier nur im Beisein der Mutter, die am Anfang und Ende jedes Absatzes erwähnt sein muss. Der Boden ist nun leer, die Koffer sind gepackt, die Glocken verstummt. Von außen lauschen wir den Gesängen und schauen durch die Kirchenfenster, die farbigen Scheiben wie Buchrücken an Buchrücken im Regal, wir setzen uns auf Höhe der Titel.
Er spricht so begeistert, da hüpft mein Herz. Seine Leidenschaft für seine Arbeit verdrängt alles andere: Freunde, Freizeit, Urlaub, Liebe, Kinder. Das ist doch nicht gesund! Aber ein Geschenk für die Kunst- und Bücherwelt. Man kann nicht ein bisschen so sein – nur ganz oder gar nicht.
»Ich bin immer traurig, wenn ich ein Buch zu Ende gelesen habe ... Es ist, als sei ich zu einer Person des Buches geworden. Und mit der Geschichte endet auch das Leben dieser Person.«
Peter Stamm: Agnes
Theaterprobe zu Justynas neustem Stück. Ich soll ein Kochbuch dazu gestalten mit handgeschriebenen Rezepten aller Darstellerinnen. Der Saal ist dunkel und leer, das Stück geht los. Futuristische Kostüme, die Handlung verstehe ich nicht. Ich stehe im Weg, werde mal hierhin und mal dorthin geschoben und spontan Teil der Inszenierung. So normal gekleidet wirke ich wie aus einer anderen Zeit. Wir fahren durch die Stadt, selbst diese ist völlig verändert, wie ein Rendering, es fehlen die Details. Ganze Viertel sind lilablau gestrichen, auch die Dächer und Straßen. Weit und breit keine Autos außer unserem Lastwagen, dessen großflächiger Aufdruck mit einem erstaunt dreinblickenden Smiley – ein mit dicken Linien gezeichneter lilablauer Quadratschädel – für das Theaterstück wirbt. Vorne im Wagen sitzen Winfried und Katrin, wir besprechen das Buch: Handschrift und Handskizzen der Gerichte, eine Doppelseite pro Künstlerin. Ich krame in meiner Tasche, mein Smartphone fällt heraus und das Display zersplittert am Polster, das hart ist wie Stein. Alles Kulisse. Ich kann mein Notizbuch nicht finden, also fahren wir zur Google-Zentrale, finden keinen Eingang. Ich rufe meinen Kollegen an und bitte ihn, mir mein Notizbuch und den gelben Kugelschreiber herunterzuwerfen. Stattdessen öffnet er die gläserne Lamellen-Fassade für mich. Das Gebäude kann noch mehr: Wer versucht an der Fassade hinaufzuklettern, wird mit Illusionen seiner größten Ängste konfrontiert: Spinnen, Wespen, Höhe – individuell projiziert. Google weiß ja alles. Auch über die eigenen Mitarbeiter. Das machen wir uns zunutze und drehen den Spieß um. Im Gebäude wimmelt es von Phobien, bald haben wir alle vertrieben und die Etage für uns. Die Welt, eine Projektionsfläche individueller Ängste und lilablauer Visionen.
Vor einigen Jahren hatte ich das große Bedürfnis, Wurzeln zu schlagen. Jetzt möchte ich mich ausgraben und verpflanzen. Oder ich lasse den Baum stehen und fliege als Samenkorn weiter in neue Erde. Oder in alte Erde, hier am See?
Traum von einem Theaterstück, zu dem wir mehrfach zu spät kommen. Bei der Dernière sehen wir zumindest den Schluss: Ein gedeckter Tisch mit rotem Essen, rote Bete, Traubensaft, Beeren – später in gelb, dann in weiß. Dazwischen schleichen Schildkröten, die von zwei kleinen blonden Mädchen in weißen Hemdchen durch den Raum gejagt werden. Die Rollen von Schauspielern und Publikum drehen sich um, das Publikum steht im Rampenlicht und wird von den Darstellern beklatscht. Darüber hängt ein Käfig mit müden Vögeln. Am Ende stellt sich heraus: Alles nur zu Werbezwecken für Käse.
Draußen wirbelt ein Sturm die Abendpläne durcheinander, während ich drinnen sitze und nach meiner Mitte suche. Dann traue ich mich doch raus in den warmen Sommerwind und stelle fest: das Leben aus meinen Träumen gibt es tatsächlich. In der fast windgeschützten Bucht werde ich mit offenen Armen willkommen geheißen, so wie ich bin, ganz nah, vom ersten Moment an. Ich bin überrascht, überwältigt, überfordert von so viel Zutraulichkeit und liebevollem Streicheln. Gitarren unterm Sternenhimmel, Barfußtanz im Sand, ein Mondbad. Mein Kopf will diese Nähe, doch mein Körper sucht Distanz. Oder umgekehrt. Wieso bin ich nach Hause und nicht mit? Zu schnell, zu nah, zu viel? Mir fällt wieder ein, wie leicht es hier am See ist. Ich will hier leben. Ich will leben.
»Glück malt man mit Punkten, Unglück mit Strichen ... Du musst, wenn du unser Glück beschreiben willst, ganz viele kleine Punkte machen ... Und dass es Glück war, wird man erst aus der Distanz sehen.«
Peter Stamm: Agnes
Ein Mädchen malt Buchstaben, einen pro Blatt. Das Los soll über ihren Namen entscheiden. Ein Mann in futuristischer Ritterrüstung wacht über ihre Kalligrafie, in einer riesigen Halle aus schmutzigem Beton, vielleicht ein Bunker. Sie freunden sich an. Um die Zeremonie zu verhindern, inszeniert er einen Großbrand, schüttet Benzin oder Wasser aus Kanistern über den Boden, zwei Metallbleche schlagen aufeinander, dazwischen liegen kichernd Rachel und Matthieu und machen Lärm wie Donner. Geknister aus Lautsprechern, projizierte Flammen und rotes Licht verscheuchen die Menschenmenge aus der Halle, nur deren Anführer glaubt dem Feuer nicht. Er schickt ein rostiges, trapezförmiges Flugobjekt, das aus der Luft Wasser in die Halle kippt. Der Ritter flieht, verkleidet und rasiert sich, schneidet sich die Haare ab – nicht einmal das Mädchen erkennt ihn mehr. Sie steht im Kreis der Neuen, der Anführer schreitet durch die Mitte und mustert jede und jeden. Bei dem Mädchen bleibt er stehen, er küsst sie und gibt ihr seine Brille, hinter der es dunkel wird mit weißen Punkten, ein Blick in die Galaxie. Sie wurde auserwählt, nur einen Namen hat sie noch immer nicht.
Traum von einem dunklen Holzhaus, mitten im Wald an einem schlammigen See, vererbt an die Familie meiner Freunde. Wir beziehen es zu dritt, ohne zu wissen, ob wir es uns leisten können. Mein Zimmer steht voll mit Dingen, die ich nicht mehr brauche. Sara, die älteste Schwester, führt ihr Pferd um den See, Ben und ich begleiten sie. Wir landen im Schlamm und sortieren meine Dinge, Schublade um Schublade, die Unterlagen werden nass und gehen unter oder treiben davon. Egal, wir brauchen nur noch uns. In der Nähe gibt es ein Wirtshaus, in dem ich oft sitze. Der Sohn der Wirtin schaut verliebt. Eines Tages zieht er mich unter den Tresen und küsst mich. Es wird eine essbare Landschaft aufgebaut, Orangensaft mit Sprudel in Flaschen gefüllt, kräftig geschüttelt und darüber geschüttet. Alles blubbert und spritzt in Fontänen nach oben. Gelbe Springbrunnen, Blumen aus Obst, ich schaue begeistert zu. Flüsternd erzähle ich dem Jungen von meinen Freunden und unserem Haus, in dem noch Platz für ihn sei.
Das Gefühl, dass ich es nicht ganz ernst meine mit dem, was ich tue.
Schwitzendes Bild mit 5 Sieben
Im Wartezimmer liegt ein Spielteppich mit Straßen, Parkplätzen, Bushaltestellen, Kreisverkehr mit Kreisverkehrskunst, Zebrastreifen und Grünstreifen mit Bäumen. Häuser mit Kino, Post, Polizei, Feuerwehr, Tankstelle, Waschanlage und Kiosk, auf den Dächern Lautsprecher, Satellitenschüssel und Windhose. Ein Park mit See, Segelboot und Eisverkäufer, ein Spielplatz mit Wippe und Schaukel. Und ein Bauernhof mit Traktor, Hühnern, Schafen, Scheunentor und Lattenzaun.
Ich habe so große Lust, meine Träume zu tippen, meine Notizbücher und Fotos der letzten Jahre zu durchforsten, Momente auszugraben, etwas großes Ganzes daraus entstehen zu sehen.
Alles hängt mit allem zusammen. Alle Geschichten sind schon einmal dagewesen. Bei jedem Buch, das ich lese, gibt es diese Déjà-vus. Jedes neue Gesicht, in das ich schaue, ähnelt einem, das ich schon kenne. Das Leben besteht aus Wiederholungen das Immergleichen. Ist das gut? Oder soll ich raus aus diesem Kreis, der sich immer enger um mich legt? Ich will tiefer rein und näher ran an den Kern, der die Dinge im Innersten zusammenhält.
Ich nehme mir einen Tag frei. Heute. Also ob ich nicht jeden Tag frei wäre, das zu tun. Aber es wirklich zu tun und es allen zu sagen, das ist neu. So viele Möglichkeiten, jeden Tag. Schreiben und Zeichnen! Oder ins Freibad? Ein Tag scheint zu wenig und doch, Moment für Moment, unendlich lang.
Im ›Piece of Cake‹ ein Zusammenschnitt von Badewannenszenen aus Filmen: Kinder, Männer und Frauen im Schaum, Wetttauchen, Singen, Essen in der Badewanne, und natürlich Selbstmord und Todschlag, blutrotes Wasser. Und wieder Waschen, Einseifen, Entspannen.
Du rollst gerade in Berlin ein, im Nachtzug, zu dem ich dich gestern Abend gebracht habe. Ein langer Kuss auf dem Bahnsteig, ein kurzer Gedanke, ob ich nicht einfach mitfahren soll, mit dem Wenigen, was ich bei mir trage: Kleid und Sandalen, Handtasche mit Geld, Handy und Notizbuch. Pflichtbewusstsein und Vernunft halten mich zurück. Doch morgen fahre ich dir entgegen, wir sehen uns in Kassel.
Traum: Auf dem Heimweg komme ich an Anjas Elternhaus vorbei, im Garten laufen die Vorbereitungen für ihre Hochzeit. Ich winke ihr von der Straße aus zu, sie bittet mich rein und zeigt mir das Chaos der Vorbereitungen – so vieles ist noch nicht fertig, in drei Stunden kommen die Gäste. Ich werde empfangen und umsorgt, als wäre ich ihre beste Freundin, selbst ihre Mutter und Schwester lassen alles liegen, um mich angemessen zu begrüßen und zu bewirten, dabei bin ich nicht mal eingeladen und so gut kennen wir uns gar nicht. Vielleicht sind sie froh über die kurze Ablenkung in dieser angespannten Situation. Zum Abschied drücke ich Anja, wünsche ihr einen wunderschönen Tag und Gelassenheit mit den Kleinigkeiten, die nicht mehr fertig werden. Ich packe meine sieben Taschen und gehe zur Bahn. An der Haltestelle steht Sebastian. Welch eine Überraschung, ihn hier zu sehen! Er trägt einen schwarzen Anzug, der steht ihm gut. Bisher kannte ich ihn nur in praktischen Outdoor-Klamotten. Wir umarmen uns zur Begrüßung, lange, zu lange. Ich spüre seine Wärme, mag seine Nähe, da kommt meine Bahn. Kurzentschlossen steigt er mit ein. Durchs Fenster zeige ich auf den Garten, in dem gleich seine Hochzeit stattfindet, die ersten Gäste sind schon da. Er zieht mich an sich, versteckt uns hinter einer Zeitung und küsst mich. Die Stadt wimmelt von den Hochzeitsgästen seiner zukünftigen Frau. Er lacht nur und die Bahn rollt weiter bergab, Station um Station macht er keine Anstalten auszusteigen und umzukehren. Als ich dann aussteigen will, greift er zwei meiner Taschen und geht voraus. Ich kämpfe noch mit einem Henkel, der hat sich verhakt und es dauert Minuten, bis ich ihn befreit habe. Die Bahn rollt schon wieder, die Türen sind noch offen, ich springe ab und stehe inmitten einer vierspurigen Straße. Da kommt Sebastian keuchend angelaufen, sein Anzug ist zerknittert und das weiße Hemd klebt an ihm wie nach einem Marathon. So kann er nicht heiraten. Ich weiß, sagt er lachend und nimmt meine Hand.
Im Traum kommst du, um mich zu wecken, küsst mich auf den Mund. Ich schrecke auf, kann mich nicht bewegen – ich träume noch. Stimme des Erzählers: »Die Leute machen weiter, jeden Tag, denn die Geschichte muss ja weitergehen.« Ich sehe ein Kinderbuch über eine Welt, etwas mittelalterlich, mit Markt und Stadtmauer. Ein Kind fragt immerzu: »Und wie geht die Geschichte weiter?« Alle tun komische Dinge, die nicht zueinander passen, da jeder seine eigene Geschichte schreibt, ohne auf die Geschichten der anderen einzugehen. Alle reden durcheinander. Geschichten in Geschichten und niemand, der uns das Erzählen lehrt. Wer erzählt, ist verantwortlich für das Durcheinander hier.
Meine Ausstellung steht und ist eröffnet. Sie ist leicht zu übersehen, unscheinbar am Rand platziert. Wieso verstecke ich die Dinge so? Vielleicht weil auch meine Sehen so ist? Alltägliche Beobachtungen, nicht inszeniert. Klein, leise und ruhig, im Schatten oder Halbschatten. Schon lustig, die Kunst: Man taucht ab, macht, legt hin, lädt ein – alle kommen, schauen und nicken.
Der Bundestag beschließt die Ehe für alle. Clara macht mir spontan einen Antrag, ich sage sofort ja. Du stehst daneben – amüsiert und auch etwas verschreckt, zumal wir gleich allen erzählen, dass wir verlobt sind. Trauung in Konstanz, in der Kapelle, die meinem Papa so gefällt. Dann mit dem Schiff raus auf den See, ein Fest auf dem Wasser, die Nacht in Bregenz. Und dann leben wir am Bodensee, genau zwischen Konstanz und Bregenz, auf einer eigens für uns aufgeschütteten Insel, in einem Haus, das du für uns entwirfst. Wir adoptieren dich und Sabine wird Trauzeugin, die den Junggesellinnenabschied organisiert – garantiert ohne Eierlikör, Alkohol aus Spritzpistolen und Kartoffelsalat in Plastikeimern. Wir tragen Kleider, ich in blau, Clara in pink. Oder doch ein rosa Anzug? So streichen wir dann auch unser Haus mit Holzwerkstatt und Atelier in blau und rosa.
Lieber mit Justyna am Feuer, lieber neue Leute mit Geschichten von einem Tag in Polen mit drei Heiratsanträgen in einer Familie, einer davon auf einem Ameisenhaufen. Ja! Und ein jubelnder Sprung in den Fluss, auf der Flucht vor den Ameisen.
Im Traum ein Mord oder Selbstmord. Ich habe damit zu tun, weiß aber nicht, was passiert ist. Ich irre durch die Universität auf der Suche nach Spuren, die ich verwischen will. Eine Trauerrede im Hörsaal, nur Männer in schwarzen Anzügen, daneben ein Theaterstück von Studierenden. Als Kulisse steht da ein Lastwagen, ich setze mich ins Fahrerhaus und verfolge die Handlung, als könnte sie mir sagen, was passiert ist. Auf meinem Bauch entdecke ich Fußnoten, zu jedem Leberfleck eine. Du setzt dich zu mir auf den Fahrersitz und schaukelst, bis die Kulisse wackelt und die Karosserie nach vorne wegklappt. Wir sitzen im Rampenlicht, die Schauspieler spielen einfach weiter. Ich will nicht gesehen werden, flüchte in unsere Wohnung – sie ist winzig und von dunklen Tüchern verhangen. Muffige Geheimnisse liegen in der Luft, die Nachbarin heult, stürzt die Treppe hinab, du gehst und schaust nach ihr. Bei mir sind Steffis Kinder, auf die ich aufpassen soll, auch Amelie und Vincent. Alle wollen meine Aufmerksamkeit, doch ich fühle mich verfolgt. Die Kinder haben Hunger, da fällt mir ein: Es gibt eine Kantine, die gratis die Reste eines Luxushotels anbietet. Man soll anfangs zumindest vorgeben, Spenden zu wollen. Es gibt Berge an Kuchen, Törtchen und Waffeln, aber nur noch winzige Teller. Ich lade mir meinen so voll, dass ich ihn kaum tragen kann. Auf dem Weg vom Buffet zu den Tischen verliere ich einen Brownie, einen Käse-Kirschkuchen und eine vor Zucker triefende belgische Waffel. Der ganze Boden liegt voller Kuchen, mein Teller ist leer. Ich gehe zurück zum Buffet und finde nur neue Kuchen: Rhabarber mit Baiser-Bergen, verbrannte Reste. Auch die schlage ich mir auf den Teller und verliere sie auf dem Weg zum Tisch, an dem die Kinder sitzen, mit großen Augen und knurrenden Bäuchen. Das unfreundliche Personal (wie die Kuchen aus dem Hotel aussortiert) schaut mich vorwurfsvoll an, liest die Kuchen vom Boden auf und stellt sie zurück ans Buffet. Ein Anschein von Schlaraffenland, die Behauptung von Großzügigkeit, aber am Ende doch nur leere Teller und ein verklebter, krümeliger Boden. Und eben ein Mord, an den ich mich nicht erinnern kann.
Kein Tag ohne Schreiben, dem Denken wegen. Das Papier ist mein Zuhause, da bin ich ich. Jeden Tag neu.
Der Traum ist bunt und laut, gewaltsam und schön. Männer, Frauen, verwischt – reduziert auf ein Gesicht, das wie ein Mahnmal vor mir schwebt. Als ich aufwache, krabbeln überall Ameisen.
Alles verkaufen und verschenken, nur ein Rucksack und los. Oder liegt es am Sommer, dass ich die Dinge, Bücher und Wollsachen nicht mehr verstehe?
Ein Hochbett mit guter Aussicht auf die Blumenwiese, die damals noch kein Wohngebiet war. Wand und Decke aus Holz mit Astlöchern, in denen ich Tiere sah. Neben dem Kopfkissen an der Wand ein Bildchen, ich glaube gestickt von Mama. Sie hatte ein paar so Schätze, eine hübsche Nadeldose (die hat sie heute noch) und Metallplättchen mit Glasblumen, selbstgemacht, nur wie? Unter dem Hochbett mein Puppenhaus mit elektrischem Licht und Klingel, es hat mal Mama und ihrer Schwester gehört. Opa baute mir den dritten Stock dazu: Kinderzimmer und Bad. Vom Taschengeld kaufte ich mir Polly Pocket, noch kleinere Welten. Und gegenüber der Kaufladen, auch von Mama geerbt. Jetzt mit Holzgemüse (vielleicht auch erst später, als es der Laden meiner Schwester war). Mein Schreibtisch hatte vorne so ein rundes Fach für Stifte und einen roten Stuhl. Immer lief ein Hörspiel rauf und runter. Dazu habe ich gemalt und mir selbst Geschichten erzählt. Oder den Barbies Kleider genäht, Villen aus Lego gebaut und Gärten angelegt. Und jedem Besuch musste ich es zeigen: Mein Zimmer, meine Welt.
Sie hat ein Sternchen geboren, vorletzte Nacht.
»Kunst macht genauso müde wie andere Jobs, oder noch viel müder, weil nie klar sein wird, wieso man das tut. Das muss man selbst wissen.«
Blau oder rotweiß gestreift zu schwarz, oder rosa zu schwarzweiß kariert?
Abends wiegen die Sorgen schwerer als morgens. War es vor den Morgenseiten nicht umgekehrt? Muss ich mich nun auch abends leer schreiben? Oder einfach immer weiterschreiben, den Stift nicht mehr absetzen, jeden Atemzug festhalten in einem immerwährenden Schreibfluss ohne Punkt und Komma mit Sprüngen in alle Richtungen unvermitteltselbstdielücken
zwischendenwörternweglassennurnoch
einflussausbuchstabenbisinalleewigkeit, Amen.
Geträumt von der Gestaltung eines Buchtitels mit Loch als Bauchnabel. Von einer Ausstellung mit Fotoshooting, Jonas als Model und Blitzanlage. Daneben Musik aus Kopfhörern, selbst komponiert. Ich kenne die Posen, mein Stift ist zerbrochen, mein Magen rebelliert.
»Der Prozess des Kunstschaffens konfrontiert eine Gesellschaft mit sich selbst. Die Kunst bringt Dinge ans Licht. Sie erleuchtet uns. Sie durchdringt unsere anhaltende Dunkelheit. Sie beleuchtet das Herz unserer eigenen Finsternis und sagt: Na, siehst du?«
Etwas Magie in meinem Zimmer: An der Wand zwei Regenbögen und ein Sonnenfleck. Das will ich immer einfangen und wie einen Schatz aufbewahren.
Ich sehe anderer Leute Kinder und schaue nicht die Kinder an, sondern die Eltern – aus der Kind-Perspektive.
Miserabel geschlafen, die dritte Nacht in Folge. Seit ich von Serotoninmangel gehört habe. Nun liegt sogar ein Druck auf meiner Schlafqualität.
Stickige Luft im Wartezimmer. Das Fenster unterteilt die Komplexität der Welt in einzelne Ausschnitte. Jeder für sich genommen scheint verständlich, wie jeder Moment für sich genommen erträglich ist. Ich schaue auf einen Fensterausschnitt, vorne ein altes Dach, dahinter eine neue Fassade, oben ein Stück Himmel. Neun Fenster, neun Ausschnitte. Ich mag diese Aufteilung der Welt, Fensterblicke. Details statt das große Ganze. So ist es auch mit meinen Grundsatzfragen – die kleinen Beobachtungen retten mich vor dem großen unfassbaren Ganzen.
Dieser Typ, der mir alle paar Jahre über den Weg radelt oder läuft oder plötzlich dasteht und guckt – als ob er mich immer mal wieder daran erinnern wollte, dass ich mich nicht erinnern kann. Als ob er wüsste, wer ich bin und wer ich nicht war, als ich ihn küsste und kurz darauf ging und einen Anderen mit nach Hause nahm. War das überhaupt er? Oder hatte ich mir den Kuss nur gedacht, als ich ihn bei einer anderen Party tanzen sah? Von dort kam ich nicht mehr nach Hause, es war zu spät. Ich fragte einen harmlos aussehenden Jungen, ob ich bei ihm schlafen könne. Ich wusste nichts über ihn, folgte ihm zu seiner Wohnung, bekam ein großes weißes T-Shirt und legte mich in sein Bett. Ich wachte früh auf und nahm den Bus, nur weg, nichts wie weg. Wer war ich? War ich überhaupt? Ich kannte hier niemanden und niemand kannte mich. Hinter mir war alles zusammengebrochen, alle wollten weg, also ging auch ich. Nur wohin? Und wie sollte es weitergehen? Ich war einsam, ohne Heimat, Liebe, Halt und so sehr auf der Suche. Dann fand ich das große Nichts. Das Vergessen. Ein Loch in meiner Erinnerung. Manchmal krabbelt dieser Typ dort heraus. Vielleicht will er mir sagen, wie es dort ist, in diesem Loch, in dem ich ihn einfach so habe stehenlassen, um kurz etwas zu holen. Wahrscheinlich hatte ich es sogar so gemeint. Oder jemand hat schräg geguckt und mich erkannt, ich wollte kein Gerede. Oder ich ahnte, dass er gerade dabei war, sich zu verlieben, mich zu verhexen und dann zu gehen. Vorher ging ich. Doch er geht nicht. Taucht ab und zu auf und guckt. Dieser schiefe Mund, immer in Bewegung, als wüsste seine Zunge nicht wohin mit sich. Nächstes Mal frage ich ihn, was damals war, ob was war, ob mein eigentliches Leben genau dort in diesem Loch weiterging, während ich hier draußen danach suche.
Und immer sah eine aus
wie meine Oma mit so Locken.
Selbst eine Briefmarke
wäre dir zu groß.
Du liest und liest, bis du
nichts mehr siehst.
Hypnagogic visions greet me
on the verge of sleep.
Das Leben wird also langsamer mit 31. Man geht nicht mehr aus und merkt es nicht einmal. Nur wenn eine Freundin kommt, die man schon 12 Jahre kennt, oder immer noch nicht. Man leert eine Flasche Wein und lacht wie früher. Und dann? Man spricht von dreimonatigem Fernweh, dem man keine Reise entgegensetzt, sondern ein aalglattes Portfolio, zu dem weder Werber noch Architekten nein sagen können. Für wen will man arbeiten? Will man überhaupt arbeiten? Und was tun, wenn nicht? Hinschmeißen, Esandersmachen, Panik.
Draußen dreht sich das Karussell weniger schnell.
»… eine sprachsprühende Feier der Freundschaft und der Literatur, dieser beiden lebensrettenden Anker.«
In jeder Familie herrscht ein anderes Schweigen.
Im Traum hänge ich meinen weißen Pullover zurück in den Laden und nehme mir einen neuen. Der Verkäufer merkt es, ich rede mich raus, dass es ein Versehen gewesen sei. Danach gibt es Kuchen in einem idyllischen Garten und ich bestelle immer weiter, obwohl der Kellner (vorhin Pulloververkäufer) gerne Feierabend machen würde.
Im Zug hätte ich das Buch gerne kleiner und dunkler gemacht – es ist so bunt, dass alle hinschauen.
Auf der anderen Seite des Flusses, direkt am Wasser, steht ein kleines Giebelhaus. Es war mal meins, Oma hat es für mich gekauft. Doch es wird seit einiger Zeit rückvergütet, in Oliven. Gleichmäßige Portionen, aus denen Muster gelegt werden können, so groß wie das Haus.
R E N T E
E R N T E
– Es gibt ja auch wieder Anfänge.
– Nein, nur noch Enden, lauter lose Enden.
How long did you drive from there?
How long will you stay here?
When is the opening?
When were you here last year?
How many years have you lived there?
When will you go back home?
When do you get up in the morning?
At which time do you start working?
How many people work there?
How old are you?
Since when do you live here?
What time is it?
Traum: – und weg.
Vorbereitung der Exkursion mit Clara durch Krutenau. Ich fühle mich wie Oskar auf der Suche nach Mr. oder Mrs. Black.
Alexandra: »The good thing about you is that you are humble.«
Ehemaligentreffen in einem Schlossgarten, auf dem Dach eines Hochhauses, mitten in der Stadt. Der Weg windet sich spiralförmig nach oben zu einer Aussichtsplattform, die leider so hoch bewachsen ist, dass es keine Aussicht mehr gibt. Tobi versucht mit Hilfe eines Enterhakens über die Metallkonstruktion auf das grüne Dach zu klettern. Er schafft es nicht und ärgert sich, dass er so schwach geworden ist.
Ich versuche, ein Gespräch mit Wolfgang anzufangen, frage, wie es ihm so geht. Sobald es beruflich wird, rennen er und Franzi kichernd davon. Tobi schenkt mir ein Hemd mit geometrischen Strichgrafiken, das mir wohl schon früher gut an ihm gefallen hat. Ihm ist es jetzt zu klein, während ich es höchstens als viel zu großes Nachthemd anziehen kann.
Auf dem Rückweg kommen wir durch einen labyrinthischen Garten, umgeben von einem Wohnviertel, das nach Geld riecht. Jeder Balkon hat eine individuelle Verkleidung – eine geschmackloser als die andere. Was wir sehen, sind die Spitzen von Wolkenkratzern. Wir finden den Aufzug nach unten in die Stadt, müssen aber warten. Vor uns steht eine Gruppe Jugendlicher, alle in Schwarz gekleidet, mit glänzendem Haar und von Drogen irrem Blick. Sie verschwinden im Aufzug, wir rücken auf in einen gläsernen Vorbau. Hinter uns schiebt sich ein alter Mann durch die Tür, vor sich einen Rollstuhl mit Hund.
Clara erzählt mir von ihren Eltern und dem Haus in Paris, in dem sie aufgewachsen ist. Sie zeichnet und erzählt es so plastisch, dass ich mich fühle mich wie in einem Märchen. Das Haus gleicht einem Puzzle: In der Wohnung oben links hat die Mutter früher gewohnt. Als der Vater dazu kam, wurde es zu klein für zwei, also nahmen sie die Werkstatt im Erdgeschoss dazu und bauten sie um. Später kam auch die zweite Etage dazu. Der Parkplatz wurde zum Garten, über den Hof schleicht Claras Katze. Häuser der Kindheit – ich will mehr davon!
Ich bin nicht gut darin,
Dinge jeden Tag zu tun.
Die Blätter fallen so schnell
Traum von Papieren, ineinander gesteckt, mit Plänen darauf, die nicht mehr lesbar sind vor lauter Linien.
Abends lese ich in meinem Tagebuch von 2015 und stoße auf ein Zitat von Knausgard, dem nur Essays und Tagebücher sinnvoll erscheinen. – Aus einer Stimme, »einem Leben, einem Gesicht, einem Blick, dem man begegnen konnte. Was ist ein Kunstwerk, wenn nicht der Blick eines anderen Menschen?«
Wie schnell die Blätter gelb geworden sind, wie schnell sie fallen. Ich schreibe bis spät und bin doch eine Woche hinterher.
Collection of unfinished thoughts told to Markéta.
Beobachtung: Wer in Frankreich ein Baguette kauft, muss sofort ein ein Stück davon abbrechen und essen. So gesehen bei zwei jungen Damen, die kurz hintereinander den Laden verließen.
Markéta ist zurück aus Prag. Schön, nicht mehr allein in der Wohnung zu sein. Nach einer achtstündigen Autofahrt kratzt sie all ihre Energie zusammen, um den Abend – wie per Mail verabredet – mit mir zu verbringen. Sie zeigt mir das Ergebnis einer zweijährigen Recherche, ein Buch über konzeptionelle Literatur in Zentraleuropa: »Třídit slova / Literatura a konceptuální tendence 1949–2015«. Sie erklärt und übersetzt mir ein paar der Texte und Konzepte:
Alle Wörter der Odyssee alphabetisch sortiert und wieder zu einem Buch gebunden.
Alle Schrift einer Straße auf einem Plakat komprimiert.
Ein Fahrplan, dessen Ortsnamen durch Körperteile ersetzt wurden.
Texte, die ausschließlich aus Fußnoten bestehen.
Texte, von denen nur noch die Satzzeichen übrig sind.
Steffi neulich: „Glaubst du immer noch, dass die Zeit springt, wenn du durch Türen gehst?“
Mein Rad ausprobiert, Freiheit gespürt.
Wir erkunden das leerstehende Haus gegenüber. Die Zimmer sind über die Etagen schneckenhausförmig hintereinander angeordnet. Unten gibt es ein kleines Restaurant mit überdachter Terrasse. Als Gäste vor der Tür stehen, bewirten wir sie spontan mit dem Wenigen, das die Küche noch zu bieten hat, vor allem das Geschirr ist rar. Jakob fängt an zu kochen, setzt sich dann aber doch lieber auf die Terrasse zu den Gästen. Also übernehme ich und versuche, das Allerlei aus Kohl und Nüssen zu retten. Plötzlich steht der Sohn der Hausbesitzer im Raum und sucht nach Dingen, die wir längst verlegt haben. Wir lassen uns nichts anmerken, servieren, kassieren und gehen unauffällig davon.
Aus George Perecs Träume von Räumen: »Ich bewohne mein Blatt Papier, ich statte es aus, ich durchlaufe es. Ich lasse weiße Stellen, Zwischenräume (Sprünge im Sinne von Unterbrechungen, Durchgängen, Übergängen). Ich schreibe auf den Rand. Ich beginne eine neue Zeile. Ich verweise auf die Fußnote¹. Ich nehme ein neues Blatt. […] So beginnt der Raum, nur mit Wörtern, mit aufs weiße Papier gebrachten Zeichen. Den Raum beschreiben: ihn benennen, ihn abstecken, wie jene Hersteller von Portolankarten, die die Küsten mit Hafennamen, den Namen von Kaps und kleinen Buchten vollschrieben, bis die Erde am Ende nur noch durch ein fortlaufendes Textband vom Meer getrennt war.«
1) Ich liebe die Verweise auf Fußnoten, selbst wenn ich dort nichts Besonderes zu vermerken habe.
Im Kapitel »Das Schlafzimmer« behauptet Perec, sich an alle Räume bzw. Betten zu erinnern, in denen er je geschlafen hat. Von Raumbeschreibungen erhofft er sich Zugang zu weiteren Erinnerungen: »Es liegt mit Sicherheit daran, dass der Raum bei mir so wirkt wie eine Madeleine bei Proust (unter dessen Zeichen dieses ganze Projekt selbstverständlich gestellt ist)«.
Croissants gekauft – zwei, um Fehler zu vermeiden (un / une – deux). Im Atelier gefrühstückt. Nebenan ein Schrei-Seminar. Im Atelier du Livre vorbeigeschaut, Hélène meine Bücher präsentiert – auf Englisch, das sie besser spricht als versteht. Zu Mittag meine ersten Schritte über den Fluss, Quiche aux légumes. Im Flur vor meiner Tür hockt, sitzt und steht eine Zeichenklasse in drei Etagen. Nachmittags offizieller Atelierbesuch, meine Bücher präsentiert (heaven ≠ sky). Abends einsam gefühlt, eingekauft, etwas verlaufen.
Früh aufgewacht, über Anfänge nachgedacht. Anfangen war einfacher, als wir alle am Anfang standen, neu waren. Aufs Neue beweisen wollten, wer wir sind, den Anderen und uns selbst. Fangen wir an, erfinden wir uns neu. Fangbereit für alles Neue, das kommen mag. Hier bin ich neu.
Über oder Für?
Über überhöht sich, schaut aber hin.
Für schenkt, wo es nichts braucht.
Livre
Une lettre
Un mot
Une phrase
Un paragraphe
Une page
Un livre
Lieu
à propos d’une chambre
à propos d’un appartement
à propos d’une maison
à propos d’une rue
à propos d’un quartier
à propos d’une ville
Temps
par minute
par heure
par jour (ou nuit)
par semaine
par mois
par année
Chronologisch
Alphabetisch
Geografisch
Thematisch
Farblich
17.10.2016 – 13.01.2017
A – Z
N 48° 34' 54.731", O 7° 45' 31.867"
Buch, Ort, Zeit
Blau, Weiß, Rot
Ateliereinrichtung: Zwei Tischplatten, vier Böcke, zwei Stühle, ein durchgesessener Sessel, ein Hocker als Beistelltisch, ein hoher Hocker, um aus dem Fenster zu schauen, ein Sockel neben der Tür, unter dem Nagel für meine Jacke. Der Rest kann raus oder in die Nische nebenan. Den Schreibtisch stelle ich so, dass ich die Riesigkeit des Raums nicht sehe. Da sitze ich nun. Vor mir eine hohe, weiße Wand. Und ein weißes Blatt. Was tun mit all dem Weiß?
Ankunft in Strasbourg. Vor der Akademie überfällt mich eine unendliche Müdigkeit, die sich wie Nebel zwischen mich und die Stadt legt. Atelierbesichtigung und weiter zur Wohnung: Wohnzimmer, Küche und Bad (ein Traum in beige – wie daheim), vier Gästezimmer. Das mit der roten Aufschrift »The Blue Room« wird meins. Traumloser Mittagsschlaf.
[25.09.15 14:45:09] 5ee9a0
[25.09.15 14:52:37] 06d8bd
[25.09.15 14:54:17] 01e9bb
[25.09.15 14:55:25] 00ffcc
[25.09.15 14:56:31] 03eabc
[25.09.15 14:57:46] 04e0b4
»Das Leben, dieser Luxusdampfer.«
Sagt: »EU, Schuld, Hitler, Stalin, Putin, Kretschmann, Italiener, Türken, seit 3 Generationen, Erdogan, Es hat kei Wert …«
Je weniger sie sagt, desto wertvoller jeder einzelne Buchstabe. Und sei es nur ein »VlG Mama«.
Das mag ich:
Mit dem Fahrrad über lose Pflastersteine holpern.
Die Welt in ja und nein, gut und böse, schwarz und weiß – keine Graustufen oder Farbnuancen, und schon gar keine Überraschungen.
»Punk. Ich will Punk machen. Punk ist Alkohol, Sex, Drogen und Politik.«
Wandertag mit treuloser Tomate, der das Leben noch viel enger gestrickt wird als mir. Ich falle durch die Maschen und verfange mich beim Kletterversuch zum Faden, um ihn selbst weiter zu stricken im chaotischen, aber authentischen Muster meiner Launen.
Den äußeren Einwirkungen oder den inneren Auswirkungen ausgeliefert.
Erst am Boden,
jetzt über der Heizung –
verknittert.
»Die Tonkunst ist ähnlich wie die Wortkunst im Gegensatz etwa zur Malerei oder Bildhauerei eine Zeitkunst.«
»Schumann benutzte ein verkehrt eingestelltes Metronom. Seine irreführenden Zeitangaben mußten später richtiggestellt werden.«
Im Brummen der Flugzeugmotoren meine ich den Gesang meines Chores zu hören. Ein unendlich gedehntes Prosit der Gemütlichkeit in allen Tonlagen zugleich.
Nach dem Urlaub falle ich zurück in mein Loch. Zweifel drücken mich morgens zurück in die Federn und verjagen mich schneller aus meinem Schaufenster als ich mit der Arbeit beginnen kann. Herrje, hört das denn nie auf? Oder erst wenn ich ein Kind habe? Oder am Bodensee wohne? Oder Kunst mache? Oder schreibe? Oder nur noch koche und backe? Oder allen Ballast von mir schüttle und aus einem kleinen Rucksack lebe, nirgendwo zu Hause, überall daheim? Das ist keine Achterbahn mehr, das ist ein Spiegelkabinett ohne Ausgang.
Plötzlich schlägt mir eine Kälte entgegen. Ein Kommentar auf Facebook entlarvt meine tiefsten Ängste, ich fühle mich ertappt. »Ihr verfluchten Nachmacher!!!!!« schreit da einer. Mein Bauch verkrampft sich, ich will ins Bett und nie wieder aufstehen. Oder zumindest heiß duschen.
Was meint er genau? Das Logo, das sich mit Abstand betrachtet als eine Mischung der Logos zweier Designschulen interpretieren ließe? Oder meint er die Website, deren Menü dem meiner Lieblingswebsite ein wenig zu sehr gleicht? Die andere Schrift, die neue Bildsprache, die Bespielung des Logos – sind das nicht genug »neue« Elemente für ein eigenständiges Erscheinungsbild?
Geht das überhaupt, etwas Neues zu erschaffen, wenn man doch von allen Seiten beeinflusst wird? Sind unsere Ausdrucksmittel nicht viel zu limitiert, um uns nicht ständig – versehentlich oder unbewusst – gegenseitig zu kopieren? Und warum ist das schlimm?
Weil es wohl mal wieder ums Ich geht, um Identität. Als ich bemerkte, dass meine kleine Schwester sich heimlich meine Klamotten auslieh, fühlte ich mich in meinem Stil (wenn man das, was ich mit 17 trug, als Stil bezeichnen möchte) kopiert. Nicht mehr eigenständig, besonders, ich. Ich hätte es auch als Kompliment verstehen können.
Und wer kennt das nicht: einen tollen Entwurf aufs Papier gebracht zu haben, nur um kurz darauf festzustellen, dass das so oder so ähnlich schon vor hundert Jahren entworfen wurde. Mein Freund erzählt gerne, dass er in seinem ersten Semester den Klappstuhl neu erfunden hat. Alles schon da gewesen, die Farben, die Formen, das Rad.
Die Kopie ist in unserem Kulturkreis verpönt, Nachmacher werden geächtet. Nun komme ich aber seit geraumer Zeit auf nichts Neues, Eigenes – aus lauter Angst, etwas falsch zu machen. Wann hat das angefangen? Als ich merkte, dass ich zu wenig weiß? Als ich keinen Strich mehr zustande brachte, ohne mindestens bei fünf Anderen zu schauen, wie die das machen? Aus Faulheit? Aus Angst. Doch welche Angst ist größer: Der Kopie verdächtigt zu werden oder den Fehler zu riskieren? Beides bleibt wohl keinem erspart, der nicht im Bett bleibt. Im Kopieren lerne ich von anderen, im Fehlermachen von mir selbst.
Kurze Zeit später stellt sich heraus, dass der Kommentar gar nicht uns galt. Immerhin hat er mir ein paar Gedanken beschert.
Im Traum lässt du mich kurz aus den Augen, verschwindest einmal mehr im Gebüsch, als ich Tommy treffe. Er ist auch schon früher an den See gereist, bevor der ganze Chorrummel hier losgeht. Er zeigt mir ein paar Schaukeln in den Bäumen über dem Wasser. Ich folge ihm und mag seinen Rücken. Wir gehen schwimmen. Ich klettere auf eine der Schaukeln und Tommy hängt sich an meine Beine. In der großen Runde setze ich mich neben ihn, du schleichst um uns herum. Als ich aufwache im Traum, hast du deinen Gürtel um unser beider Hüften geschnallt und ich habe einen dicken Fisch im Mund. Ich hole ihn raus und esse ihn langsam.
Ich lese mit einer freundlichen Stimme im Ohr, während der Rest der Welt brüllt. Egoismus und Kälte schlagen uns im Flugzeug entgegen, äußerst nett hingegen der in Costa Rica lebende und in Deutschland geborene Engländer neben uns. Er weiß, was von amerikanischen Airlines zu erwarten ist: Keine Filme, kein Essen, es sei denn du zahlst. Nicht mal die Stewardess muss mehr freundlich sein. Immerhin organisiert sie uns dann doch zwei Plätze nebeneinander mit den Worten: »Kids, there are two seats in 34, A and B.« – Kids, nice. Jung und verliebt, immer noch, auch wenn du Pampers trägst und Apfelmus schlürfst – ohne dich wär alles nichts.
Wir sitzen im Paradies und spielen Familie, bis wir uns nicht mehr sehen. Jeder verstrickt in seiner Rolle, bis wir eigene Wege gehen. Fürsorge oder Vormundschaft, Mündigkeit oder Lethargie, Hängematte oder Touristenprogramm, karibischer Strand oder Stau im Regenwald.
Im Traum ein Fest unter Bäumen, umzäunt von Buchstaben, die ich vor Jahren mitgestaltet habe. Meinen Gesprächspartner möchte ich darauf hinweisen, doch ich komme nicht zu Wort. Die Buchstaben drehen sich, werden zu magischen Zeichen, während wir uns tief in die Augen blicken. Du kommst von hinten angeschlichen, wirbelst mich tanzend im Kreis und küsst mich – der andere guckt ein wenig enttäuscht. Die Gäste klettern auf den großen Baum, hängen kopfüber an den Ästen und springen in Saltos zu mir herunter und rückwärts wieder hoch. Eine Nacht wie diese wird es nie wieder geben. Es ist warm, die Luft vibriert und alle fühlen sich stark, so verschrobenen sie auch sind. Bleib doch noch, es gibt noch so viel zu erzählen.
Zwei Aufgaben des Lebensumfangs:
Deinen Kreis immer mehr einschränken und immer wieder nachprüfen, ob Du Dich nicht irgendwo außerhalb deines Kreises versteckt hältst.
ZZ 94
Es gibt nur ein Ziel, keinen Weg.
Was wir Weg nennen, ist Zögern.
HAL 22
Natürlich träume ich von dir, wenn ich in deinem Bett schlafe. Wir fahren Auto, jeweils allein. Wir bewerben uns an den selben Schulen, werden abgelehnt. Wir stehen nebeneinander auf Gruppenfotos, ohne einander zu kennen oder jemals wirklich begegnet zu sein. Wir sehen uns nicht, wenn wir uns sehen. Wir träumen und leben aneinander vorbei.
Zwei Lehrer stehen neben dem Treppenaufgang und platzieren eine Stellwand, damit sich niemand verläuft. Lachend stellen sie fest, dass der Gang viel zu breit ist, um ihn abzusperren. Ich frage sie nach dem Weg. Tür reiht sich an Tür, eine steht offen und Carsten davor. Verwundert fragt er: „Was soll denn hier unterrichtet werden? Das Zimmer ist voller Betten!“ Laura und Heike stürmen hinein und hüpfen von Bett zu Bett. Die beiden kuscheln sich eng aneinander und in die Decken, bis Laura auf den Plattenteller rutscht und sich dreht, dass ihre Haare fliegen. Ich denke an die 2000 Euro Kaution, die jede von uns zahlen musste, und behaupte, die Rolle der Aufseherin liege mir am besten. Mit mahnendem Zeigefinger stelle ich mich mitten in den Raum, scharfe Zurechtweisungen bellend. Peinlich, wie gut ich das kann. Eigentlich steckte ich lieber mit den beiden unter der Decke, aber da ist kein Platz für mich, für niemanden. Lauras fliegende Haare sind ansteckend, die elektrische Ladung knistert auf meinem Kopf.
Diese Angst, dass irgendwer dahinter kommen könnte, dass ich nichts kann, dass er es allen erzählt, dass es dann vorbei ist. Was dann noch bleibt, ist eine Zukunft, in der ich nichts mehr machen darf (oder muss), von dem ich denke, dass ich es nicht kann.
Die Spiegelkugel schaukelt im Wind und wirft Lichtpunkte aufs Gras. Wo fängt man an, wenn die Tage eines ganzen Monats dem Vergessen überlassen wurden? Hier und Jetzt oder wieder im Gestern, das an Glanz verliert, sobald man darüber schläft? Ich rücke eine Stufe abwärts, dem Sonnenstreifen nach, und überlege, wie Leben geht.
Bayrische Stellen aus Oma Heidis Kochbiografie:
Wos woitsn ia do? D’Heidi hod koa Zeit, die muas oaboiten. Hermann, des moch ma ned. Mei, des is obr vui Geid. Mei Heidi, der Moa woa net so voam Krieg. Mei Heidi, wos hama dem ois gwünschd. I hob de Himme auf de Welt. Geh her da. Brauchst nadierlich scho a guads Essn. Heidi, hoast du scho Hai hergricht fia moagn Fria? – Mei, hob i no net. Hoi-Stoll. Deandl. Gunkeln. I muas owai oaboiten. Hots dem Deandl wieda Hoar gflochtn, muss se wieda schreibn. Wos woitsn ia doh, wo kimmtsn ia her, wer seidsn ia? Joa und? Wo gherstn du hi? Mit der brauchst dich fei net anfreunden, die ist evangelisch Mei, mir kimme doch des Deandl net so weit fuad lossn, do seng ma nimma dazue. I kimm von der Metzgerei Wurz und mecht bei eana die Pergament-Düten abholn, die bsteillt woan sand. Sigstes Hermann, etz hama die Schererei. Des wirst sehn. Mei, des hand doch Luthrische! Mechtst du den Moa heiratn? Die Heidi hod en Freind, en Schwob! Mei Heidi, wos verlongst uns do ob! Des kima mir doch goa ned leisten, wos du do mechst. Verlobung, des kenne mir joa goa ned. Joa mei, wenn aich des glongt. Des muss ma ned, mocht ma ned, braucht ma ned. Heidi, i mog mit dir und mim Frieder geh! Worum host denn du koan Bruada ned? Mei, des is hoid a Lutrischer. Bajuwaren. Joa, wos hobds n ia zwoa vor? Hermann, du wiast di no wundern, aber mei Geid findst du net. Joa, ma woas ned, wos fia a Zeit kimmt, dann simmer froh dran. Blau und weiß kariert mit Herzerl drauf. Sterbbeidl. Gestern host du verkaufa derfa und haid derf i verkaufa. Obhaideln. Schweinderl. Du deafst es ned auslossn, gell, hoids fest, hoits joa fest! Loss ned aus! Deafst ned auslossn! Doss ma a Kaibe hoaltn konn. Nojoa, do kimma a nix dafia. Joa Heidi, woaßt du denn ned, doss wia die Zwiebel vorher andämpfen? I wos des scho, doss ia des so mocht.
»Als die Stehl ihm gar – ungefragt – mitteilte, dass sie ein Werk über Deutschland zu schreiben gedenke, fragte er schroff: ›Wozu?‹ – Die Stehl hatte hierüber nicht nachgedacht und blieb die Antwort schuldig.«
Wolfgang Hildesheimer: Lieblose Legenden
Gefunden in der Bismarckstraße, Stuttgart
Aus einem kleinen Riss in meiner linken Handfläche fallen rote, klebrige Quader, alle gleich groß, etwa einen Zentimeter lang, dazwischen ein größeres Dreieck. Die letzten ziehe ich vorsichtig heraus, bis nur noch ein kleines Eck aus dem Riss ragt. Das sei Lobe, sagt Naomi, ein Blutplasma, das manchmal ausfällt, ausgelöst von Allergien. Fasziniert und angeekelt zugleich spielt sie mit den glitschigen Klötzchen. Ich fege sie mit der Hand vom Tisch in den Müll. Das hatte ich noch nie. Liegt es an diesem Haus? Mitten im Nirgendwo, umgeben von Landschaft – wenn nur die große Straße nicht wäre. Man hört sie nur, sieht sie nicht, denn vor den Fenstern stehen Mauern, nur durch das Glasdach fällt Licht. Ich suche den Raum mit den Fäden, knipse alle Lichtschalter an und aus, bis sich die Leute in der Küche beschweren. Ich finde die Ziehharmonika-Konstruktion, an der die Fäden früher hingen. Kein Platz mehr für solche Spielereien, die Konstruktion wird jetzt als Wäscheständer genutzt. Früher hing sie an der Decke, die Fäden reichten bis zum Boden und füllten den ganzen Raum. Man konnte darin tauchen, erinnert sich Georgs Vater, der nun auch hier lebt. Allen im Haus erzähle ich von den Klötzchen, der Riss ist schon fast verheilt. Der Mitbewohner kommt rein, er war beim Frisör und sieht jetzt doof aus.
Was macht dieser große, großartige, zu Großem bestimmte Mann hier?
Wie kommt es, dass er mich überhaupt sieht?
Ich zeige ihm meinen Laden, der ihm viel zu klein wäre.
Was ich erst sehe, als er kniet.
Die Nachbarn meiner Eltern haben sich in Wien eingemietet, wo wir sie besuchen. Ringsherum stehen Betonklötze, eine Fernsehanstalt ohne Fenster, Büros. Die Wohnung selbst gleicht einem Labor, eine Pritsche mit abwaschbarem Bezug, schwere Plastikvorhänge als Raumteiler, kein Fenster. Ich mache mir die Finger schmutzig an einem schwarzen, klebrigen Klumpen, doch es gibt keine Küche, kein Bad, kein Waschbecken, an dem ich mir die Hände waschen könnte. Ich wische sie an meinem hellblauen Pullover ab, wo das ölige Zeug abperlt und zu kleinen Krabbelkäfern wird. Ich versuche, dir Zeichen zu geben, etwas stimmt hier nicht, doch man tut alles, um uns abzulenken. Eine junge Frau verführt uns, oder wir verführen sie, denn plötzlich ist sie nackt. Sie verliert die Kontrolle über sich, dabei sollte sie uns kontrollieren. Sie ignoriert die Anweisungen ihres Chefs von nebenan. Ich streiche über ihren glatten, weißen Rücken und finde eine winzige Nadel in der Haut. Ich ziehe sie raus und weiß, dass sie uns gilt. Ich manipuliere den Plan, den ich nicht durchschaue. Man befiehlt uns, uns anzuziehen für eine Fahrt mit dem Aufzug in den nächsten Stock. Ich lasse mir Zeit, stelle mich absichtlich blöd an, gebe dir Zeichen, versuche dich zu warnen. Wir werden in den Aufzug geschubst, er fährt aufwärts, biegt ab, gleitet am Dachfirst entlang und weiter durch die Stadt. Ich frage, ob eine Wohnung mit so weit auseinanderliegenden Zimmern nicht unpraktisch sei. Immerhin der Eingang sei zentral und zudem müsse man froh sein, in Wien überhaupt eine Wohnung zu finden. Der gläserne Kasten hält an einer Ampel, wir werden entführt.
Karl Ove Knausgård
Ein Holzschrank mit drei großen Schubladen, am Waldrand neben dem Haus. In der obersten Schublade finde ich Papiere, meine Papiere in allerlei Farben. Bald werden sie sich wellen, vergilben, unbrauchbar sein. Wie kamen sie hierher? In der mittleren Schublade liegen Briefe, Erinnerungen, Herzen. Alles ist durcheinander. Hast du sie durchgesehen? Hast du den Brief an dich gefunden? Mich gefunden? Hast du verstanden? In der untersten Schublade lagert dein Holz.
Vor dem Schrank im Gras liegt ein Strauß Plastikblumen, täuschend echt, aber viel zu schön. Du bist noch nicht zurück, sitzt auf einem Dach und hämmerst. Also gehe ich die knarrende Treppe hinauf zu deinem Haus, um eine Vase zu suchen. Ich finde nur den Krug, den wirst du brauchen, sobald du zurück bist. Ich fülle ihn mit Wasser und stelle die Blumen hinein. In diesem Moment verwelken sie und hängen müde ihre Köpfe über den Rand. Die Treppe knarrt unter schweren Stiefeln, ich fühle mich ertappt.
Wieso lagere ich meine Dinge hier – alles, was mich daran erinnert, wer ich war? Ich kam hierher, um mich in den Dingen zu spiegeln, um mich zu sehen. Folgst du mir? Was siehst du? Und warum versteckst du dich? Auch ich verstecke mich, hinter unübersehbaren Farben, hinter knalligem Prunk, der mich wie ein Wirbelsturm umgibt und vor der Ruhe da draußen schützt.
Noch immer das welke Kraut in der Hand suche ich nach dem Abfalleimer. Gibt’s hier nicht. Darum liegt die Wiese voll mit Dingen, die zu Blumen werden, wenn man sie nur lässt.
Ich spiele mich
Sobald jemand guckt
Dann lache ich und rede
Als sei alles gut
Sobald ich allein bin
Bleibt nur das Grinsen
Und ich bin weg
Der alte Mann räumt die mit großer Schrift beschriebenen Papierbögen zur Seite. Die Geschichte eines Mädchens, wie er sie sich zusammengereimt hat – und er hat an sie geglaubt. Er riskierte sein Priesteramt und seine Freiheit im Westen, um sie zu retten. Getarnt als Polizist verfolgte er die feine Gesellschaft in ihrem Wagen ohne Verdeck. Hände hoch, und alle wurden festgenommen, bis auf das Mädchen, das in der Mitte auf dem Rücksitz saß. Das Mädchen war ich, die ich jetzt in der Tür stehe und den alten Mann umarme, in Tränen aufgelöst, schluchzend. Mich, wie ich dort auf dem Papier stehe, hat er erfunden und damit meine eigentliche Geschichte ausradiert. Ein wenig kann ich seine Enttäuschung darüber verstehen, dass ich nur ich bin und nicht die Anna, wie er sie herbeigeschrieben hat. Er versucht sich aus meiner Umarmung zu befreien, denn in der Tür steht jetzt die Nachbarin, kopfschüttelnd über den alten Priester in den Armen eines Mädchens.
Ich spaziere die Straße entlang, Andreas im Schlepptau. Er ist zuvorkommend, höflich, blind vor Liebe für mich. An der Tür zu meinem Wohnheim angekommen fällt mir ein, das Licht ist kaputt. Kurzerhand repariert er dies und jenes, während ich die Treppe nach oben steige. Meine WG ist unter dem Dach, zweistöckig, darunter eine weitere, aus der lautes Lachen lockt. Ich trete ein, stelle mich vor als die, die schon vor Monaten eingezogen, aber erst jetzt wirklich da ist. Die Frauen nennen mir ihre Namen, die ich nicht verstehe. Ich solle sie wiederholen und mir besser gleich merken, meint die eine mit gemeinem Blick. Schwarze Locken rahmen ihr finsteres Gesicht. Hinten auf dem Sofa kuschelt ein Pärchen. Sie ruft herüber, dass sie oben im Zimmer neben meinem wohne. Ich fühle mich nicht unwohl, trotz der eigenartigen Aggression im Raum. Die Frisuren der Frauen sind anders, fast futuristisch, die Räume, die Möbel und das Licht dagegen wie in dem historischen Roman des Priesters. Anna heiße ich hier. Hinter mir steht plötzlich Andreas, der alles repariert und sogar das Treppenhaus nass gewischt hat. Seine blonden Löckchen, sein freundliches Gesicht und seine aufrechte Haltung machen einen guten Eindruck bei den Frisuren am Tisch. Doch er folgt mir nach oben in mein Zimmer, wo ich vier Betten für die Nacht vorbereite. Zwei Freunde von Andreas betreten die WG und strecken sich gleich auf den Matratzen aus. Andreas schaut mich an, will etwas sagen, oder auch nicht. Er will mich. Von nebenan ist ein Wimmern zu hören, ein Kind. Ich gehe rüber und schaue nach. Ein kleines Mädchen im Schlafanzug sitzt aufrecht im Bett. Sie fragt nach ihrer Mama. Sie ist unten, sage ich. Soll ich sie rufen? Nein, das ist gut, sagt sie und ordnet ihre Kuscheltiere neu an. Gute Nacht, sage ich und verschwinde im Bad. Ruhe, ein Spiegel. Ich sehe mich zum ersten Mal, sehe, dass meine Bluse zwar neu, aber altmodisch geschnitten und von grausamer Farbe ist. Ich lösche das Licht und taste mich zu meinem Bett. Andreas müsste da sein, vielleicht findet er mich.
Ist das Simon, der seinen Kopf auf Händen trägt? Und was ist das für ein Fenster? Ist er übergeschnappt oder einfach glücklich, so kopflos durch die Räume zu laufen? Mir hinterher, von mir weg. Dick ist er geworden und doch so elegant in schwarz und weiß, im Anzug mit Fliege. Ich lasse ihn stehen, seinen Kopf nehme ich mit.
»Es geht hier übrigens nicht um mich – ich nehme nur diesen meinen Fall, um zu illustrieren, welch merkwürdige Paradoxie der Sichtbarkeit sich einstellt, wenn man zu genau (oder: nicht genau genug) hinguckt.«
Traumkorrespondenz
Eine Geschichte in Träumen
Wenn man sich abends gute Nacht sagt und morgens nach dem Schlaf erkundigt, ist es, als hätte jeder dazwischen eine lange Reise unternommen. Keiner versteht so recht, was passiert, wenn er sich in seine Traumwelt verabschiedet.
Plakat: Marina Gärtner
it’s mee gallery, Stuttgart
Scherben neben meinem Bett – das Wasserglas. Ich stelle mir vor, wie sich die Splitter vom Boden lösen, in meine Träume schleichen, über meine Finger auf meine Haut. Lieber liege ich wach und starre auf das scharfe Geglitzer zu meinen Füßen. Und wenn jemand reinkommt?
Du führst mich
Auf ein Schlachtfeld
Das ich nie betreten wollte
Das ich verlassen hatte
Bevor es geschah
Ich ging einfach
Und doch trägt es
Meinen Namen
Ich erinnere mich nicht
Kann mich nicht erinnern
Vergesslichkeit oder Selbstschutz
Wenn das nicht das Gleiche ist
Amnesie der Liebe
Die bleibt
Nur ohne uns
Samuel Beckett, Endspiel
»Gottseidank weiß mein Zettelkasten nichts von Ordnungsprinzipien und Selbstverlorenheiten. Ihn zu durchstreifen ist jedesmal wie ein Spaziergang durch den undurchforsteten Dschungel. Was sich beim Durchstreifen anzettelt, ist Kondensation des Glücks, ist Wolkenbildung und Erinnerungsregen.«
Alissa Walser, zitiert in: Zettelkästen, Maschinen der Phantasie
Bergauf in der Appenzellerbahn: Der schmale Streifen Bodensee erhebt sich, wird flächig und immer größer, wird zu einem riesigen, glänzenden Spiegel unter unentschlossenem Himmel. Drei Länder teilen ihn unter sich auf, sind verbunden durch ihn, den sie lieben. Bergauf, bergauf – die Schweiz wie aus dem Bilderbuch: Eine Katzenleiter am Bahnwärterhaus, ein schwarz glänzender Mähroboter unter Obstbäumen, eine Wandergruppe in knallfarbigen Anoraks. An der Endstation wartet das Postauto zum Alpenhof: Buchvernissage!
Ich komme nicht raus aus diesem Gedankenklumpen voller Kisten, voller Papiere, die vielleicht, sehr wahrscheinlich sogar, wertvoll sind. Wir streicheln sie, die zerbrechlichen Blätter, von denen viele schief gefaltet, aber wahrscheinlich alle leer sind. Man müsste jemanden fragen, der sich damit auskennt. Ich sollte damit aufhören, sie zu streicheln, denn mein Streicheln wird im Schlaf zu einem Kratzen, dem Papier und Haut nicht gewachsen sind. Sie werden zerfallen, so oder so. Wir werden zerfallen. Grau, braun, beige, verschiedene Formate, die Großen streicheln sich am besten. Mach die Kisten zu, aber bleib, bitte bleib.
»Ach lass – […] : Es ist Nichts so eilig, daß es nicht durch Liegenlassen noch eiliger würde !«
Arno Schmidt: Nobodaddy’s Kinder
»Am Ende sind doch immer die Schlimmsten Meister, das heißt : Vorgesetzte, Chefs, Direktoren, Präsidenten, Generale, Kanzler. Ein anständiger Mensch schämt sich, Vorgesetzter zu sein !«
Arno Schmidt: Nobodaddy’s Kinder
Mein Leben begann an einem vollgekrümelten Küchentisch. Nach 19 Jahren Sauberkeit beobachtete ich voller Freude und Freiheitsglück, wie mein zukünftiger Mitbewohner die Krümel einfach mit der Hand zur Seite fegte. Auf die dürftig gesäuberte, etwa DIN A4 große Fläche legte er den Mietvertrag – meinen Mietvertrag! Dann ging es los.
»Zwei Gefahren bedrohen unaufhörlich diese Welt: die Ordnung und die Unordnung.«
Paul Valéry, zitiert in: Claude Simon, der Wind
Uns überfüllts. Wir ordnens. Es zerfällt.
Wir ordnens wieder und zerfallen selbst.
Rainer Maria Rilke: Duineser Elegien
Das beschäftigt mich. Ich will aber nicht, dass es mich beschäftigt. Also muss ich mich beschäftigen.
Bitte haben Sie noch einen Augenblick Geduld. Ihr Anruf ist uns wichtig. Sie werden zum nächsten freien Mitarbeiter durchgestellt. Es befinden sich noch immer alle Berater im Dialog. Gerne können Sie es zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal versuchen. Zur Zeit sind alle Mitarbeiter im Gespräch. Bitte haben Sie noch einen Augenblick Geduld. Einen Augenblick. Ihr Augenblick ist uns wichtig. Haben Sie noch Zeit? Noch einmal einen Augenblick? Haben Sie zu einem späteren Zeitpunkt noch einmal Zeit? Sie werden es alle versuchen. Zur Zeit, zu einem späteren Zeitpunkt, zum nächsten freien Zeitpunkt. Sie sind uns wichtig. Alle Mitarbeiter haben Sie gerne. Noch immer. Ihr Anruf, ihr Augenblick Geduld, Zeit, alle Zeit ist uns wichtig. Unsere Mitarbeiter sind im Augenblick. Alle. Immer. Noch einmal: Geduld ist wichtig im Gespräch, im freien Dialog. Gerne werden Sie zur Zeit durchgestellt. Noch einen Augenblick. Bitte. Sie haben noch Zeit. Im nächsten freien Augenblick befinden sie sich im Zeitpunkt. Haben Sie noch einen Augenblick Geduld.
Geht, geht gut, geht sehr gut. Geschirrgeklapper, Kirschen, Küsse, Komisches, Kaninchen, Kaba, Kanone, Danone-Sahnejoghurt, Kurt. Aber, Kadabra, Trara, Tralala, Lala, Luna, Leon, Lego, Go, Go, Go! No, No, No! Notwendigkeit, -keiten, Reiten? Eieiei, Eiertanz, Eier – gebraten, gekocht, geschält, gespiegelt, gekentert auf dem Bodensee, Juhee? Nee, nee. Du, Ich, ähm … Sauerrahm, Rama, Radieschen, Ratatouille, rasante Rosinen. Wie geht es ihnen, so kleingeschrieben? Frieden: alle lieben! Sieben Zwerge, fünf Berge, drei Särge – keiner mehr. Zahlen bitte. Wortklaubereien, Kreide, quietschende Gänsehaut, hinter den Ohren: grün. Genau, und laut, lauter Laute, läuternd, erläuternd, er läutert Euter mit Morgenmilch, der Knilch. Seifenschaum und Pulverschnee, Sonnenbrand auf Füßen, rückenschwimmend im Wahnsinn der Dinge im Kopf.
Es ist und bleibt eine Baustelle. Es wird um-, an- oder neugebaut. Ein jeder plant, erfindet, verändert, macht und tut, bis kein Stein mehr liegt, wo er war. Der Gestaltungswille sitzt in allen Ecken. Er überstreicht, überfließt, überformt, Möbel, Häuser, Städte. Die Welt leckt sich ihre Wunden. Ach! Und Krach, überall.
»Gibt’s ein Gedicht?«
Hinter mir steht ein kugelrunder Herr. Seine Glatze glänzt in der Morgensonne, er grinst mich an.
»Gibt’s ein Gedicht, gibt’s ein Gedicht?«
Äh, naja … so ähnlich vielleicht?
»Alles Gute!«
Noch immer grinsend setzt der Herr beschwingt seinen Weg entlang der Limmat fort. Erst als er aus meinem Blickfeld entschwindet, bemerke ich, dass er mir meinen Gedanken geklaut hat. Ein nicht mehr zu begreifender Satzanfang steht mitten auf der Seite und weiß nicht mehr, was er sagen wollte.
Das morgendliche Flussufer erscheint mir plötzlich ganz klar, als hätte der Herr meine Brille geputzt. Ein neonroter Kindergarten rennt mich halb um, Schulklassen am letzten Schultag vor den großen Ferien, Jogger im Minutentakt, Rentnerinnen auf Bänken und Stufen, Z’nüni bei den Bauarbeitern gegenüber, glitzerndes Geplätscher, Zigarettenrauch, ein Hauch Sonnencreme.
Es ist Sommer, endlich Sommer, endlich auch im Notizbuch, im Kleiderschrank, auf meiner Haut.
Strom
Internet
Spülmaschine
Farbe, Walze, Pinsel,
Töpfe, Tassen, Gläser
Stühle
Schreibtischplatte, Böcke
Duschvorhang
Staubsauger
Besen, Kehrwisch, Wischmopp, Eimer
Spülmittel, Spülschwämme
Geschirrtücher
Tischdecke?
Bettwäsche
Lampen
Spiegel
Badezimmerteppich
Schuhschrank
Pfeffermühle
Schleifstein
Pfanne, Pfannenwender
Woher kommen bloß all die Klassenfahrten und Gruppenreisen in meinen Träumen?
Seit geraumer Zeit gibt es diese unstillbare Sehnsucht nach einer Sendepause. Nach einer Pause für das Internet – übrigens das einzige Ding, das noch genutzt wird. Nein, kein Radio mehr, kein Fernsehen. Bücher ja, aber Musik stört zumeist und Filme beschäftigen so sehr und so lange, dass man seine Träume nicht mehr sieht. Nach und nach haben also immer mehr Leute damit aufgehört, in die Röhre zu schauen. Etwas ratlos sind sie nun, die Leute, denn sie wissen nicht mehr, wonach sie ihre Polstergarnitur ausrichten sollen. Das ist gar nicht so einfach, seit es den Fernseher, dieses Lagerfeuer, nicht mehr gibt.
Manchmal denkt jemand an die Anekdoten der Väter, vor allem an die, die so oft erzählt wurden, dass die eigene Vorstellung davon fast mit der eigenen Erinnerung verwechselt wird. Sie waren klein, die Väter und auch deren Brüder, die noch kleiner waren. Zusammen saßen sie da, nebeneinander, beide mit erwartungsfrohem Blick auf dem Fernsehgerät. Sie starrten gebannt auf das Testbild, obwohl sie wussten, dass das Programm davon auch nicht schneller beginnt. Später, als das Programm eigentlich schon begonnen hat, lehnen sich die Väter der Väter aus dem Fenster und fischen, die Antenne in der Hand, nach dem Empfang. Nichts. Kein Ton, kein Bild – Rauschen.
Dann war plötzlich auch das Rauschen weg. Bild- und Sprachlosigkeit. Stille. Nichts war mehr zu hören oder zu sehen. Sendepause aller Instanzen. Selbst die Väter schwiegen und ihre Anekdoten verblassten. Nur noch wenige erinnern sich an das Rauschen. Kaum jemand weiß noch, wie das Testbild damals aussah. Dabei hatten sie so lange und so oft davor gesessen und gewartet, dass es anfing und losging und blitzte und donnerte und störte und beschäftigte und von den Träumen ablenkte und die Bücher vertonte und verfilmte.
Seit geraumer Zeit gibt es nun diese unstillbare Sehnsucht nach dem Testbild von damals. Alle sprechen davon, alle wollen es sehen. Wenn das Testbild da ist, dann geht es bald los. Doch bevor der Vorhang sich hebt, ist Sendepause.
Jede Sammlung kann als gescheitertes Projekt gesehen werden. Je größer die Sammlung, desto größer die Lücken.
Die Planung ist nicht dazu da, eingehalten zu werden, sondern dazu, zu wissen, wovon man abweicht.
»Klepp schlägt zeitweise Stunden mit dem Entwerfen von Stundenplänen tot… Nur wahre Faulpelze können arbeitssparende Erfindungen machen.«
»Es ist aber das Verhältnis der Erwachsenen zu ihren Uhren höchst sonderbar und kindisch in jenem Sinne, in welchem ich nie ein Kind gewesen bin. Dabei ist die Uhr vielleicht die großartigste Leistung der Erwachsenen. Aber wie es nun einmal ist: im selben Maß, wie die Erwachsenen Schöpfer sein können und bei Fleiß, Ehrgeiz und einigem Glück auch sind, werden sie gleich nach der Schöpfung Geschöpfe ihrer eigenen epochemachenden Erfindungen. Dabei ist die Uhr nach wie vor nichts ohne den Erwachsenen. Er zieht sie auf, er stellt sie vor oder zurück, er bringt sie zum Uhrmacher, damit der sie kontrolliere, reinige und notfalls repariere. Ähnlich wie beim Kuckucksruf, der zu früh ermüdet, beim umgestürzten Salzfäßchen, beim Spinnen am Morgen, schwarzen Katzen von links, beim Ölbild des Onkels, das von der Wand fällt, weil sich der Haken im Putz lockerte, ähnlich wie beim Spiegel sehen die Erwachsenen hinter und in der Uhr mehr, als eine Uhr darzustellen vermag.«
»Angenehm langweilig und unbeschwert albern.«
»Durch eine infame Architektur um einen lohnenden Ausblick gebracht, schaute ich mir nur noch den Himmel an und fand schließlich darin Genüge. Immer neue Wolken wanderten von Nordwest nach Südost, als hätte jene Richtung den Wolken etwas Besonderes zu bieten gehabt.«
Günter Grass: Die Blechtrommel
An irgendeinem Punkt vor ein paar Jahren haben die Dinge aufgehört normal zu sein. Nichts war mehr, was es davor gewesen ist, alles musste ich neu lernen und die Falten auf meiner Stirn wollten nicht mehr verschwinden. Was war der Musik passiert? Was machte das Essen so schwierig? Was hat den Grauschleier auf alle Kleider gelegt? Was hat die Uhren beschleunigt? Was hat mich so weit weg getrieben von allen und mir? Was ist hier los?
»Fernsehen, davon war die Rede, Fernsehen als Instrument der Bewusstseinsindustrie und überhaupt Kunst im technischen Zeitalter, insbesondere Fernsehen, dazu kann jeder etwas sagen, ausgenommen Gantenbein mit dem Mund voll Banane.«
Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein
»Das Projekt eröffnet eine andere, heterogene Parallelzeit – die Zeit einer gewollten und gesellschaftlich legitimierten Einsamkeit.«
Boris Groys: Die Einsamkeit des Projekts
Kunst interessiert keinen. Nur durch äußere Umstände, weil sich einer ein Ohr abgeschnitten hat.
Wie träge sich die letzten Seiten füllen. Ich wage kaum mehr etwas zu notieren. Ein neues Buch erst dann, wenn das hier überstanden ist. Ich schreibe um mein Leben im Jetzt und entferne mich immer weiter davon. Wie weit kann ich gehen, um noch unbeschadet zu mir zurückzufinden? Es mag Jahre dauern, Jahre der Verwirrung, nicht bei mir. Was mache ich hier? Ich stolpere durch Berge aufgeschlagener Bücher auf dem Tisch von Oswald Egger und sage: Hallo, hier bin ich, was kann ich für dich tun? Welch absurde Frage bei meiner akuten Sehnsucht nach dem Nichts. Ein Leben ohne Kalender, ohne Uhr und ohne Pflichten. Das Hier und Jetzt, ich weiche ihm aus, ignoriere die Sonne, sehe die Blumen nicht. Er sagt: »Interessant, weil man so gar nicht sieht, wo das hinführt, dieses Schreiben.«
»Das Buch mit den in uns eingegrabenen, nicht von uns selbst eingezeichneten Charakteren ist unser einziges Buch.«
Marcel Proust
»Die Vergangenheit ist immer neu. Sie verändert sich dauernd, wie das Leben fortschreitet … Die Gegenwart dirigiert die Vergangenheit wie die Mitglieder eines Orchesters.«
Italo Stevo
»Denn nicht wenigen scheint es, als käme die Gegenwart sich selbst abhanden.«
Hanno Rauterberg: Das große Leuchten
DIE ZEIT No 17
Das Gepäck ist weg, wo sind die Koffer? Ich muss zurück, doch all die Leute! Aus der U-Bahn schwappt ein Menschenstrom. Alles drückt und schiebt und drängt mich weiter, dann plötzlich bin ich draußen. Beladen mit Taschen und Koffern kämpfe ich mich durch die Straßen. Das Gepäck beisammen zu halten erfordert alle Kraft und Aufmerksamkeit. Von oben knallt die Sonne, ich schleppe mich weiter, habe es eilig, verliere ein Gepäckstück nach dem anderen, doch weiter, dringend weiter, bis ich mich verlaufen habe. Die Straßen kenne ich, die Städte wechseln, bei Nacht sind sie doch alle gleich. An einer dunklen Ecke stehen meine Koffer. Zu viele Koffer für eine Reisende allein. Als ich sie öffne, fällt mir ein, dass sie leer sind. Das waren sie die ganze Zeit.
Schon wieder geträumt, den schwer bepackten Traum. Die Städte wechseln, die Eile bleibt. Eine Traumreise in die Metropolen der Welt, wo ich nichts besseres zu tun weiß, als Terminen und Koffern nachzujagen.
Dabei reise ich doch nie mit Koffer!
Noch eine Minute. Vielen Dank, Sie hören von uns. Die unvollendeten Sätze hallen nach, unbeantwortete Fragen hängen in der Luft und die Lücken werden mehr und größer und schwarz. Das wird nix.
»… eine Allegorie dieses schillernden Umwegs, das formvollendete Pamphlet der spielerischen Sublimation.«
Ingeborg Harms: Die Zauberlehrlinge machen Party
DIE ZEIT Nr. 12/2013
Haben Sie auch nichts vergessen? Den Koffer, den Schirm, habe ich. Nur das Geld, die Plastikkarten, die Identität gingen auf dem Weg verloren.
Der Junge im Zug gegenüber hat abstehende Ohren. Ich glaube so war das manchmal, das Gefühl, es zerreißt mich, wenn ich –
… sein Knäckebrot passt hier so wenig rein wie Cake!
Also warum ich damals immer wieder und ohne nachzudenken – es war ein Stechen, ein Pfeil in meinem Körper, der mir eine Lebendigkeit im Sterben vorgaukelte. Und dann lag ich da wie tot oder zumindest todmüde in den Schlaf flüchtend, weil ich ihn da neben mir nicht sehen und von unserer gespielten ahnungslosen Nähe nichts wissen wollte. Vergessen im Schlaf. Wenn ich jetzt morgens aufwache, sticht mich kein Pfeil, nur eine warme Sucht nach Unendlichkeit. Bekommen andere auch Pfeile ab? Wie viele habe ich schon getroffen? Nur weil ich Augen habe?
Ich schlage das Buch auf und alles ist weg. Dieses Weiß, dieser Kugelschreiber aus blauem Kunststoff – falsch zwischen all dem dicken Moos. Dieses Hadern, dieser Unmut über laute Straßen – verstummt zwischen Hombroichs alten Bäumen.
»Murad, die Million ist mir wichtiger als die paar Namen. Glaub mir, es gibt nichts zu verstecken, die Daten kommen heute noch, habe ich dir doch gesagt, Murad. Ich bin unterwegs, gerade über die Grenze, mach dir keine Sorgen.«
Wir sind uns zu nah, mein Bauch krampft sich zusammen, die Musik schnulzt mich zu, das Parfüm des Nebensitzers drängt sich auf und das Lied wiederholt sich bis in alle Ewigkeit, bis ich im Altersheim sitze und mich einer mit Falten umrankten und wässrig gewordenen Augen ansieht. Dann falle ich vom schlecht gemusterten Stuhl und er, der mir zu Hilfe eilt, stolpert und fällt und wir liegen am Boden und lachen und alles tut weh.
Schaut mich an, einmal täglich, auf dass ein Schreibausbruch den Alltag lahmlegt und die Welt zum Glühen bringt, rettet mich aus dieser Verkopftheit und verwandelt den Zug in eine funkensprühende Rakete.
Er steigt aus? Er steht. Er sucht und findet eine Zeitung, um sich hinter ihr zu verstecken.
Ein rundes Gefühl in den Armen.
Wie ein Plakat mit Kreis,
Eine Kuppel auf dem Dach,
Oder eine große Kugel tragend.
Wir hüpfen im Sitzen über die Wiese.
Ein kleiner, enger Nachmittag mit Sonne,
Die Arme rund, bereit zur Umarmung.
Fliehkräfte beim Aufwachen,
Im bequemsten Bett der Welt.
Ausgetretene Stufen und festgetrampelte Trampelpfade, verwohnte Wohnungen und zerlesene Bücher, abgegriffene Tische und durchgesessene Sessel. Spuren, die Geschichten erzählen von denen, die vor mir da waren. Nichts Neues. Und doch das, was uns über Generationen hinweg zusammenhält. Spuren, die mich erden.
»Die Gewissheit, dass alles geschrieben ist, macht uns zunichte oder zu Phantasmen.«
Jorge Luis Borges: Die Bibliothek von Babel
»Du schreibst jetzt?
Wie lange denn?«
Das weiß ich nicht
Das weiß ich nie
Nur ein wenig Wahnsinn
Und etwas mehr
Als deine Hände
auf der Stufe vor mir liegen
Sie könnten zupacken
Meine Knöchel umfassen
Bis ich rückwärts falle
Du lachst
Ich habe Angst
»Darf ich reinkommen?«
Nein
»Aber –
Warum nicht?«
Lass mich bitte
Vielleicht finde ich mich
Im Spiegel wieder
Doch da ist nur Haut
Sie brennt
Und zerfällt
Alles hier in dieser Wohnung
Wenn wir tagelang nur uns sehen
Uns nicht mehr sehen
Weder uns gegenseitig
Noch uns selbst
Ich starre auf meinen Teller
Die Ordnung der Reste zu entschlüsseln
Intellektueller Tourismus
Nichts weiß ich
»Du bist süß.«
2503011221 11:52
Jede Klorolle hat ihre Nummer, ihre Zeit
Die Sinfonie der Lüftung
Unaufhörlich
Und wenn sie aufhört zu singen
Beginnt der Kühlschrank
»Ich glaube Stille
würden wir nicht ertragen.«
Oh doch
»Totale Stille, also gar nichts?
Kein Wind?
Kein Vogel?
Kein Radio?«
Kalte nackte Fliesen
Meine Zehen frieren
Ich zerfalle
Habe mich verirrt
In diesen vier Wänden
Es ist sauber
Und kalt
Arbonia
»Dein Mund steht offen.«
Luft
»Deine Lippen sind vertrocknet.«
Zu viel Luft
»Lüftung?«
Heizung
»Haut?«
Ruhe jetzt
Mit dem Kopf zwischen zwei Leben. Noch am einen Ort und doch schon nicht mehr da. Hier wie dort fehlt die andere Hälfte der Zeit, Planung und Gepäck geraten durcheinander, in der Hektik geht die Konzentration flöten.
Zuhause bin ich nunmehr im Dazwischen, zwischen Abfahrt und Ankunft, während hier und dort ihren Standort wechseln und mein Wohnzimmer seine Tapete – Heute: Schneemotive.
»Sie hat (so könnte ich mir denken) in einer verzweifelten Laune etwas beschlossen, die Laune ist weg, die Verzweiflung nicht, der Entschluss muss vollstreckt werden zwecks Selbstachtung; sie trinkt –«
»Ich probiere Geschichten an wie Kleider.«
»Alles unverändert: nur ist es nicht gestern, sondern heute. Warum ist es immer heute?«
»Er wollte ins Museum gehen. Um nicht in der Welt zu sein. Allein und jenseits der Zeit wollte er sein.«
»Ob sie noch schlief?
Sie hatten einander versprochen, keine Briefe zu schreiben, nie, sie wollten keine Zukunft, es war ihr Schwur:
Keine Wiederholung –
Keine Geschichte –
Sie wollten, was nur einmal möglich ist: das Jetzt …«
»Noch gab es für sie keine Wiederholung auch nur der Tageszeit. Kein gestern, kein heute, keine Vergangenheit, keine Überwindung durch die Zeit: Alles ist jetzt.«
»Er wusste nicht was machen gegen die Zukunft, die mit dem Erinnern schon begann.«
»Die Zeit, die uns immerfort überholt, Vergangenes in jeder Bagatelle.«
Max Frisch: Mein Name sei Gantenbein
Wie kann sich so ein junger Mensch mit so viel Vergangenheit beschäftigen?
Punkt. Nein, ein Ausrufezeichen! Zwei!! Drei!!!
Nun stehen sie da und hallen nach, als hätten sie zu laut gelacht. Sowohl von lautem Gelächter als auch von Ausrufezeichen will man wissen, was davor kam. Und, was war? – Unangemessen überschwänglich und viel zu euphorisch. Der Punkt ist entlarvt. Er vollführt hier seine Akrobatik mit dem Strich, ohne zu beachten, was er da unterstreicht. Aussagen waren gestern. Der alles ironisierende Zeitgenosse bevorzugt den Punkt.
Ein verspiegeltes schwarzes Rechteck auf dem Tisch. Der Blick darauf geht nach unten und sieht die Decke mit Beamer, Kabelkanal, Leuchtstoffröhren, Steckdose, Haken. Oder Himmel.
Durch Tombola zum Trampolin, es trampeln die Ampeln, wenn die Pendel enden, denn wer kann die Kenner nennen, oder öfter was öffnen, öffentlich, Flöter und Kläffer im Kloster, dem Globus ein Obolus, lustig im durstigen Dunst, sonst, ansonsten die Sonne, nicht ohne, oder Tiroler, ein rollender oller Teller im Text.
Heute weigere ich mich erstmals in diesem Studium ausdrücklich, eine Hausaufgabe zu erfüllen. Doch es raubt mir den Schlaf, also knipse ich den Tag wieder an und lasse den Stift erklären, dass Hausieren nicht mein Medium ist – Kunst hin, Workshop her.
Ein Medium vorgegeben zu bekommen widerstrebt mir zutiefst, vor allem wenn der Inhalt dem Medium wegen erst noch erfunden werden muss. Ausgebildet für Inhalt und Form habe ich mir über die Jahre eingebildet, dass Inhalt am besten aus sich selbst heraus entsteht, und erst dann das Haus verlässt, wenn er weiß wie und warum. Solange bleibt er drinnen.
Nach vier Monaten Dauerbeschallung von außen, ist es drinnen still geworden. Nun kann klopfen wer mag, ich habe nichts zu sagen, will nicht gestört werden, geschweige denn andere stören und bleibe zu Hause, wo ein dickes, graues, schlechtes Gewissen vor der Tür steht und nervt.
In den Kopf geht alles rein, verquirlt sich und was rauskommt ist ein spannendes Durcheinander. Nur wenn man zieht, entsteht ein Knoten. Dann kommt gar nichts mehr. Jeder Satz ist rausgepresst und was da steht, hat so wenig mit mir zu tun wie die Finanzwelt, die Raumfahrt, Comedy, Hiphop, Erdnussflips, Computerspiele, Zigaretten, Schusswaffen, Autolärm, Skifahren, Paprika und Zürich.
Wenn man sich abends Gute Nacht sagt und morgens nach dem Schlaf erkundigt, ist es, als hätte jeder dazwischen eine lange Reise unternommen. Keiner versteht so recht, was passiert, wenn er sich in seine Traumwelt verabschiedet.
Das Archiv ist mächtig, aber nicht so neutral, wie es gerne wäre. Das Archiv weiß mehr als die Geschichtsbücher und stößt doch an die Grenzen des Sagbaren. Das Archiv lebt auf, wenn es zum Produktionsort einer Erzählung wird, doch lebendig ist es nur im Entstehen.
Im Zug lausche ich drei junge Frauen, sie besprechen die Liebe ihrer Eltern. Der Vibrator als Weihnachtsgeschenk für die Mutter war zu teuer, also doch eine Flasche Champagner. Der Vater der anderen hat auf einer Geschäftsreise eine Frau abgeschleppt, die Mutter daraufhin einen tollen Freund gefunden. Sie selbst wohnt mit ihrem Exfreund zusammen und … ach bei den Themen kann die dritte nicht mitreden. Seit sechs Jahren ist sie in einer geheimen Beziehung, das ganze Dorf weiß Bescheid, nur die Eltern dürfen davon nichts erfahren. Liebe gibt es nur zwischen Mutter und Tochter in der Familie – alles andere geht vorbei. Tattoos bleiben: Das elbische Zeichen für Seele oder doch lieber eine weibliche Schnake auf dem Rücken? In der Küche stapelt sich das Geschirr, bis es schimmelt – er spült. Der Mitbewohner kifft von morgens bis abends. Dann doch lieber mit dem Exfreund wohnen.
Mit dem Kopf in der Zukunft, während sich die Gegenwart der Schweizer Landschaft vor dem Zugfenster ausbreitet. Der Himmel ist schön, Dezemberhimmel. Driving home for Christmas.
Mein Ich ist wandelbar, wie jedes Ich
Allein wenn ich die Augen schließe
Bin ich wer anders und kann jede sein
Heute früh sogar ein Mann
Wann genau der Traum begann
Macht keiner fest
Denn Träume geben sich die Klinken
Einfach so von Hand zu Hand
Ohne Begrüßung, ohne Abschied
Kämpft sich das Traumschiff auf und ab
Und durch die Wogen
Über Wellenberge durch Wellentäler
Alles gleichzeitig und manchmal nichts
Und viel, so viel, dass beim Aufwachen
Brei daraus geworden ist
Wie ich wünscht’ ich könnte reimen
Dann entsteht am Ende Sinn
Doch so bleibt nur das Beschreiben
Von Frauen und Männern
Die ich selber bin
––
Meine Oma wirkt nervös und fahrig
Enkel nur Montags und Dienstags
Das ist nicht genug
Ich schlafe ein und werde nicht wach
Als der Dozent fragt wo denn alle sind
Die Oma rennt im Kreis
Bis sie umkippt, in meine Arme
Ein Sessel, ein Glas Wasser
Wir sind im Haus meiner Eltern
Sie erwacht mit einem Lächeln
Hat vergessen wer sie ist
Ich erkenne hier nichts wieder
Doch sie erkennt nicht mal mehr mich
Sie tanzt zur Tür, zum Garten
Wo Dunkelheit sie zu verschlucken droht
Im Wahn des Moments will sie weiter
Ich halte sie fest
Verzweifelt gehe ich zum Telefon
Ein Arzt, ein Notfall
Die Verbindung zerhackt die Wörter
Hallo, hören Sie mich?
Vater und Schwester eilen vorbei
Keine Zeit für Omas Allüren
Sie kommen und gehen
Und lassen mich stehen
Dann kommen sie wieder
Und versprechen zu helfen
––
Höchste Zeit, ich bin in den Bergen
Mit meinem besten Freund
Den ich zuvor noch nie gesehen
Er ist verrückt, wie meine Oma
Gefangen im Moment, ohne alle Sorgen
Vor dem Wandern gehen wir baden
Meer, Felsen und Freizeit
Buntes Gelächter vom Ufer gegenüber
Bis sich der Himmel verdunkelt
Der Sittenstrolch hat zugeschlagen
Alle Hotels verbarrikadiert
Wir warten im Schlafsaal
Auf dass die Zeit vergeht
Auch ich bin nun ein Mann
Haare sprießen auf uns allen
Die einen haben Sex
Die anderen dösen im Dämmerlicht
Vorhänge verdecken die Fenster
Doch die Angst kriecht durch die Tür
Sie knarzt und durch den Spalt
Schlüpfen zwei Gespenster
Schwarzweiß bemalte Gesichter
Freundin des einen, Freund der anderen
Beide mit Sense und lachendem Hohn
Der Sex greift um sich, die Frau trägt Bart
Eine Haarsträhne am Ellbogen
Was soll das alles und wie geht es Oma
Der Wecker klingelt ein fünftes Mal
Was kann der Tag schon dazu sagen
Nichts weiß er, denn ich bin viele
Von Außen nach Innen
Das Außen stülpt sich über Alles
Vom Vorhang ins Licht
Der Vorhang bildet den Hintergrund
Vom Rahmen zur Form
Der Rahmen erdrückt den Inhalt
Welcher Inhalt eigentlich?
Die Wahrnehmung des Ich im Gehäuse:
Haut, Körper Kleidung, Raum, Haus.
Eine Parabel für das Existieren überhaupt.
Wo immer sie mit ihrem Mann ist, ist sie zu Hause.
Er ist ihr Gehäuse und sie seines.
Ich bin gefangen in Worten, die ich nicht mehr verstehe oder unbedarft einfach so verwende, seit ich gehört und gelesen habe, dass hinter jedem Wort eine neue Welt aufgeht.
Sie verrät viel, aber sie gibt nichts preis. Heute sucht sie Menschen, die sich mit sich und der Stille abgefunden haben. Sie wohnt zur Untermiete bei einer 92-Jährigen und besucht regelmäßig eine Nonne, die ihr Inspiration gibt. Sie verweigert sich der Moderne. Sie schreibt, dichtet, zeichnet, erschafft Mikrokosmen des Eigenen, Unangreifbaren. Jeden Tag.
Martin Eich über die Schauspielerin Valery Tscheplanowa
DIE ZEIT Nr. 48/2012
»Die Kehrseite der Individualisierung ist die transzendentale Obdachlosigkeit, die Einsamkeit des Ichs, das in keiner Ordnung mehr aufgehoben ist.«
Ijoma Mangold: Wir Stadtkinder
DIE ZEIT Nr. 47/2012
Wir ertragen nicht, wie sie spricht. Ohne einen Punkt zu finden hangelt sie sich von einem verschachtelten Halbsatz zum nächsten. Ihre fragmentierten Phrasen untermalt sie theatralisch mit einer unangemessenen Berührtheit. Ihre langen, dünnen Finger räkeln sich verkrampft und in unendlicher Langsamkeit vor ihrem Körper. Wir halten still und sehen zu Boden oder zur Decke. Nachdrücklich sucht sie nach etwas Greifbarem – und findet Schubladen. Die Zeit hält den Atem an. Ihre Stimme kippt ins Hysterische und trotzdem will keiner hinhören. Ihre und unsere einzige Rettung wäre es, sie zu unterbrechen, doch keine weiß was zu sagen bleibt in diesem luftleeren Raum. »Emotionen um ihrer selbst willen – der Inhalt war wie weg.« Konjunktur der Gefühle, ein vielstimmiger Monolog, ein Wortschwall, dem wir Woche um Woche ausgeliefert sind. Wir sitzen fest in unserer Rolle der Zuhörer. Je mehr sie sagt, desto leerer werden wir.
Hinter mir steht ein Koffer. Plötzlich knallt es – nur die Heizung. Der Koffer hinter meinem Rücken macht mich trotzdem nervös. Diese eingepflanzten Bilder. Kofferbombe, Teddybär, Hitler.
Achtung; U2 nach Botnang fährt ein und mit ihr die Leere, gelb, und sie spricht ausländisch. Ich spreche bald gar nicht mehr und fühle auch nichts, die Hände sind taub, die Augen sehen doppelt. Schwarze Balken, Grauwert, ich bin grau und bleich und müde. Ich brauche Urlaub bis zum Ende meines Lebens. Ihr habt frei und ich verliere mein Weltvertrauen und schreibe dagegen an, bis der Sekundenzeiger oben ist. Früher fuhr die U2 noch nach Hause. Wo das sein soll und ob es das überhaupt je geben wird, weiß ich nicht mehr. Ich schreibe mich müde und schlafe mich gesund. Gesund von leuchtenden Rechtecken der Verinselung, auf denen wir nach Oasen suchen. Schuhe mit Ns drauf, Rucksack mit Kreis, Haare mit Farbe, Sitze mit Quadraten, blau mit gelb, karriert gegen Flecken, schreiben gegen Unwirklichkeit, Beton mit Plastik, Mann ohne Frau, Hut mit Schleife, Tunnel ohne Licht, Hand mit Exzem, Nacht ohne Bedeutung, Liebe ohne Eifersucht, Tage ohne Zeit, Zeit ohne dich, du ohne M, Blume im Haar, Grinsen im Gesicht, Knopf im Ohr, Grummeln im Bauch, Lärm im Kopf*, Brille im Gesicht, Schluss für Heute.
[20:54:30] T: ist das das ende?
[20:55:07] C: Das Ende:
[20:55:13] C: “Schluss für Heute”
[20:55:22] C: aber das könnte auch der Titel sein
[20:55:45] T: in allen berreichen haben wir zunehmend das ding ohne sein wesen.
[20:55:52] T: wir haben bier ohne alkohol
[20:56:00] T: fleisch ohne fett
[20:56:10] T: kaffee ohne koffein
[20:56:15] C: Darf ich dir ein bierreichen
[20:56:27] T: und sogar virtuellen sex ohne sex
[20:56:42] T: erst wenn du mir das wasser reichen kannst
[20:56:56] T: jeseits von kunst und böse
[20:56:58] C: oder echten sex ohne alles, ohne blümchen, ohne lust und ohne sinn
[20:57:18] C: und ohne brillen, weil davon haben wir zu viele
[20:57:23] C: wir sehen alle nichts mehr
[20:57:27] C: außer die rechtecke
[20:57:45] C: beleuchtete Unwirklichkeit
[20:57:51] C: im Querformat
[20:57:58] C: im Kleinformat auch zum drehen
[20:58:18] T: schön
[20:59:08] T: und im garten blüht die illusion
[21:02:02] T: aber wir leben doch die rechtecke
[21:02:05] T: oder?
[21:02:16] T: also wir sehen nicht mal mehr die?
[21:02:22] T: nur die zum drehen
»Erstmals war ich es, war es meine Person, um die es ging an dem Stillen Ort.«
Peter Handtke: Versuch über den Stillen Ort
»Mehr als alles andere ist es die kreative Wahrnehmung, die dem einzelnen das Gefühl gibt, dass das Leben lebenswert ist. Im Gegensatz dazu steht eine Form der Beziehung der äußeren Realität, die sich als Angepasstheit bezeichnen lässt, die Welt (und ihre einzelnen Teile) wird dann nur als etwas wahrgenommen, dessen man sich bedienen kann oder das Anpassung erfordert. Diese Anpassung bringt für den einzelnen ein Gefühl der Nutzlosigkeit mich sich und ist mit der Vorstellung verbunden, dass alles sinnlos und das Leben nicht lebenswert ist. Viele der betroffenen Menschen haben gerade soviel an kreativer Lebensweise erfahren, dass sie zu der quälenden Erkenntnis kommen, die meiste Zeit unschöpferisch zu sein, im Bann der Kreativität eines anderen oder einer Maschine.«
D. W. Winnicott: Vom Spiel zu zur Kreativität
Ein Silbertablett nach dem anderen wird an meiner Nase vorbei getragen, ich muss nur zugreifen: Wissenshäppchen, nach denen ich nie gefragt habe. Für mein Päckchen undiskutierter Fragezeichen ist hier kein Platz, auch nicht nach Feierabend, denn die Häppchen wollen verdaut werden und die nächste Ladung steht bereit für wissenshungrige Studentinnen – die eigentlich schon satt sind.
Das große Gejammer um Bachelor, Master, ECTS und Bologna kann ich erst jetzt nachvollziehen, nach zweieinhalb Jahren Freiheit. Bücher gelesen, Texte geschrieben, nachgedacht und Fragen gestellt habe ich erst, als mich keiner mehr danach gefragt hat. Die Anerkennung für meinen Fleiß hat mir dann gefehlt und der Austausch mit anderen Beobachtern, Grüblern und Lesern. Darum bin ich hier.
Jetzt bleibt keine Zeit mehr, meinem Blick dorthin nachzugehen, wo er hängen bleibt. Auch nicht für eigne Wege, wegen der Themenschubladen, Journalismusrezepte und Bewertungskriterien, die in zwei Semester passen müssen. »Vielleicht bist du zu alt fürs Studieren«, vermutet Antonia und Jakob meint: »Wenn du einmal Freiheit geschnuppert hast, bist du verdorben für so eine Mühle.«
Du verstopfst alle meine Wahrnehmungsleitungen.
Wer ist -3∞k‰lter-? Ein Text ohne Name, Datum und Erinnerung. Von wem? Von mir? An wen? An mich? Solange sich kein Urheber meldet, nehme ich an, er war von mir. Schade nur, dass so das letzte Wort sein Geheimnis für sich behält.
#.txt
Zuf‰llig naht man sich, man f¸hlt, man bleibt.
Und nach und nach wird man verflochten.
-Goethe-
Du warst ein Teil von mir.
In jeder Form. Im Lachen, im Weinen, im Gehen, im Schlafen, im K¸ssen …
Du umgibst mich ohne da zu sein.
Und manchmal sehe ich dich. Aber ich kann dich nicht hˆren.
Manchmal hˆre ich dich, ohne zu sehen.
Du bist gegangen, und mit dir alles, was eine Erkl‰rung h‰tte sein kˆnnen.
Vielleicht kennt Liebe keine Zeit.
Was ist wichtiger: Zu lieben oder geliebt zu werden?
Auch wenn ich w¸sste wie es ausgeht, w¸rde ich manchmal gern alles auf Anfang zur¸cksetzen, um nochmal
GENAU zu sehen,
GENAU zu hˆren,
GENAU zu f¸hlen …
-3∞k‰lter-
Heißt die wirklich Broccoli mit Nachnamen?
Bin ich neidisch auf seine wiederentdeckte Freiheit? Ich lauere ihm auf, ich beobachte wie er sich durch die Wohnung bewegt, ich lausche, wann er nach Hause kommt und wann nicht, wie gestern Abend. Spontan mit ihm durchbrennen in die Berge. Ich schleiche um ihn herum, bin vorsichtig und ruhig und brav, allemal eingerostet. Gleich am ersten Abend hier habe ich mich verguckt, ein kleines bisschen, er sich vielleicht auch. Ist doch nett, so ein bisschen Spannung in der Wohnung. Ich atme, sehe Schmutz unter meinen Fingernägeln, liege im hübschen Kleid auf dem Bett, unterdrücke den Lebensdurst und studiere.
Heute habe ich zum ersten Mal verschlafen. Dann habe ich zum ersten Mal geschwänzt, weil zu spät kommen ist schlimm in der Schweiz. Dann habe ich zum ersten Mal mein Zimmer umgestellt, jetzt steht der Schreibtisch im Licht und macht mir vielleicht nicht mehr so viel Angst, wie in der dunklen Ecke, wo jetzt das Bett steht. Möbel-Tetris auf dreizehn Quadratmetern.
Das tolle an neuen Städten: Man kann die gewöhnlichsten Dinge zum ersten Mal tun. Und es gibt noch hunderte von Dingen, die hier gerne zum ersten Mal getan werden wollen.
Den Tag habe ich heute jedenfalls wunderbar vertrödelt und den Stapel ungelesener Texte und den noch nicht vorhandenen Stapel geschriebener Texte erfolgreich ignoriert. Ganz nebenbei ist mir jetzt immerhin ein Text passiert.
Fällt mir vielleicht auch mal was mit Hand und Fuß ein?
Vor dem Schreiben war das Malen. Mir und allen war klar: Ich werde Künstlerin! Mit dem Lesen und Schreiben begann ein Tauziehen zwischen Pinsel und Füller. Ich werde Schriftstellerin! Oder Journalistin! Aber was ist dann mit dem Visuellen? Also Kommunikationsdesign. Farbe und Pinsel waren mein Ventil, bis das herbeigesehnte Designstudium so viele Regeln in meinem Kopf platzierte, dass heute kein unbegründeter Strich mehr möglich ist. Was, wenn bald auch kein Text, kein Satz, kein Wort mehr richtig scheint? Hat jedes Studium den Verlust seiner Ausdrucksmittel zur Folge? Tötet Theorie die Praxis? Dabei dient mir doch das Schreiben als produktives Beruhigungsmittel, wenn Angst, Wut und Leere mich unter sich begraben. Ich schreibe gegen sie an, ich fange sie ein und banne sie in abstrakte Texte, um sie von mir und mich von ihnen zu lösen. Anonyme Blicke zwischen die Zeilen dieser Texte verändern und prägen mein Schreiben im Netz.
Wenn es ernst wird, wissenschaftlich oder so, ist keine eurer Schwammigkeiten vor mir sicher, ob visuell oder sprachlich: ich will erklären, veranschaulichen, präzisieren, verdichten, aufräumen. Ich liebe es zu redigieren, zu korrigieren und zu verbessern, in freiwilliger Freiheit auch nachts. Nur wenn einer sagt, das muss so und soll anders und die Zeit läuft aus, dann entstehen abgehackte Sätze einer roboterhaften Dienstleisterin. Da behält das letzte Wort der Diplomingenieur, der sach- und fachkundig an seinen bestehenden technisch-konstruktiven Wortkonstrukten hängt. Die ganze Welt schreibt sich ihren unvermittelbaren Fachwortschatz auf die Visitenkarte, die kein Kindergartenmädchen versteht. So nicht! Ich werde Kommunikationsdesignerin mit der Vertiefung publizieren und vermitteln!
Der Bleistift kratz über das Papier, er wird lauter, immer lauter. Ich kann wegsehen von dem Wahnsinn, der über die Seite jagt, sie füllt und verdunkelt. Nur weghören kann ich nicht: das Ohr hat kein Lid. Plötzlich habe ich dieses Lied im Ohr – das Kratzen wird leiser, auch das Gelächter und das Geschwätz. Ich öffne die Augen und sehe Weiß, Weiß soweit das Auge reicht. Die Welt um mich herum ist ausradiert. Der Radiergummi in meiner Hand zeugt davon, wer all die Produktivität zunichte gemacht hat. Der Druck war zu groß, die Konzentration hat sich in der Stille des bleigrauen Nebels verflüchtigt. Am Anfang war der Bleistift, bis die Mine abbrach und nur ein unbrauchbares Stück Holz zurückblieb. Hätte ich ein Messer, könnte ich spitzenmäßig schnitzen. Und dann ein Klecks Rot in all dem Weiß.
Ich bin so alleine hier. Mein Rock ist zu kurz. Alle starren mich an, weil ich nicht weiß wohin mit meinen Händen, wohin mit mir. Zeit übrig in einer fremden Stadt, die meine werden soll. War das immer so? In jeder neuen Stadt? Was neu ist: die sich immer klarer abzeichnende Aversion gegen Autos, Menschenansammlungen, Lärm, Kneipenviertel, enge, dunkle, überteuerte Wohnungen, die Wichtigkeit eines jeden, der durch die Straßen eilt. Ich spiele mit. Ich spiele mit dem Gedanken all das hinter mir zu lassen. All die Show, all das Streben, alles nur für diesen Moment des: Guck mal, hab ich gemacht! Meine Ruhe will ich haben, den Himmel vom Bett aus sehen und hören will ich Vögel statt Autos, Klavier statt Diskos, den tropfenden Wasserhahn statt tickender Uhren, das Rascheln von Papier statt piepsender Telefone. Ruhe. Was sind wir nur immer alle am Suchen, um am Ende die Sehnsucht nach dem Nichts zu finden. Leer – mein Blick, mein Kopf, mein Bauch. Wer zeigt mir diese Stadt? Wer macht, dass ich sie mögen lerne? Wer sagt mir wo meine Heimat ist? Wer weiß? Kein anderer kann sehen, wie schön diese Kratzer sind, nur du vielleicht. Du siehst so manches und manchmal sehen wir uns an. Müssen wir uns schon bemühen zu sehen, was wir haben? Kommst du mit, kommst du nach? Jetzt weine ich. Weil meine Heimat – das bist du. Du und die kleinen stillen Momente und der Himmel und das Grün des Sommers und der weiche Nebel des Winters und das Wasser und die Luft – die auf jeden Fall nicht so stinkt wie diese und jede Stadt.
www
welt weites warten
Paul Müller
»Unsere Herzschläge gehören nicht nur unserem Körper. Wir betten sie in die Weite der Tage, und sie sind stets leise gerade an den Orten zu vernehmen, die wir zurücklassen müssen. Schreiben hat häufig mit den Orten zu schaffen, die man zurücklässt. Und mit dem Horchen nach dem eigenen Herzschlag.«
Hermann Hesse
Die Kirchenglocke schlägt im Takt und lacht über meine Kalkulationen und Rechtfertigungen, sie diktiert uns:
Geld. Geld. Geld. Geld. Geld. Geld. Geld.
»Texte werden immer wieder korrigiert, variiert, weiterverzweigt, Graphiken mehrschichtig überarbeitet, Bilder und Skulpturen dem Verfall preisgegeben, Zeichnungen in Sekundenschnelle auf einen Papierbogen und dann auf den nächsten geworfen. Über schonungslose Tagebucheintragungen, Filme, Polaroids und Abfallsammlungen werden, zuletzt immer engmaschiger, flüchtige Lebensmomente derart unübersichtlich festgehalten, dass man am Ende nichts mehr sieht und nichts mehr weiß.«
»Wörter sind zum Weinen, Bilder zum träumerischen Sich gehen lassen.«
Dieter Roth: Die Haut der Welt
Chicago, Detroit, St. Louis, Bennett Springs, Plattsburg, Boulder, Santa Fe, Page, Zion, Las Vegas, Los Angeles.
4096 of 5940 Photos in 6 weeks.
May / June / July 2012
Im ständigen Abgleich mit dem Ich von Heute und Gestern und allen anderen. Mindestens täglich denke ich über mein Geschlecht nach und über mein Alter. Zeit im Zeitgeist. Wie alt ich mich fühle. Welche Rolle ich spiele. Als Frau. Mein Frausein so zu durchdenken macht den stets unkomplizierten Umgang mit Männern befremdlich, die Unterschiede überhaupt zu benennen ist dir fremd. Ich suche und frage und schaue zu, bin schläfrig und desinteressiert und desillusioniert. Ich bleibe stehen, während die Zeit an mir vorbeirast. Die Zeit steht still und ich bin eine alte Lady, müde und voller Geschichten. Meine Augen sind satt und noch habe ich nichts verstanden. In mir sitzt ein Kind – neugierig, ungeduldig, hochnäsig, besserwisserisch, überzeugt, jähzornig, pubertierend. Und eine müde Frau – erschöpft, ausgebrannt und leer. Und eine fürsorgliche Mutter. Und eine Großmutter – ruhig, gelassen und mit der Welt im Reinen, der alten zumindest, denn all das Neue geht zu schnell. Ich bin langsam und bremse euch aus. Verzeiht, dass ich euch eure Jugend stehle, weil mich das alles nicht mehr berührt. Ich sehe nicht hin und habe doch alles schon mal gesehen.
Mein Gesicht ist älter geworden. Aus dem Spiegel blickt mich eine sachliche, freundliche, fast selbstbewusste junge Frau an. Ich mag sie und möchte das Bild mitnehmen, doch ich kann es mir nicht merken. Die Blicke von Fremden prallen auf die Aura meiner inneren Leere und ich vergesse, was sie sehen. Ich wäre lieber unsichtbar, nicht durchsichtig und verblasst wie eine verkleinerte, unscharf verwischte schwarz-weiß-Kopie meiner selbst. Habe ich zu oft in den Spiegel geschaut? Oder waren es doch zu viele Fotografien, die mich – nein, meine Hülle festhalten und in Pixel und Punkt bannen wollten?
Jemanden eingehend und allumfassend über Tage und Wochen zu beobachten, ruft nichts weiter hervor, als eine dicke Unterstreichung des ersten Eindrucks. Als ich ihn besser kennenlernte, war mir nicht mehr klar, warum ich ihn anfangs als unsicher und phrasenhaft empfunden hatte. Ich fand ihn schlichtweg langweilig und glaubte keinen Moment, dass er mehr zustande bringen würde, als Material und Ausreden anzuhäufen. Wie ein kleiner, ungeduldiger Schüler trat er von einem Bein auf das andere, drauf und dran einfach wegzurennen, um hinter der nächsten Kurve sein großes Abenteuer zu finden. Wie er nun wieder um den heißen Brei tänzelt, weckt meinen ersten Eindruck erneut. Wie er sich windet und hinter Floskeln versteckt, mit wippenden, unentschlossenen Schritten den Weg nicht weiß, aber unbedingt irgendetwas machen muss und keinen Augenblick ruhig sitzen bleibt. Er trommelt mit der Hand auf den Tisch, um seine nichtswagenden, oft aufgesagten Worte zu unterstreichen. Er übt deren Aussprache, spricht mit stolzem Akzent und bedient sich abgelauschter Redewendungen der Amerikaner. Wer bin ich, festsitzend in meinem Käfig der Sprachlosigkeit, so über ihn zu richten? Gab ich mir doch alle Mühe, ihn als den abenteuerlustigen, unterhaltsamen, zielstrebigen, sympathischen und attraktiven jungen Mann zu sehen, den er darstellt, wenn ich ihn zwischen Tür und Angel, Arbeit und Küche, Architektur und Alkohol antreffe. Und doch, nach jeder unvermeidlichen Musterung seiner Bewegungsabläufe ist er wieder da, mein abschätziger Blick. Sein Gehampel lässt mich noch ruhiger und unaufgeregter dasitzen. Ich werde mir der angenehmen Stille in mir bewusst, während der heiße Wind meine Haare zerzaust, durch die Maisfelder saust und durch die Bäume rauscht. Je aufgeregter der Wind, desto ruhiger meine Gedanken. Die Wolken ziehen über das Land, Geschirr klappert in der Küche und ich sitze auf der schattigen Veranda. Ja, ich sehne mich nach genau dieser zeitlosen Langeweile, wann immer die Welt um mich herum nervös zuckt und brummt und unbedingt irgendetwas machen muss. Das Leben ist in mir und hier, die ganz einfachen Gedanken, die alles erklären und doch nichts verstehen, aber vor allem nichts müssen.
»Auf die Frage ›wer?‹ antworten, heißt, wie Hannah Arendt nachdrücklich betont hat, die Geschichte eines Lebens erzählen.«
Paul Ricœur, Zeit und Erzählung
Bevor mich keiner fragt
Bis zum kugelrunden Bauch im Wasser, alle fünf Meter einer, die Angel im Blick, die Ausrüstung perfekt. Fischköpfe dümpeln am Ufer, wo die Jungs ihr Anglerglück versuchen. Ausbeute: drei. Auf der Ladefläche sitzend, mit wehenden Haaren den Berg hinauf zum Campingplatz inmitten von grün. Die Klimaanlage tut ihr bestes, um das mobile Provisorium auf soundsovielen Squarefoot kühl zu halten.
Vom Urlaub am Fluss ins Landleben der Morgans. Haus Nummer zwei nach dem großen Brand, innerhalb von drei Jahren vollgemüllt, von einem Fuhrpark umrundet, als wären es vergessene Spielzeugautos. Mitten im Nirgendwo aufzuwachsen, lässt einem dicken Jungen wohl keine andere Wahl, als die Tage im Keller mit Videospielen und die Wochenenden mit Angeln oder Schießen hinter sich zu bringen. Die zwei Hunde hecheln und die fünf Katzen schleichen durch ein abgedunkeltes, muffiges Chaos der Konsumkultur. Kulturvermittlung, wo keine gemeinsamen Interessen bestehen. Eine Prinzessin von einem anderen Stern sieht zu und schweigt und beißt in das frittierte, fetttriefende Allerlei. Im Kopf nur Kunst und Bücher, und Gemüse im Fahrradkorb der süddeutschen Kleinstadt. Die Natur ist gemein und Tiere sind doof. Während der Stift über das Papier gleitet, krabbelt eine Ameise im Zickzackkurs zwischen die Zeilen.
»Without books, history is silent, literature dumb, thought and speculation at a standstill. Without books, the development of civilisation would have been impossible. They are engines of change, windows on the world, and (as a poet said) ›lighthouses erected in the sea of time‹. They are companions, teachers, magicians, bankers of the treasures of the mind. Books are humanity in print.«
Barbara W. Tuchman
Nach vier spannenden Tagen in Chicago voll feinster Architektur, Blues, Sonne und Riesensee stand am Memorial Day der Mietwagen für uns bereit: ein knallroter Fiat 500. Damit durch Detroit und die USA zu tingeln wäre zwar ein amüsanter Anknüpfungspunkt an die Reise zu viert im Twingo durch Skandinavien, allerdings sind wir ja in Amerika und um den Fiat herum stehen weit und breit lauter Jeeps, also beschließen die Jungs, dass wir noch mal etwas Geld drauflegen, um nach einigem Hin und Her einen blauen Passat Richtung Detroit zu steuern. Auf dem Weg machen wir Halt an Dünenstränden und im aufgeräumten Grand Rapdis, der zweitgrößten Stadt in Michigan. Seit Dienstag Abend sind wir in the D und wohnen bei Paul. Wie schön er das Haus innen renoviert hat, lässt sich von außen noch nicht erahnen, aber bald wird es blau verkleidet.
Über den Stuttgarter Regisseur Marcello hatten wir schon im Vornherein Kontakt zu seinen Freunden, mit denen er in den Neunzigerjahren Filme über Detroit drehte. Nach und nach besuchen wir sie und erfahren immer mehr über diese kaputte Stadt mit ihren traurigen aber eigentümlich schönen Industrie- und Wohnruinen und zerfledderten Vierteln, von denen manche eine ganz besondere Energie und Motivation ausstrahlen. Wir treffen auf Nachbarn, die zusammen ihr Viertel aufräumen und Gemeinschaftsgärten anlegen, auf Urban Farming zwischen verlassenen und abgebrannten Wohnhäusern und die Natur, die sich überall in dieser riesigen Stadt breit macht. Es gibt so viel zu sehen und mit jedem Tag wird unsere Liste länger.
Auf den Spuren des Individualkonsums, dem Amerikanischen Traum schlechthin. Wir besichtigen seine Relikte vom Auto aus, danach frönen wir der Nostalgie auf der Route 66. Destruktive Fragezeichen vom Rücksitz des überdimensionierten Mietwagens.
»Irgendwas müssen wir machen!«
Wenn einem schon beim Aufwachen der Tod einfällt. Man denkt an das weiße Licht, an das Nichts und an die Leere. Das wars dann. Einfach so. Ohne dass noch jemand weiß, was war. Religion fällt einem ein, später vielleicht, der Angst wegen. Statt mit angemessen ängstlicher Miene die eigene Endlichkeit zu thematisieren, verfällt man in flapsige Ironie und vergisst es schnell wieder. Dann steht man auf und macht weiter und lebt.
Am Abend sagt einer, dass das Bewusstsein aus Energie besteht und dass Energie sich nicht einfach auflöst. Das hilft.
»Man kann einfach weggehen, dachte ich. Entweder man geht ein bisschen weg, oder man geht richtig weg, oder man bleibt.
Erst bin ich ein Stückchen weggegangen und habe gemerkt, ein Stückchen ist schon zuviel, aber noch nicht genug. Ein Stückchen ist zuviel zum Umkehren und Zurückgehen, aber man ist noch nicht richtig weggegangen.«
Birgit Vanderbeke: Ich sehe was, was Du nicht siehst
Ich habe die Ruhe wach zu sein.
Die wachen Gedanken machen mich müde.
How to survive as a painting
»Aber es herrscht eine giftige Statusangst, ein gewaltiges Sinnvakuum, ein wahnsinniges selbstreferenzielles Klima.«
Katja Kullmann, Rasende Ruinen
»Ich bin überzeugt, wenn Sie bei Ihrer Schriftstellerei Erfolg haben, werden Sie die auch aufgeben, um sich zu bestrafen.«
»Nie trifft man den anderen im gleichen Gemütszustand, der gleichen Phase, der gleichen Stimmung – niemals. Wir sitzen alle auf einer Wippe.«
»Im Zug begann ich zu schreiben, um die Siebenmeilenstiefelsprünge meines Lebens durch die Ameisenaktivität meiner Feder auszugleichen.«
Über eine solche Fülle von bezeugtem Leben müsste sich ein Biograph eigentlich freuen … sie hat alles sagen wollen, was sich irgend sagen lässt … die Fülle des Formulierten und Notierten führt in ein Dickicht in welchem sich Anaïs Nin auch verliert und versteckt.
Es gibt Situationen, da macht man viele Worte um das eine Wort nicht sagen zu müssen, das einen so zeigen könnte, wie man sich selbst nicht sehen möchte und wie man nicht gesehen werden will … Zudecken mit Material haben Analytiker das genannt.
Gegen was schreibt sie an? Welchen Schmerz sollen die vielen Worte lindern, und wovon lenken sie ab?
Linde Salber
Der Engel hat gelogen.
Zwei Jahre nachgedacht, um nun gar nichts mehr zu wissen.
180 Motivations Aufkleber, 10 Motive.
Motivation, Position, Haltung, Meinung, Vision!
»Der halb bewusste Dämmer zwischen Selbsttäuschung und Betrogen werden.«
Hartmut Böhme
Dein gleichmäßiger Atem zerteilt die Zeit in Einatmen, Ausatmen, Stille. Einatmen, Ausatmen, Stille. Ich liege wach und mag mich nicht. In der Ecke wacht ein Schatten über uns. Das Halbschlaf-Kino lüftet seinen Vorhang, der Opernsaal wird zur Requisite, die Dimensionen heben sich auf. Der Schatten wird zum Riesen und steigt mit einem Schritt auf einen Logenplatz, sein Schuh passt gerade so hinein.
Vielleicht lese ich auch einfach gerne
Und schaue mir gerne Bilder an
Und träume vor mich hin
Den lieben langen Tag
Bücher lesen ist kein Beruf
Bilder anschauen auch nicht
Aber die Öffentlichkeitsarbeit für –
Ich werde protestieren
Werde mich fluchend daran erinnern
Dass ich Kunst studieren wollte
»Es ist leichter ein Zeichen zu werden, als zu versuchen, etwas zu bezeichnen.«
Laurie Penny
»Leben kann man sein Leben nur vorwärts, verstehen nur rückwärts.«
Oma Heidi, frei nach Sören Aabye Kierkegaard
Gekocht haben wir diesmal Kartoffelsuppe und zum Nachtisch Ofenschlupfer, der im Bayrischen Wald »Scheiterhaufen« heißt. Dazu gab es echte Vanillesoße und Geschichten von der Rückkehr ihres Vaters aus der russischen Kriegsgefangenschaft und einem jahrelang unentdeckten Zimmer ohne Tür im Haus ihrer Schwester.
Ich zieh dir die Ohren über den Kopf.
Da legt sich die Katze schlafen.
Ich hab Angst, dass mir der Faden platzt.
Das ist das Wahre vom Ei.
Wir ziehn doch alle am selben Boot.
Du willst mich wohl hinters Glatteis führen.
Kanonen vor die Säue schießen.
Oder Kanonen vor die Perlen werfen.
Und den Knüppel ins Getriebe.
Noch grün hinter den Fittichen.
Wer im Glashaus sitzt sollte nicht mit Elefanten werfen.
Morgenstund fängt den frühen Vogel.
Morgenstund ist aller Laster Anfang.
Morgenstund ist echt zu früh.
Das Nützliche mit dem Praktischen verbinden. Oder doch lieber das Angenehme mit dem Schönen.
Frühling. Ich traue mich aus dem Haus. Nur wenige Schritte weiter begegne ich anderen Frühlingsflaneuren. Ihr Schwatzen verschreckt mich, ich beschleunige meinen Schritt und senke den Blick zum Asphalt. Die Sonne im Rücken kriechen die Zweifel von den ausgetretenen Sommerschuhen bis in das verwaschene Grün meiner Strickjacke. Die erste Begegnung mit bekannten Gesichtern überstehe ich mit leichtem Bauchweh. Ich nehme den schmalen Weg hinter den Häuserreihen und beruhige mich. Da ist es, da sitzt sie, freut sich über das Gänseblümchen und meinen Kuchen. Was sie alles kann! Und macht! Ich schrumpfe und verstecke in Gedanken alles, was ich noch gestern an die große Glocke meines Schneckenhauses gehängt habe. Ich gehe weiter, verworrene Wege, vor und zurück, über alle drei Ampeln der Kreuzung. Fühle mich beobachtet und fast wie nackt ohne den grauen Wintermantel. Drei Bauarbeiter machen Pause und sehen mir dabei zu, wie ich die Treppe hinunter tripple und kurze Zeit später wieder hoch. Die Schuhsohlen sind nach innen abgelaufen, sicher habe ich X-Beine, und dann noch dieser Hintern – er fängt die Blicke auf und wackelt weiter, weiter in ruhige Gassen, vorbei an verschlafenen Schrebergärten, einem einsamen Kindergarten, Fußballfeld, Tennisplatz, Vereinsheim, einer braungrünen Wiese, einer lauten Hauptstraße – ich hasse Autos. Sportlich verkleidete Kinder rasen an mir vorbei. Ich hasse sportliche Kinder. Sie sind laut und grell und müssen immer zeigen, wie gut und wie viel besser als andere sie dies und jenes können. Ich will zurück in mein Schneckenhaus.
Sonntagskloß im Hals. Vergessen ist die zuckersüße watteweiche Glückseligkeit der verschlafenen Morgenstunden in deiner warmen Nähe. Im gleißenden Tageslicht verengt sie meinen Blick. Ich werde blöde, anhänglich und einfach.
Vergesse mich und merke, wenn ich jetzt nicht rausgehe platze ich. Und ich bleibe und platze. Gehe dann raus, ohne dich. Da fällt mir wieder ein: Vergiss dich nicht. Vergiss mich nicht. Vergiss nicht.
Vergiss es.
Ich habe Angst.
Angst davor dass alles zusammenbricht.
Mein System.
Eure Hoffnungen.
Online.
Bei mir tut’s.
Aber bei dir?
Und bei denen?
In der Woche vor Weihnachten verbrachte ich zwei wunderbare Tage mit meiner Oma Heidi. Vom Frühstück bis zum Abendessen erzählte sie mir Geschichten von früher, mein Aufnahmegerät hörte aufmerksam mit. Zwischendurch haben wir gemeinsam gekocht: Es gab Lammbraten, Kartoffelgratin und Rosenkohl und am nächsten Tag Grünkernsuppe, Gemüsepfanne und Apfel-Orangensaft-Kompott mit karamellisierten Mandeln und Vanillesahne.
Oma Heidi und ich kochen und reden weiter. Daraus wird ein biografisches Kochbuch, mit Rezepten und Geschichte aus einer Bayrischen Kindheit und einem Leben in Schwaben, mit Ausflügen in die ayurvedische Küche und praktischen Tipps für die moderne, gesunde Single-Küche.
Für euch gibt es heute weihnachtliche Schlachtplatte aus dem Bayrischen Wald zu lesen hinter dem 24. Türchen meines Adventskalenders.
… zusammen bleiben … aber … meine Liebe … war ich früher zärtlicher? Soll ich wieder liebevoller sein? … Aber … wie war ich denn am Anfang, als wir uns kennengelernt haben? … Aber ich liebe dich … bin ich dir zu … ich raste halt manchmal aus … aber Mona … ich kann mich ändern … sag mir, wie willst du’s? Wie war es mit den Anderen? Wie war es am Anfang? Wie willst du’s? Ich kann mich ändern, wirklich ich …
ealistisch nett
Die Lebensaufgabe erschöpft sich. Sie geben uns auf. Sie geben uns Aufgaben auf. Sie wollen nicht glorifiziert werden. Ich glorifiziere. Der unfertige Satz steht im Raum und wird als Meinung verstanden. Die Wahrheit bleibt im Hals stecken. Ich übergebe mich und das Wort an dich.
Schön/
Nachts/
Liebe Steffi, ich/
come stai/
Liebe/
Sie S/
Ich s/
Ja, mich gibts/
Hallo Tobi, wir/
E/
Hallo Manuel!/
»Vorne ist wenn wir am Ende sind besser.«
nitnatsnoc
Wieviel von dem was man vor sich hat
Wir begegnen uns im Zwischenraum von zweiter und dritter Dimension. Eindruck, Abstraktion, Ausdruck. Autonomes Zeichnen auf Weiß in Schwarz und Bleistift. Zufällige Kompositionen aus willkürlichen alltäglichen Fragmenten. Krümelkonstellationen, Fleckenarrangements und Staubpartikel treffen auf Raumbeschreibungen. Aus der Vielfalt wird eine zusammenhängende Ausdrucksweise. Sprache trägt in die Gedankenwelt der gezeichneten Fundstücke.
24 Zeichnungen von Christina Schmid und Jakob Rauscher zu sehen in ›Show me yours – I show you mine‹ – Gesamtausstellung der Studierenden der Kunstakademie Stuttgart vom 10. bis 19. November 2011 im Wilhelmspalais.
Sonntag. Langsame Schritte, gedrückte Stimmung, skeptische Blicke zu den tief hängenden Wolken. Die Melancholie herbstlicher Gärten. Etwas Großes, beinahe Bedrohliches steht uns bevor. Und sei es nur der November mit seiner nass-kalten Dunkelheit. Ich wäre gerne wieder zu zweit. Heute, hier, jetzt. Und immer. Solange immer eben geht. Und schon sehe ich deine hochgezogenen Augenbrauen, deine Körperspannung, die sich zum vorsichtigen, aber zügigen Rückzug wappnet. Die erklärenden, fuchtelnden Worte des Verstehens, aber –
Ja, wir haben das besprochen, vom ersten Tee an war das dein und somit unser Thema. Immer und Exklusivität sind Illusionen, die uns das Leben schwer machen, wenn nur noch daran erinnert und gezerrt wird. Doch die milde, verführerische Süße des Hier und Jetzt! Warme Sonnenstrahlen brechen zwischen den Wolken hindurch. Die sonntäglichen Spaziergänger erwachen, ja lachen und toben mit den Kindern durch die leuchtenden Farben des Oktobers.
Diese spröde Schlichtheit als Ergebnis meiner einsamen Projekte verwundert mich zumeist selbst. Kalt wiederspricht sie meiner inneren Welt, die organisch wabert, wimmelt und strahlt.
Und doch erscheint es mir die natürlichste politische Grundhaltung gegen all die
links
ist alles keine Lösung
keine Ahnung
weniger ist mehr
tut doch nicht so erwachsen
erwachsen gibt es nicht
aneinandergereihte Allgemeinplätze
Floskeln der Ahnungslosigkeit
mir fehlen die Worte
es gibt nichts zu sagen
ausgedrückt
vergessen
ist mir
zu groß
egal
als ob
soll doch wer anders
immer
nur
ich ich ich
Und wie gehe ich nun um mit der außerordentlichen Freiheit einer Nichtbeziehung voller Liebe ohne Eifersucht und Erwartungen? Die emotionalen Grenzen in meinem zurechtgerückten Kopf produzieren schon beim Gedanken an mögliche Eskapaden des absoluten im Moment Seins schlechtes Gewissen. Es ist Zeit, die Zäune, Mauern und Schutzwälle einzureißen, die Fenster aufzureißen und den frischen Wind tief einzuatmen, den grauen Erwartungsmüll frei und loszulassen. Hier und Jetzt. Ich und du oder ihr. Meine Welt, mein Leben, die Ideen – das größte Geschenk. Nimm es an, pack es aus und freu dich daran, immer wieder, jeden Tag und in jedem noch so kleinen Moment, in dem ein Einfall deinen Kopf durchzuckt und als Geistesblitz in deine Welt einschlägt, um dort ein weiteres, unerwartetes Monument zu hinterlassen.
Ein Kürbisfeld! Orangene Inseln im Grünbraun der vor dem Zugfenster vorbeiziehenden Landschaft.
Und so baue ich weiter und um und aus und hoch hinaus. Darüber der blaue Himmel, wie gemalt. Die Luft, so wie sie sein soll. Eine leichte Brise, angenehm warm. Manchmal auch Sturm. Bin ich da allein? Dort gibt es keine Fragezeichen. Alles ist selbstverständlich und gut so, in ständigem Wandel. Eine unermessliche Fülle an Details, in sich perfekt und unfassbar. Sie ist da. Du hast sie gesehen, im Glanz meiner Augen. Ich habe sie verlassen, für dich, und dann vergessen. Jetzt wo ich sie wieder sehe, könnte ich mich in ihr verlieren. Eure Welt wird zum Traum, der meine Welt vollmüllt und zu dem macht, was sie ist. Hier versammeln sich die Extreme. Das Gute wie das Schlechte. Die Banalitäten gehen verloren im Grau. Was ich mag findet seinen Platz, stellt sich zusammen. Eine Ansammlung an Kuriositäten, Entdeckungen im Zuviel und Zuwenig. Was ich mag wird geschliffen, poliert und schwebt und glänzt in der watteweichen, warmen, leuchtenden Luft.
Je tiefer ich mich hineinträume, desto härter der Aufprall auf dem Boden eurer Realität. Die scheppernde Lautsprecheransage reißt mich aus dem Rundgang durch die wundersame Einrichtung meiner Räume und Gebäude, Gärten und Plätze, Miniaturen und detailreichen Vergrößerungen. Maßstäbe entscheide ich, oder jemand, der das alles hier archiviert.
Ich war so lange nicht hier –
Buch vergessen. Aus dem Fenster schauen, grübeln, beobachten, entdecken, aussteigen, umsteigen, sitzen, warten, ein Lächeln von dem Typ mit dem seltsam kantigen Gesicht. Wars überhaupt ein Lächeln oder nur ein Blick, sachlich, aber einen Tick zu lang? Zumindest hat er mir gefallen, der Blick. Und mich zum Lächeln gebracht – habe ich gelächelt? Innerlich vielleicht. Das Wort Lächeln mag ich überhaupt nicht. Schmunzeln klingt besser und schmunzeln muss ich über frühe Busverknalltheiten. Und ein spätes Wiedersehen mit übermütigem Geständnis von – ja, von was eigentlich? Ein Blick, immer einen Tick zu lang, den ich ihm morgens an seiner Haltestelle schenkte. Als die Liebe noch ausschließlich Gedankenspiel war. Weder seinen Namen wusste ich, noch sonst. War nicht wichtig, habe ich auch jetzt wieder vergessen. Und dann wartete er draußen, nach seinem flüchtigen Abschied, als die Party noch in vollem Gang war und nur ich beschloss das Menschengedränge im heruntergekommenen Studentenwohnheim zu verlassen. Die seltsame Situation bei mir. Wie langweilig. Manches bleibt besser Gedankenspiel.
du – das ist zumeist einer, den ich liebe, geliebt habe oder lieben wollte. Oder ich, im Selbstgespräch, die ich mir etwas vorwerfe und mich auffordere, endlich anzufangen.
ich – das bin ich. Wie ich bin, im Moment, immer wieder anders. Wie ich sein will. Oder wie ich nicht sein will. Mein schreibendes Ich ist wer anders.
ihr – meist ein Vorwurf. Eure Welt, eure Regeln, euer System. Ihr seid anders, wollt und erwartet etwas von mir, das ich nicht kann, will und bin.
wir – ein Konstrukt in meinem Kopf, erträumt und selbst wenn auch mal real ein wir da ist – mein Wir besteht aus mir, und dir – wie ich dich sehe und sehen will.
er – wird oft mitten im Text zum du. Wenn ich in Erinnerungen schwelge, mich in Sehnsüchte stürze und dir sagen will, was nie oder zu oft gesagt wurde.
Beim Fingernägelschneiden denke ich an Chris. Daran, wie er mir, die ich mich abmühte mir mit der linken Hand die Nägel der rechten Hand zu kürzen, die Schere aus der Hand nahm, mich auf seinen Schoß setzte und fachgemäß alles abschnitt, was für ekelhafte Kratzgeräusche in der Nacht verantwortlich war. Das milbenverseuchte Ausklappsofa im ewig dämmrigen Dachzimmer mit muffigem Teppich und verblichenen Kunstdrucken auf der mittelbraunen Holzvertäfelung. Die klapprige Küche mit Mini-Wintergarten-Balkon – im Sommer unerträglich heiß, im Winter bitterkalt. Der Kühlschrank leer, also bestellten wir Pizza oder Indisch zum Film. Ein Film nach dem anderen, Serien in unermesslicher Auswahl flimmerten über den farbfalschen Riesenflachbildmonitor. Betrunkene Nächte, getanzt haben wir gern. Beim Tanzen denke ich auch an ihn. Weil ich wohl so tanze wie er, aber nicht so gut. Ich, ein egoistisches Miststück von 20 Jahren. Mir, nie verziehen, lebenslänglich. Wären da keine gemeinsamen Freunde, die sich selbst nach Jahren der Funkstille und geglätteten Wogen noch überlegen, wen von uns sie zu ihrer Abschiedsparty einladen – es würde nicht stören. Aber so werde ich mitten im Spätsommertag von indirektem Langzeithass heimgesucht und fange plötzlich an, die Fragmente der Erinnerung an uns zusammenzuklauben. Unsere E-Mails sind der Schlüssel zur damaligen Faszination …
Kerzenstummel vergangener Beziehungen, Marmeladenreste gefällter Bäume. Nummer drei fehlt noch. Es müssen immer drei sein. Drei.
Es gibt keine absoluten Aussagen!
Sie sagt es. Sie sagt es zweimal, weil sie es ernst meint.
and she’s so busy being free
Paula wirft ihren Hund Bonsai ins Wasser und lässt ihr Marienkäferboot mit Apfelfamilie auf der Saale schwimmen.
Technikverweigerung und Wünschelrute: Architektenpaar auf Fahrrädern an der Elbe.
deine Hände streicheln alles glatt, schlichte Sachlichkeit, unendliche Schönheit, klare, fein geschwungene Kurven, in weichem Grau. Grau, wieso Grau? Bilder, unfassbare Bilder, keine Farbmusterexplosionen, wie sonst, doch auch sie verschwinden, sobald ich sie bemerke, die Visionen, die du für mich modellierst.
»Möglichkeitsmenschen leben in einem feinen Gespinst von Dunst, Einbildung, Träumerei und Konjunktiven.«
Nanne Meyer
Faszinierend traurige Augen, lange dunkle Mäntel, lange Haare und Nieten überall. Tiefgründiges Dunkel. Aber ich träumte von Farben.
– Die nicht.
Später, seitenlange Briefe, stundenlange Gespräche und der schwüle Sommer im Halbdunkeln einer Halbbeziehung. Ich wollte raus.
– Er nicht.
Die Farben eines Sommers in neuer, strahlender Zweisamkeit – schleichend von einem dunklen Herbstgrau verschluckt. Das Grau blieb bei ihm.
– Ich nicht.
Sonnenstrahlen im Herzen, Farben vor Augen und Träume im Kopf. Endlich.
– Nur ich.
So fand mich einer, mitten im Winter, der eine, dachte ich. Das Dunkel lag hinter ihm, die Einsamkeit war seine Freundin. Ich wollte näher, mehr, alles.
– Er nicht.
So verlor ich mich, mitten im Sommer, und ihn. Das Dunkel, so ist das also. Die Einsamkeit, ich ertrug sie nicht. Kalt. Farblos. Leer.
– Ich?
Die Einsamkeit rettete mich, behutsam, Schritt für Schritt, aus den Tiefen des Dunkels. Am Ende wartete der Frühling. Sonnenstrahlen, Farben, Träume. Wiedergefunden.
– Ich.
Sie steht auf und geht. Gerade wird ein Herz ausgeschüttet – Zuviel für sie. Für mich auch. Und so höre ich nicht zu. Ein anderes Gesprächsthema muss her. Was mir einfällt sind unterhaltsame Zweifel, allgemeine Probleme und persönliche Katastrophen. Unverfänglich positiv sind höchstens schönes Wetter und gutes Essen.
Burn Out, Psychose, Depression. Sie hat die Sache erkannt, benannt und in eine Schublade gepackt. Nein, besser gleich in eine Kiste zum Mitnehmen, Pflegen, Loswerden. Sie ist uns allen voraus und überlegen, ein Opfer der Umstände, Zeit, Gesellschaft. Dass auch ich meine Zweifel habe, gilt nicht. Denn mir geht es ja gut. Ihr geht es schlecht. Dann packe ich also mal wieder meine Samthandschuhe aus. Etwas verstaubt sind sie, nach all der Egozentrik nach dem Absturz nach der Selbstaufgabe nach der absoluten Liebe. Ja, früher hatte ich sie immer bei mir, die Samthandschuhe mit genügend positiver Energie für die faszinierend tiefgründigen Depressionen dieser Welt.
weg da
da —
— weg
da! der weg
weg damit
einfach
ohne
extra
mit —
— machen
— dabei
— ohne
lebensentwürfe
statt
zu
leben
dahin
dorthin
wem gehört das?
hier
1.
2.
3.
l.
ll.
lll.
a)
b)
c)
Die Schule absolvieren die Menschen am späten Vormittag, die Liebe ist nur ein Augenblick, Schwangerschaft und Geburt eine Sache von Minuten. Alles rast vorbei, nichts wiederholt sich, denn »die Hölle, das ist die Wiederholung«. Als Benny sich in Gini verliebt, will er aber in eben diese Hölle versetzt werden. Er will, ganz romantisch, die Ewigkeit. Aber …
A. F. Th. van der Heijden: Ein Tag, ein Leben
Manchmal macht es mich wahnsinnig, dass das Leben eine Baustelle ist und bleibt.
»In Wahrheit ist jede Wahrnehmung schon Gedächtnis. Die reine Gegenwart ist das unfassbare Fortschreiten der Vergangenheit, die an der Zukunft nagt.«
Henri Bergson, Materie und Gedächtnis.
Entdeckt bei Haruki Murakami: Kafka am Strand.
Zwei Sitzreihen weiter vorne führt ein Mann aufgebracht Selbstgespräche. Kurz vor dem Aussteigen dreht er sich spontan zu mir um, sieht mir mit stechendem Blick in die Augen und verkündet mit theatralischer Stimme: »Renate Farn hat ihr liebstes Spielzeug, an dem sie ihre perversesten Fantasien ausleben konnte, verloren! Nämlich mich. Kennen Sie Renate Farn? Nein? Seien Sie froh!«
Die Bustür öffnet sich und der Mann schreitet mit energischen Schritten in die Abenddämmerung.
»Lieber mit dem Boden auf den Füßen und mit dem Kopf in der Luft.«
Kisten über Kisten. Bastelkram ohne Ende. Allerlei Papier. Noch mehr Papier. Und Staub, überall! Ausgetrocknete Stifte. Leere Sprühdosen. Acrylfarben. Weiße Leinwände. Blöcke mit Aktzeichnungen aus dem ersten Semester. Das Studium fällt aus ungeordneten Ordnern (sortiert wird bestimmt später). Klamotten und Schuhe, die ich nicht mehr mag und trotzdem nicht wegwerfen kann. Durchlöcherte Strumpfhosen in allen Farben. Plastikschmuck. Postkarten. Juhuu: 20 Euro in einer Weihnachtskarte! Flyer. Faltblätter. Ansichtsmaterial. Andenken. Viel zu viele Bücher. Romane. Designbücher. Comics. Kochbücher. Bilderbücher. Zeitschriften. Die CDs meiner Jugend. Noch mehr Staub. Alte Fotos, lieber nicht anschauen. Eintrittskarten. Kalender der letzten Jahre. Angefangene Skizzenbücher. Veraltete Listen. Kabelsalat. Stoff für den Traum vom Nähen. Knöpfe. Alte Schreibmaschine mit meterlangen Kurznachrichten auf Kassenrolle. Kuckucksuhr und eine Kassette von Papa. Benjamin Blümchen rettet den Kindergarten. Wählscheibentelefon, das ja eigentlich nicht so ganz mir gehört. Kaputte Discokugel. Seifenblasenmaschine. Und Briefe.
»Ich habe es sehr genossen mit Dir zusammen diesem Fragezeichen aus dem Weg zu gehen.«
»Ein bunter Film, und du hast mir einen kleinen Vorrat an Farbe da gelassen. (…) Als ob deine Droge nicht mehr wirkt.«
»Ich träume von einer nicht müden Christina neben mir … in irgendeiner Zukunft.«
»Für mich ist alles wie vorher. Es war halt nur so ein gefühlsmäßiges Probieren. Schwer zu beschreiben. Aber es war echt nichts weiter.«
Nichts weiter. Oh Mann. Weiterpacken.
»Du wirst lachen, aber ich hab Dich heute morgen schon besucht. Nein echt! Heute in aller Frühe ist nämlich etwas sehr Seltsames passiert. Ich habe so gegen Mitternacht angefangen, an einem Layout zu arbeiten. Dann, so gegen halb vier Uhr früh, hab ich ein paar Bier getrunken und dann noch die Flasche Wodka vollends geleert und dazu richtig ausgelassen Musik gehört. War eigentlich cool. Was dann weniger cool war: dass ich irgendwann ein paar Stunden später unter der Treppe im Treppenhaus aufgewacht bin. Ich hatte nur eine Unterhose an und wusste auch gar nicht, wie ich da hingekommen bin. Ich bin zu meiner Wohnungstür gelaufen und hab sie aber verschlossen vorgefunden. Also hab ich mich wieder unter die Treppe verzogen und hab überlegt. Es wäre ja irgendwie peinlich, wenn mich jetzt ein Hausbewohner so antreffen würde, fast nackt ... Ich bin irgendwie auf die fixe Idee gekommen, dass es das beste wäre, zu Dir zu gehen, weil ich dachte, Du könntest mir bestimmt weiterhelfen. Also hab ich mich auf den Weg gemacht, barfuss und in einer weißen Unterhose mit blauen Streifen. Es hat geregnet, aber es war nicht kalt. Und das Komische war, dass mich die meisten Leute, die mir auf dem Weg begegnet sind, gar nicht angesehen haben. Aber ganz normal fanden sie’s bestimmt nicht. Ich bin so zehn vor neun bei Dir angekommen, aber da warst Du leider schon weg. Ich hab noch so anderthalb Stunden vor Deiner Tür gesessen und wusste nicht, ob Du noch kommst. Nachdem ich die Kaserne durchsucht habe nach irgendetwas Nützlichem, hab ich beschlossen, bei Hannes’ WG vorbeizugehen, um mir etwas Geld und ein paar Klamotten zu leihen. Leider war er nicht da, sein Mitbewohner auch nicht. Anschließend bin ich noch mal zu Dir, aber Du warst immer noch nicht zuhause. Also bin ich in das Hotel neben der Kaserne gelaufen und hab mir ein Taxi kommen lassen und den Schlüsseldienst gerufen. Der Taxifahrer fand das alles ziemlich komisch, hat mir aber geglaubt. Und er hat die Heizung voll aufgedreht, netter hilfsbereiter Typ. Daheim bin ich meiner Nachbarin begegnet und sie war ganz bestürzt, dass ich hier so halbnackt rumhänge. Ich hab sie gebeten, den Trockenraum aufzuschließen, dass ich mir da ne Jogginghose holen kann. Hab ich dann auch gemacht. Und dann hab ich drei Stunden auf dem Parkplatz auf den Schlüsseldienst gewartet. Schließlich hab ich mich entschieden, einen anderen Notöffnungsdienst anzurufen. Der ist dann vor einer halben Stunde gekommen und hat meine Wohnungstür aufgebrochen. Ich bin so froh, jetzt wieder hier zu sein. Es war echt ne Horrorshow und manchmal wars auch lustig, ich bin mit meiner Unterhose durch den Regen gelaufen und hab gelacht, und manchmal haben die Leute, die mir begegnet sind, auch gelacht, aber irgendwie war es extrem bedrohlich, so ausgeliefert und mittellos zu sein. Ich bin so froh, dass es vorbei ist. Und ich bin total dehydriert, ausgehungert und müde, aber das musste ich Dir einfach zuerst erzählen. Und jetzt werde ich mich wieder herstellen.«
»Bist du dir bewusst darüber, dass Du ein reißender Strom sein kannst?«
»Und dann ist es immer so, dass meine Eltern und ich uns erst wieder aneinander gewöhnen müssen. Das ist so ne Mischung aus Euphorie und Empörung auf beiden Seiten, schwer zu beschreiben.«
Schöne Abschiedsparty, fast alle sind da und haben Spaß. Am nächsten Morgen fehlen die Videos auf meiner Kamera, vielleicht besser so. Mein Englisch kam mir plötzlich so gut vor. War das so?
Meine letzte Woche in New York verbringe ich tagsüber bei Pentagram und nachts am Computer, bis das Buch über mein Praktikum hier und in Berlin fertig ist. Der Freitag nach einer durchgemachten Nacht ist etwas vernebelt mit Team-Lunch und viel zu viel Goodbye.
Jetzt ist Montag, in vier Stunden geht mein Flug. Für 30 Tagen durch die USA: Seattle, Portland, San Francisco, Yosemite National Park, Monterey, Big Sur, Los Angeles, Grand Canyon, Santa Fe, Denver, Chicago und (für weitere fünf Tage) New York. Und dann zurück nach Germany.
Matt hat mir den Soundtrack zu meiner Reise zusammengestellt und auf meinen iPod gepackt. Der große Rucksack steht bereit, Jesse wartet schon auf den Einzug in mein Zimmer und der Computer freut sich auf vier Wochen Pause.
Also los!
Cassie war im deutschen Restaurant Lorelei und es gab Käsespätzle. Daraufhin üben wir die deutsche Aussprache von »ich liebe Käsespätzle« und »lecker«.
Es ist Sonntagabend, viel zu spät, mein Bett schreit schon ganz laut, doch meine Listen rauben mir den Schlaf. Neben meinem Fulltimejob habe ich mir vorgenommen, mein Buch übers Praxissemester anzugehen. Außerdem gilt es, freie Betten in Los Angeles, Denver und Chicago zu finden. Nebenbei möchte ich so viel wie möglich von New York sehen, bevor es in zwei Wochen schon losgeht. Zwei Wochen. Ich will nicht weg aus dieser großartigen Stadt.
Die Nachfolgerin für mein Zimmer ist schon da: Jesse aus Denver. Sie und Pete haben dort einen gemeinsamen Freund, den soll ich unbedingt treffen. In San Francisco werde ich mir das Office von Pentagram anschauen und in Monterey habe ich schon eine Schlafgelegenheit. Und so füllen sich die vier Wochen.
Am Samstag geht es zum Brunch in eines meiner Lieblingsrestaurants. Ausdrücklich kein Fastfood, daher kommen wir viel zu spät nach Queens, Yelena ist etwas sauer, dass wir nur eine Stunde für die Kunst im PS1 haben. Dabei heißt die Ausstellung ›Take your time‹ und für Olafur Eliasson braucht man die auch – wunderbar!
Ich geh ja gleich schlafen. Nur noch kurz die Einladung für meine Goodbye Party am Samstag rausschicken: An alle Leute, die ich in vier Monaten kennengelernt habe. Mal sehen, wer sich auf den Weg zu uns nach Bushwick macht.
Nach einem langen Dienstag steige ich müde und hungrig die vier Stockwerke zu unserer Wohnung hoch, schließe die Tür auf und … huch! Alles voller Kerzen. Meine Mitbewohner sitzen nicht wie gewöhnlich schweigend an ihren Bildschirmen, sondern am vom Kerzenlicht erleuchteten Tisch. What happened?
»It's Energy Saving Day.«
Mir war bis dahin nicht bewusst, dass Amerikaner so etwas haben und ich bin tief beeindruckt. Als ich den Kühlschrank öffne und nicht einmal dort das Licht brennt, finde ich das doch übertrieben. Das Eis schmilzt ja schon! Da kommt die Wahrheit ans Licht (oder ins Dunkel): Jemand hat vergessen die Stromrechnung zu bezahlen, also wurde uns der Strom abgestellt. Eigentlich ganz schön so für einen Abend: Flackerndes Kerzenlicht und Pete mit seiner Gitarre. Nur kochen geht heute nicht.
Am Sonntag gehe ich mit Pete und Brian ins Metropolitan Museum, riesige Menschentrauben stehen auf der Treppe vor dem Eingang. Ich träume immer öfter von Stille und Leere – Wüste wäre gut.
Die Kunst ist gigantisch und das Museum so groß, dass wir nicht mal die Hälfte schaffen. Da muss ich nochmal hin, unbedingt. An den Bildern von Chuck Close können wir nur noch vorbeirennen – wahrscheinlich waren wir zu lange bei den Ägyptern, Griechen und Römern, bei der afrikanischen und indianischen Kunst und in der permanenten Sammlung der Moderne. Auch das Dach mit Blick über den Central Park verpassen wir leider.
Frühlingsspaziergang und dann zum Carnegie Deli, dort teilen wir uns einen Fleischberg und das größte Käsekuchenstück der Welt.
Am Mittwoch kann ich mich vor acht aus dem Office schleichen und mir die Abschlussausstellung an der Parsons Design School anschauen. Anschließend gehe ich mit Brian (Architekt bei Pentagram) ins Fat Cat mit Livemusik, Billiard, Ping Pong, Scrabble und Chess. Die englischen Schachfiguren heißen von nun an Jumper, Runner, Tower und Farmer und Brian schreibt ein Lied drüber.
Am Freitag ist Rinas letzter Tag bei Pentagram, nach Feierabend gehen wir ins East Village zur teamübergreifendem Arbeitsklima-Analyse überarbeiteter Praktikantinnen und Freelancerinnen. Schön, die Mädels mal außerhalb des Büros zu sehen.
Unser Nachbar zeichnet traurig dreinblickende Gestalten, die ab heute im Kleiderladen seiner Freundin in der Lower East Side zu sehen sind. Die Eröffnung feiert er mit einem Chocolatier, dessen Kreation alles übertrifft, was ich bisher an Schokolade probiert habe (und das ist nicht wenig). Die Party ist komisch, aber nun kenne ich Fritz – in rosa Netzstrümpfen. Er hat mal in meinem Zimmer gewohnt.
Am Samstag gehe ich ins Brooklyn Museum zu Murakamis grinsenden Blumen. Faszinierend, wie aggressiv mich das macht. Vor dem Museum treffe ich Yelena von Pentagram. Sie hat freien Eintritt zum Botanical Garden für sich und ihre Gäste, spontan gehe ich mit.
Wie gut das tut: Grünes Gras, blühende Kirschbäume, ein Duftgarten, Gewächshäuser mit exotischen Pflanzen, ein chinesischer Garten, ein Teich mit Fischen und ein Bach mit plantschenden Enten. Nach dieser Portion Ruhe verstören mich die lauten Straßen. Diese Stadt ist so laut, Dauerbeschallung, immer und überall.
I need a break.
Abends gehe ich mit Pete und unserem Nachbarn zur ›Peace of Pizza Party at Glasslands‹ – da gibt es Farbe und Wände zum Bemalen, jetzt habe ich Farbspritzer auf den Klamotten, wie früher. Ich vermisse Pinsel und Farbe, könnte ich doch mal wieder versuchen.
Das mag ich: »Hi Christina, nice to meet you! Oh, you will go to Denver? We are from Denver! You could meet our friends there! … – Hey, this is our friend Christina, we just met her, she's awesome! She will travel through Amerika …«
Und so plant sich meine Reise weiter in der Warteschlange zum Konzert, für das ich ein übriges Ticket ergattern kann: ManMan und Yeasayer – der Drummer wohnt in unserem Haus und seine Musik läuft bei uns rauf und runter.
New York riecht nach Frühling, die Bäume blühen, Vögel zwitschern, die Melodie des Eiswagens tönt durch die Straßen und die New Yorker machen Mittagspause im Park. Und ich verbringe die Tage und Nächte im Keller, lasse die Plotter auf Hochtouren laufen, schneide Berge von Papier zurecht (wieviele Bäume muss ich wohl pflanzen, um diese Exzesse wieder gutzumachen?) und produziere auf Hochtouren Prototypen für poster, postcards, stationery, bags, boxes, brochures und presentation boards.
Neuer Rekord: Im Office von 8 AM bis 3:30 AM. Dann mit dem Taxi nach Hause.
Ihr kommt gerade recht zum Pillow Fight am Union Square, alles ist voller Federn. Dann Jetlag, also bringe ich euch ins Hotel und gehe spontan zum Konzert von Digitalism in die Webster Hall. Die Fans kreischen zu laut und der Fisch im Aquarium neben der Bar sieht auch etwas depressiv aus. Also nach Hause, Osterbrunch vorbereiten.
Dann kommt es doch anders, ein Typ steht etwas verzweifelt vor unserer verschlossenen Haustür, er will zu einer Party in den dritten Stock und lädt mich dazu ein. Ein riesiger Raum mit zehn Bewohnern, ganz pur, nichts renoviert und irgendwo gibts wohl auch Zimmer. In diesem Haus ist jedes Stockwerk anders. Der Typ weiß mir allerlei Tipps über das Reisen mit dem Zug durch die USA. Die Dimensionen werden mir erst klar, als Pete Europa auf Amerika legt.
Die Woche mit meiner Familie ist mit Abstand die anstrengendste, seit ich hier bin. Ich zeige ihnen alles: Meine Lieblingsorte, verschiedene Viertel, Läden, Restaurants und natürlich die Touri-Highlights, die ich selbst noch nicht kenne: Rockefeller Center, Flatiron Building, Financial District, mit der Staten Island Ferry vorbei an der Statue of Liberty, Central Park, MoMA, Shopping in Soho und der Upper East Side, Gallery hopping in Chelsea, Restaurants im West Village, in der Lower East Side, in Greenich Village … Ich ziehe zu Ihnen ins Hotel mit gigantischen Matratzen, einer doppelköpfigen Dusche und Aussicht auf den Times Square aus dem 31. Stock.
Das Fazit der Eltern: Beeindruckend, aber so laut und all die Menschen … Kein Wunder leben hier alle in ihrer eigenen kleinen Blase, mit Soundtrack aus dem iPod auf den Ohren und in der Subway die Nasen hinter Buchseiten versteckt. Zurück in die Ruhe, Naturpark Donautal.
Erst jetzt fällt mir auf, wie laut es hier ist.
Kein Skyscraper in New York hat einen dreizehnten Stock.
Ja, es gibt mich noch. Auch wenn ich mich schon lange nicht mehr von Kopf bis Fuß gesehen habe, der Spiegel in der WG ist zu klein. Die Geschichten schreibe ich nur noch im Kopf, die Tage und Erlebnisse ziehen vorbei, ohne dass ich ein Foto mache. Dabei passiert hier doch immer was.
Viel zu tun bei Pentagram: Bobby’s Burger Palace braucht Verpackungen für Hamburger, Fries, Fingerfood, Soft-Drinks und Napkins. Das Museum of Art and Design will Tüten und Kisten in allen Größen für den Museumsshop. Der Annual Report muss zu Channel Thirteen (zwanzig Blocks westlich von hier und es regnet New Yorker Regen – ich brauche dringend Gummistiefel). Dies und das muss hier und dort hin. Das muss geklebt, gecuttet, gescannt, fotografiert, gedoubblecheckt werden. Bevor der Fotograf fürs Portfolio fotografieren darf, sollen Vorfotos vom gewünschten Bildaufbau gemacht werden. Für Meetings braucht man Kaffee, Tee, Milch (non fat, fat reduced, half-half, whole oder organic?) die fünf gängigen amerikanischen Zuckersorten, Früchteteller, Muffins, Croissants und Cookies vom Edelkonditor, Orangensaft – und bitte alles im richtigen Layout drapiert. Was wäre Pentagram ohne seine Praktikanten?
Trotz langer Arbeitstage gewöhne ich mich an Feierabendprogramm. Bei einer Recherche nach Illustratoren und Cartoonisten für das Redesign des Atlantic Magazins, stoße ich auf eine Veranstaltung in einem kleinen Buchladen: Die beiden Verfasser von ›Monseur Jean‹, einem berühmten französischen Comic-Charakter, sind aus Paris angereist, um den New Yorker Comicfans (hauptsächlich selbst Cartoonisten) zu erzählen, dass sie wirklich ALLES zusammen zeichnen und schreiben. Und ich bin nun im Besitz meines ersten Comicbuchs.
Im sonntäglich überfüllten Guggenheim Museum bleiben Matt und mir (beide notorische Zuspätkommer) 40 Minuten für eine überkitschige Autoexplosion in der Eingangshalle und tolle Sprengstoffkunst von Cai Guo-Qiang.
Endlich ist das Justice Konzert, das ich in Berlin verpasst hatte. Ich weiß nicht, wie oft ich Pete auf dem Weg nach den Tickets frage – am Ende verliert er sie doch. Das Gute an Onlinetickets: Wir können sie nochmal ausdrucken, im Copyshop. Glück gehabt, das Konzert ist großartig, trotz der Sitze um uns herum.
Am Samstag gleich zum nächsten Konzert ins Studio B zu Fixed und Cut Copy.
Ich träume noch auf Deutsch, mit Ausnahme einer Horrornacht, in der alle auf Englisch auf mich einreden und ich nichts, gar nichts mehr verstehe. Aber es gibt ja Wecker und in unserer WG gleich drei, die jeden Morgen um die Wette klingeln und jeder hört die anderen mit dem Wachwerden kämpfen.
Mit rotem Tape klebe ich meine Forderung an die Wand: Table! Der friendly Reminder wirkt, Pete und Martin gehen zu ›Eikia‹ und kaufen uns endlich einen Tisch. Platz für Whiskey zu Monopoly.
Stefan Sagmeisters Ausstellung hat ihren letzten Tag. Bei der Vernissage waren die hunderte Bananen an der Wand noch grün, jetzt sind sie braun und verströmen ihr volles Aroma in den Ausstellungsräumen. Der Meister ist sogar da und lässt sich auf Österreichisch interviewen.
Yusuke und ich beschließen, dass japanisches Essen super wäre und er für mich Nudelsuppe kocht. Lecker! Nur die Stäbchen und das japanische Schlürfen liegen mir noch nicht. Ich muss trotzdem mal nach Japan.
Bei einem Spaziergang durch den kleinen Park neben der Brooklyn Bridge sehe ich den Sonnenuntergang und in der Ferne die Freiheitsstatue, winzig klein.
Die Arbeitswoche startet ruhig und endet stressig – am Freitagabend soll ich länger bleiben. Dann kommt es anders und ich habe spontan ab halb neun frei. Matt hat zwei Konzertkarten und ich noch 20 Minuten, um im Nieselschnee zum Bowery Ballroom zu kommen. Dort spielen Anna Ternheim, El Perro del Mar und Lykke Li. Ganz wunderbar. Danke Matt!
Sonntagsdienst: Um 2 PM soll ich einen Fotografen im neuen New York Times Building treffen. Meine Aufgabe besteht darin, »I’m from Pentagram« zu sagen und für zwei Stunden beim Shooting dabei zu sein. Dokumentiert wird das Leitsystem und das Logo an der Fassade. Interessant, die verschiedenen Arbeitsplätze der Journalisten zu sehen – unglaublich in welchem Chaos manche Menschen arbeiten.
Anschließend finde ich irgendwo Energie für die neue Ausstellung im MoMA: Color Chart – eine Bodenarbeit aus buntem Tape, die perfekte Kunst für mich!
Wieder Party im verrückten Künstlerhaus. Rubulad heißt es, wie ich jetzt weiß. Das Thema diesmal: Leap Before You Look – dress froggy. Also gut: Ribbits für alle und für mich ein Krönchen, mal sehen, welchen der Frösche ich küssen mag. Die Party ist großartig, sie haben einfach drüber dekoriert, noch mehr als beim letzten Mal, die ganze Decke hängt voll, hinter jeder Ecke eine andere Welt, anderes Licht, andere Musik, verkleidete Menschen, die Leute sind verrückt und ich auch. Im Rausch des Abends will ich alles festhalten, mitschreiben, verirre mich in den Zwischengeschossen, über Leitern aufs Dach, verliere meine Freunde. Als ich sie gefühlte Stunden später von weitem tanzen sehe, finde ich sie doof. Pete sammelt mich ein, er will mich heimbringen, ich will bleiben, doch ich kann nicht mehr sprechen, habe die Garderobennummer verloren. Pete kämpft um meine Jacke, das dauert ewig, doch Zeit, die gibts nicht mehr für mich. Ich schaffe es bis zwei Meter vor unsere Wohnungstür, dort bleibe ich sitzen. Von Prinzessin zu Kröte. Weil ungeküsst?
Zum Presidents’ Day fahren Pete und ich raus aus New York nach Washington D.C.
Der Bus startet in Chinatown und vier Stunden später kommen wir im Fake-Chinatown Washingtons an.
Lustige Wände in der Metro-Station, die sehen hier alle so aus. Kein Gebäude darf höher gebaut werden als das Capitol, so ist es von überall zu sehen. Das Wasserbecken kenne ich aus Forrest Gump. Pete erklärt mir Amerika und seine Geschichte.
Plötzlich ist es Frühling und so warm, dass alle in T-Shirts zwischen dem Weißen Haus, dem Lincoln Memorial und dem Jefferson Memorial herumlaufen. Wir legen uns ins Gras und blinzeln in die Sonne. Es ist Februar!
Der Nachmittag bringt Regen. Ein schöner Ausflug, erholsam und lehrreich. Washington als Stadt ist etwas langweilig, umso glücklicher sind wir nachts zurück in New York City.
Essengehen in New York ist großartig: Alle Speisen dieser Welt in einer Stadt! Diesmal: Japanisch. Matt bestellt einen ganzen Tisch voller kleiner Teller und Schüsseln. Und als Nachtisch gibt es für jeden einen Becher rosa Zucker für die Cotton Candy Machine. Das Ergebnis taufe ich Sugar Clouds.
Freitags treffe ich mich mit Matt im Apple Store, wo wir uns den dünnsten Laptop der Welt in echt anschauen. Sharon und Yusuke stoßen dazu, beide haben in Los Angeles gelebt, bis ihnen die ewige Sonne auf den Keks ging und sie nach New York gezogen sind. Gemeinsam gehen wir nach Little Italy für die beste Pizza der Welt, wie behauptet wird. Zum Nachtisch gibts Nachtisch bei ›Rice to Riches‹ und alles ist lustig, was man auf den Fotos nicht sieht.
Wir besuchen Cassie bei ihrem Zweitjob im East Village: Coat Checking in einer Salsa Bar. Normalerweise verbringt sie ihre Zeit neben den Jacken, Mänteln und Taschen damit, die tanzenden Paare zu zeichnen. Trotz oder wegen der Musik und des Publikums haben wir einen super Abend.
Am Samstag ein paar Sonnenstrahlen. In Williamsburg entdecke ich den Beakon’s Closet und zum Dinner treffe ich Matt: Heute Thailändisch und Vegan. Ich sollte nicht immer vom Essen erzählen, aber das ist in New York das größte Vergnügen! Noch passe ich in meine Hosen.
Wir wollen zu einem Konzert ins BAM, wo wir Matts Freunde in der Warteschlange treffen. Wir kommen nicht mehr rein. Ein Glück, denn unsere Alternative ist so unglaublich großartig, verrückt und magisch, dass ich sofort eine weitere Nacht in diesem Art Loft durchtanzen will. Die Party findet nur einmal im Monat statt. Wie das Haus wohl im Normalzustand aussieht? Alles ist voll mit wilder Deko – heute zum Thema Valentine’s Day.
More nightlife, please!
Intensive Tage mit der Sesamstraße. Ich soll mir überlegen, was in der Spielzeugwelt Amerikas fehlen könnte und werde zum Fotografieren in den Toys“R”Us am Times Square und in Spielzeug- und Kinderbuch-Abteilungen verschiedener Großketten geschickt. Die Verkäuferinnen dort tun mir leid: Von morgens bis abends dudelt hier Kindermusik aus allen Ecken. Unglaublich, wieviele Sesamstraßenregale es hier bereits gibt, nun also noch mehr. Innerhalb von zwei Tagen stampfen wir zehn neue Produktideen aus dem Boden – und sei es nur eine neue Verpackung für Straßenmalkreide mit Elmo drauf.
Für die Eröffnungsparty der neuen Ausstellung im museumofsex ›sexindesign – designinsex‹ am Donnerstag darf ich mal kurz Pause machen. Es gibt dort wirklich ein paar fast nackte, mit Tape beklebte Leute und unter den Gästen interessant aufgebrezelte New Yorker. Nach einem Glas sparkling wine und einem Rundgang durch die Sexwelt muss ich zurück zur Arbeit und in Photoshop die neuen Produkte in den Läden platzieren. Um eins habe ich dann Feierabend. Im Office ist noch einiges los, die anderen Teams arbeiten fast täglich so lang – was ist denn das bitte für ein Leben?
Endlich zu Hause wird das mit dem wohlverdienten Schlaf leider nichts. Auch meine Mitbewohner waren bei der Eröffnung im museumofsex (dank mir standen sie auf der Gästeliste) und Pete hat den perfekten Ort genutzt, um eine Frau mit nach Hause zu nehmen. Das geht dann so die ganze Nacht, auf Spanisch.
Um Punkt 9 Uhr geht es für mich weiter mit der Sesamstraße. Seit dem Anschiss nach der ersten Woche habe ich gelernt pünktlich zu kommen.
»Keep going, it’s bigger than we are.«
Die Arbeitstage verbringe ich bis spät abends im Büro am Bildschirm oder im Bastelkeller mit Modellbau für das Leitsystem im Brooklyn-Stadion, einer Schrift aus Kreisen und Quadraten (das war nicht meine Idee) und Archivierung: DVD rein, Projekt brennen, dreimal kopieren, Label drucken. DVD rein, ... und so den ganzen Tag.
Unsere Köchin bei Pentagram lässt keinen Anlass aus, einen riesigen Kuchen als Nachtisch für alle bereitzustellen. Und weil gerade kaum jemand Geburtstag hat, gibt es jetzt unglaublich süßen Kuchen anlässlich von Mardi Gras / Fat Tuesday. Gestern waren außerdem Wahlen und Wahltag ist dienstags, damit auch ja niemand Zeit hat seine Stimme abzugeben.
Endlich Freitag und Feierabend, es schüttet, aber egal: Ausflug mit Matt und seinen Freunden zum Whitney Museum, das ist Freitagabends gratis, und so stehen 100 schwarze Regenschirme vor dem Eingang zur Kunst. Anschließend gehen wir Ukrainisch essen und von dort kugelrund nach Hause.
Melissa ist ausgezogen, also habe ich jetzt mein eigenes Zimmer. Martin hat sich übers Wochenende zum Snowboarden verkrümelt. Pete und ich sind fleißig und planen die Wohnung um. Erst mal brauchen wir Möbel: Einen Ping Pong- und Dining Table in einem! Und Stühle und ein Trampolin und einen Boxsack, vielleicht einen Whirlpool … Und wenn wir fertig sind, gibts eine Party. Wahrscheinlich meine Abschiedsparty, aber daran mag ich jetzt überhaupt gar nicht denken.
Abends treffen wir Matt beim Studio B in Brooklyn, dort ist so viel los, dass wir uns einen Club in Greenpoint suchen und eine Gay-Party im Galapagos finden. Drei Drinks sind zwei zu viel, Pete bringt mich heim.
Keine Ausrede für einen verkaterten Sonntag auf der Couch. Cassie und ich haben Karten fürs New York City Ballet, dem Pentagram kürzlich ein neues Erscheinungsbild verpasst hat. So kamen wir drauf.
Als Kontrastprogramm erlebe ich danach meinen ersten richtig amerikanischen Abend mit Cassies Freunden, einem Berg Fingerfood und Superball. Football ist ein seltsames Spiel, ganz oft kommt Werbung, so wird mir nicht langweilig.
Meine Roommates werden demnächst von der Couch aufgegessen oder von einem ihrer Wii-Games verschluckt. Apropos Wii – es gibt einen neuen Star im Wii-Bowling: Nach nur drei Games halte ich den neuen Strike-Record!
Am Samstag kann ich Pete überreden, sich ausnahmsweise von der Couch zu trennen und mit mir nach Chelsea zu fahren, zu einer Ausstellung der handgezeichneten Karten von Paula Scher. Nach drei weiteren Galerien genehmigen wir uns in einem rosa-mint-grünen Café mit rosa gekleidetem Männerpersonal den süßesten Cup Cake ever, der uns einen unglaublichen Energieschub verpasst. Wir durchwandern halb Manhattan, bis wir in der First Avenue zwischen zahlreichen knallig-bunten indischen Restaurants das Birthday-Restaurant finden. Am Nachbartisch behauptet tatsächlich jemand Geburtstag zu haben: Tausend Lichterketten blinken, aus den Lautsprechern tönt ›Happy Birthday‹ mit indischem Akzent und jeder bekommt eine Kugel Eis mit Wunderkerze.
Nach dem Dinner ist immer noch genügend Energie übrig, also geht unser Spaziergang weiter. Eine Gruppe äußerst düsterer Gestalten in einer dunklen Ecke eines kleinen Parks liefert uns die beste Erklärung für den Ausdruck ›mindfuck‹: Sie spielen Schach.
An der nächsten Ecke entdecken wir ein Aquariums- und Fischgeschäft und in der Straße vor der Williamsburg Bridge jedes erdenkliche amerikanische Fastfood-Restaurant Tür an Tür. Für die Überquerung der Brücke brauchen wir fast eine halbe Stunde und danach sind wir dann auch äußerst glücklich über die Couch, von der sich Martin seit unserem Aufbruch nicht getrennt hat.
Mit der Arbeitswoche geht auch Matts Praktikum bei Pentagram zu Ende. Er wird mir fehlen. An seinem Arbeitsplatz neben der Treppe zum Bastelkeller komme ich täglich mehrfach vorbei und er grinst immer so vergnügt.
Zur Abschiedsfeier gehen wir in die Bar direkt neben dem Büro, die mir bislang überhaupt nicht aufgefallen ist. So lerne ich endlich die Praktikanten aus den anderen Teams besser kennen. Kai aus meinem Team erzählt mir, dass eigentlich kaum jemand länger als eineinhalb Jahre bei Pentagram arbeitet, dass unser Chef Michael Bierut immer berühmter wird und zwischen all den Meetings, Interviews und Workshops an der Yale School kaum Zeit für das Team und schon gar nicht für die Praktikanten bleibt. Auch interessant: Die Partner und ihre Teams bringen unterschiedlich viel Geld in die Kasse, die unter allen aufgeteilt wird. Leitsysteme bringen Geld, Kulturprojekte weniger, dafür mehr Prestige. Sehr verschieden sind auch die Arbeitsweisen innerhalb der Teams. Unsers ist wohl am besten organisiert, jeden Morgen um 9 Uhr sind alle pünktlich da. Andere Teams fangen irgendwann zwischen 10 und 11 an und bleiben bis nachts im Büro. Das Team von Paula Scher, deren riesiger Hund neben ihrem Schreibtisch wacht, geht kollektiv zum Lunch und Gerüchten zufolge hat sie ihre Angestellten am liebsten auch am Wochenende zu Hause um sich. Irgendwann findet sie auch noch Zeit für ihre Kunst, die ich mir morgen anschauen will.
Pete und ich machen einen Ausflug nach Cony Island. Außer uns beiden kommt bei dem eisigen Wind niemand auf die Idee, die alten Achterbahnen im Winterschlaf zu besuchen. Nur in Nathans Hotdog-Bude ist was los. Hier findet jährlich ein weltberühmter Fresswettbewerb statt. Der Rekord liegt bei 51 Hotdogs in zwölf Minuten – wir belassen es bei zwei pro Person.
»… Where in Germany? … Oh, the south! Is it near Munich and Schloss Neuschwanstein? I was in Frankfurt … Berlin – I’ve never been there … Black Forrest? Oh yes, nice – that’s awesome!«
Wie klein good old Germany von hier gesehen ist, zeigt mir die riesige Amerikakarte in unserer WG – alle bisherigen Mitbewohner haben darauf ihre Herkunft markiert. Unten ist ganz klein eine Weltkarte abgebildet, mein Klebepunkt deckt ganz Europa ab.
Als ich Freitagnacht in unserem von Melissas Umzugskisten belagerten Zuhause ankomme, tritt Pete etwas zerknittert aus seinem Zimmer. Er findet eine Flasche Whiskey, Eiswürfel gibts auch und meine Wunderkerzen vom verkorksten Silvester liegen noch auf dem Küchentisch, also feiern wir spontan Silvester nach. Happy 2008!
Zwischenzeitlich habe ich etwa drei Regenwälder an Papier gecuttet, zehn Dosen Sprühkleber versprüht und zwanzig Rollen Tape aller Art verklebt. Zur Abwechslung darf ich diese Woche Bilder für das museumofsex in Photoshop zurecht schneiden … Ich will keine Orgien und Fesselspielchen auf meinem Bildschirm, schon gar nicht wenn permanent Leute vorbeigehen und grinsend Kommentare abgeben. Am Donnerstag ist dann eine Party im Museum und Gerüchten zufolge sollen die Angestellten dort nackt rumlaufen. Ich werde berichten.
Am Sonntag ziehe ich nach Brooklyn in die Jefferson Street. Ich suche mir eine Verbindung mit nur zweimal Umsteigen – woher hätte ich auch wissen können, dass manche Subway-Stationen am Sonntag geschlossen sind? Am Ende muss ich fünfmal umsteigen, Koffer und Tasche über viel zu viele Stufen schleppen, bis der Gurt meiner Reisetasche kracht und ich fix und fertig bei Pete und Martin ankomme (der Muskelkater in meinen Armen hält sich bis jetzt). Die beiden zeigen mir die Nachbarschaft: Industriell, viele Lofts, auch die Evergreen Avenue ist alles andere als grün. In einem Restaurant überreden mich die beiden, etwas typisch Amerikanisches zu probieren: Meatloaf, aha.
Momentan wohnt noch Melissa in Martins künftigem Zimmer und Martin in meinem und ich schlafe provisorisch für die ersten beiden Wochen im Gästebett. Anders als die anderen Schlafkojen ist es nur mit einem Vorhang vom riesengroßen Wohnzimmer abgetrennt und die Matratze ist unglaublich hart. Melissa wird in zwei Wochen ausziehen und wohl einen großen Teil der Möbel mitnehmen. Sie sammelt alles aus den Siebzigerjahren, so sind auch Kaffeemaschine, Toaster, Geschirr und Gläser von damals. Außerdem kocht sie leidenschaftlich gerne und laut Pete nie zweimal das Gleiche. Die ersten beiden Abende bin ich mit meinem Käsebrot ganz schön neidisch, heute darf ich mitessen: lecker.
In der WG nebenan findet gerade eine Bandprobe statt, Punkrock … ab elf wird’s dann netterweise still.
… sagt hier jeder ständig, weil ja alles soo großartig ist. Vor allem Sara sagt es gern – mit ihr bin ich am Samstag ins MoMA und das ist nun wirklich großartig und voll mit Kunst und Design, fast zu viel für einen Tag. Im Museum treffen wir zwei Kollegen von Pentagram, Samstags ist MoMA-Tag. Danach wollen meine Beine nicht mehr, also setze ich mich in einen Bus, um mir von dort aus die Fifth Avenue anzuschauen. Bei der Houston Street steige ich aus und gehe spontan ins Kino. Noch in der Warteschlange weiß ich nicht, welchen Film ich sehen will, als mich eine Frau mit wunderbar französischem Akzent anspricht. Ihrer Empfehlung folge ich gern: ›The Diving Bell and the Butterfly‹. Französisch mit englischem Untertitel verstehe ich besser als gedacht. Die Handlung berührt mich sehr, ich muss an Opa denken. Die Französin stammt aus Paris, sie erzählt, dass sie überall in Manhattan Schaufenster dekoriert. Ihre neuste Tapete bei Prada ein paar Straßen weiter schaue ich mir gleich an.
Kiss me at first sight or should I laugh because my life is missing?
Mein erster englischer Kühlschrankmagnetwörtersatz.
Am Samstagmittag spaziere ich los: Vorbei an den Gebäuden der Columbia University, zahlreichen Denkmälern irgendwelcher Freiheitskämpfer und dem Morning Side Park (der nachts gefährlich sein soll) bis zum Central Park. Nach zwei Stunden zwischen Joggern, Bikern, Pärchen, Herrchen, Frauchen, Hündchen (mit Jäckchen) und struppigen Kötern, Müttern mit Geländekinderwägen, Baseball trainierenden Vätern und Söhnen, schnatternden Enten im halb zugefrorenen Gewässer, vielen neugierigen Eichhörnchen (Squirrels) und entspannten, freundlich grüßenden Spaziergängern, habe ich den Park mit seinen 340 Hektar dann fast durchquert und mir eine Hot Chocolate mit Triple Chocolate Cookie verdient.
Bei Einbruch der Dunkelheit gehe ich zum Empire State Building. Bis ich oben bin, muss ich mich in 15 Schlangen einreihen, mich durchchecken lassen, fürs Erinnerungsfoto vor Greenscreen in die Kamera grinsen, sämtliche Extras mehrfach ablehnen, zweimal Aufzug fahren, um dann im Andenkenshop zu landen. Draußen dann die unglaubliche Höhe von 86 Stockwerken. Während der langen Warterei lerne ich drei Mädels kennen, die zwar schon immer in New York wohnen, nun aber zum ersten mal hier oben sind. Sie zeigen mir die markanten Punkte von Manhattan.
Die ersten zwei Tage bei Pentagram liegen hinter mir. Das Büro ist in einem ehemaligen Bankgebäude, das auch mal ein Nachtclub war, in der Fifth Avenue direkt gegenüber vom Madison Square Park. Im Keller gibt es noch zwei alte Tresortüren, eine Materialbibliothek und den riesigen Modellbautisch – dort fühle ich mich gleich wohl. Auch sonst mag ich’s: Alles ist gut organisiert, das Materiallager gefüllt, die Anzahl der Drucker und Plotter lässt mich den Kopf schütteln und dienstags bis donnerstags kocht die Köchin healthy Lunch für alle, was sich ein bisschen nach Design-Camp anfühlt. Meine Aufgaben beschränken sich bislang auf Basteln und Türen in Architekturplänen zählen – die FIT Fashion School ein paar Straßen weiter braucht Türschilder und ein neues Leitsystem. Wer weiß was noch kommt. Die Subway scheint hier direkt unter dem Gebäude durchzufahren, im Keller und im ersten Stock dröhnt es alle paar Minuten. Besonders gemein ist der neue Teppich: Sobald ich ein paar Schritte durchs Büro gehe, muss ich beim Berühren des nächsten Tischs damit rechnen, einen elektrischen Schlag zu bekommen – Autsch!
Als ich mich am Dienstagabend für das Minizimmer in der gemütlichen Miniwohnung des ruhigen, netten, schwulen, spanischen Kochs inklusive zweier Minihunde in Queens entscheide, kommt seinerseits keine Rückmeldung mehr. Vielleicht hatte ich erwähnt, dass ich Hunde nicht so mag. Dafür stehen nun zwei Loftbesichtigungen in Brooklyn an.
Loft Nummer eins: Industriehalle, riesengroß, be»wohnt« von drei Produktdesignern, die den Großteil des Stockwerks als Werkstatt nutzen und lustige Möbel bauen. Die Heizung etwas unterdimensioniert, die Bäder im Originalzustand von damals … zu krass für mich, also weiter.
Eigentlich will ich zu Fuß zur nächsten Wohnung, doch es weht ein furchtbar eisiger Wind und ich bin ziemlich allein auf den Straßen, also nehme ich die Subway. Als ich dann völlig durchgefroren und fertig dort ankomme, öffnen mir zwei nette Jungs die Tür zu einem gemütlichen Loft und machen mir erstmal einen Tee. Hier endet meine Wohnungssuche, in 10 Tagen ziehe ich nach Bushwick zu Pete und Martin. Mein Schlafzimmer dort ist ein fensterloser Schuhkarton mit Bett und Kleiderstange, der Wohnraum riesig, hell und voller weicher Sofas. Das Beste ist der Blick vom Dach auf Manhattan.
Ich wollte da ja nicht hin. Stunden in der Kälte, kein Sekt, kein Feuerwerk. Die Kugel platzt, Konfetti prasselt über die Köpfe, wir sehen es auf der Leinwand. Ein paar Funken sprühen, alle jubeln für zwei Minuten, fallen sich in die Arme und schon setzt sich die riesige Menschenmasse in Bewegung. Sie suchen nach der Party des Jahres, aber die gibt es nicht, nicht an diesem Abend. Nächstes Jahr bitte ganz unspektakulär, zu zweit Feuerwerk gucken und mit Sekt anstoßen. Happy new year!
Nachher eine Zimmerbesichtigung in Queens: »gay latin chef easy going & respectful to all.« – na denn.
Morgen ist mein erster Arbeitstag bei Pentagram, ich bin gespannt. Und etwas aufgeregt.
Es schläft sich wunderbar im Queensize-Bett aus fünf übereinander gestapelten Matratzen. Meinen ersten Morgen in New York verbringe ich damit, mir die Stadt lesend näherzubringen. Erst mittags traue ich mich aus dem Haus. Alles so groß, riesengroß … und ich fühle mich ein kleines bisschen einsam zwischen den überdimensionierten Wolkenkratzern und Menschenmassen. Verwirrt setze ich mich in einen roten Touri-Doppeldeckerbus, der mich durch Lower Manhattan schaukelt.
Morgen kommt Besuch aus meinem Heimatdorf, dann wird Silvester gefeiert. Hoffentlich nicht am Times Square, da war es mir heute schon zu voll.
Guten Rutsch!
3:45 Uhr: Aufstehen, Anziehen, Koffer ins Auto schleppen, los. Der Flug startet im leuchtenden Morgen von Stuttgart und landet kurz danach im nebeligen Zürich. Das Gepäck und ich haben 40 Minuten für den Umstieg – knapp, aber es klappt. Und dann wieder hoch in die Luft und über den großen Teich.
Es hat was, Manhattan langsam im diesigen Sonnenschein auftauchen zu sehen. Noch eine Brücke und noch ein Tunnel und schon bin ich mitten im Gewusel aus gelben Taxis und mit Tüten bepackten Menschen zwischen den Häuserschluchten.
Schönes Zimmer im Studentenwohnheim der Columbia University, inklusive Abenteuerdusche, die völlig unvermittelt in alle Richtungen losbrausen kann. Es ist recht laut hier. Ich weiß nicht, ob das der Wind ist, der um die Häuser pfeift, oder die Autos vom Broadway. Kalt ist es übrigens gar nicht: 9 Grad Celsius. Oder 48 Grad Fahrenheit.
Blöd dass ich aus der Wohnung schon bald wieder weg muss, aber um die Zimmersuche komme ich wohl nicht herum.
Erst mal schlafen. Bald mehr!